Sexualstrafrecht im Jurastudium: Wenn das Studium die Realität ausblendet
Die Zahlen von Gewalt- und Sexualstraftaten gegen Frauen steigen seit Jahren an. Dennoch wird Sexualstrafrecht im Jurastudium praktisch nicht gelehrt.
An diesem Montag, um 17 Uhr, findet im dritten Stock der Alten Feuerwache, einem soziokulturellen Zentrum in Köln, die offene Sprechstunde der Feminist Law Clinic statt. Diese bietet kostenlose Rechtsberatung an und richtet sich überwiegend an Frauen und queere Menschen – und ist damit die erste in Deutschland.
Lilian van Rey, die heute die offene Sprechstunde leitet, ist Jurastudentin und hat die ehrenamtliche Organisation vor zwei Jahren in Köln mit ihren zwei Kommilitoninnen und Mitbewohnerinnen Karla Steeb und Lilith Rein gegründet. Der Grund: Als Freundinnen sie nach sexuellen Übergriffen nach rechtlichem Rat fragten, wussten sie trotz fortgeschrittenem Studium keine Antwort – denn Sexualstrafrecht ist im Jurastudium in Deutschland kein Pflichtbestandteil.
Nur an sehr wenigen Unis gibt es wählbare Vorlesungen zum Thema, als nicht staatsexamensrelevante Inhalte in der sogenannten Schwerpunktausbildung. Auch Fälle zu Familienrecht und Partnerschaftsgewalt werden nur am Rande gestreift. Ein Zustand, der der Realität in Deutschland nicht gerecht wird: 2024 gab es allein 128.000 angezeigte Sexualstraftaten, 265.942 Menschen waren von häuslicher Gewalt betroffen, bei beiden Zahlen ist die Dunkelziffer vermutlich hoch.
„Rein zahlenmäßig ist es wahrscheinlicher, dass wir später im Job mit Sexualdelikten als mit Mordfällen zu tun haben, die im Studium sehr ausführlich behandelt werden“, sagt Karla Steeb, eine der Gründerinnen der Feminist Law Clinic.
Tabu und Angst vor Retraumatisierung
Aber warum spielen diese Themen quasi keine Rolle im Jurastudium? Mohamad El-Ghazi ist Juraprofessor an der Universität Trier und gehört zu den wenigen Wissenschaftler:innen in Deutschland, die zu Sexualstrafrecht und Partnerschaftsgewalt forschen und lehren. Er macht verschiedene Gründe aus: Zum einen könne es in den Vorlesungen und Seminaren sehr intim werden, wenn beispielsweise im Detail definiert werden muss, was genau eine sexuelle Handlung ist.
Das kann Karla Steeb bestätigen. Als bei ihr in einer Vorlesung die verschiedenen Mordmerkmale durchgenommen wurden und sie zum Merkmal „Befriedigung des Geschlechtstriebs“ kamen, lachte ihr Professor etwas beschämt – und meinte, das würden sie jetzt nicht behandeln. „Es ist doch absurd, dass so ein relevantes Thema in der Praxis im Studium noch als Tabuthema gehandelt wird“ kritisiert Steeb.
Vor allem aber, sagt Juraprofessor Mohamad El-Ghazi, stoße er immer wieder auf die Befürchtung, Studierende, die selbst sexuelle Gewalt oder andere Übergriffe erleben mussten, könnten in den Veranstaltungen retraumatisiert werden. El-Ghazi kann das zwar grundsätzlich nachvollziehen. Aber es überwögen doch die Nachteile, wenn nicht gelehrt werde.
„Es werden Leute ausgebildet, Richterinnen, Staatsanwälte, und in die Praxis geschickt, die, sowohl in juristischer Hinsicht als auch in psychologischer und soziologischer Hinsicht, keinerlei Kenntnisse haben, um diese Fälle bearbeiten zu können“, kritisiert er. Dafür sei das Thema doch „allein aus juristischer Sicht, zu relevant“.
Das scheinen viele Jurastudierende ebenso zu sehen: Innerhalb von wenigen Monaten hatte die Feminist Law Clinic knapp 30 Mitglieder und genügend Spenden und Fördergelder gesammelt, um im Dezember 2024 die erste Ausbildungsreihe zu starten. Dort hielten verschiedene Fachanwält:innen Vorlesungen und Seminare zu Sexualstrafrecht, Unterhaltsrecht und dem neuen Selbstbestimmungsgesetz.
Wenige Anwält:innen im reinen Opferschutz
Alle, die daran teilnehmen, dürfen als ehrenamtliche Rechtsberater:innen für die Law Clinic Fälle übernehmen, die sie mit Volljurist:innen besprechen. Da so viele mitmachen wollten, startete im Sommersemester 2025 direkt die zweite Ausbildungsreihe, hier kamen noch die Schwerpunkte Arbeitsrecht und Schwangerschaftsabbrüche hinzu.
Mittlerweile gibt es dreißig Ortsgruppen der Law Clinic in ganz Deutschland, auf Instagram informieren sie fast 12.000 Menschen über feministische Rechtsthemen. Knapp achtzig Fälle hat die Gruppe allein im ersten halben Jahr betreut, am häufigsten zu Unterhaltsfragen, sexueller Nötigung und Vergewaltigungen. „Unser Ziel ist, als eine erste Anlaufstelle, Menschen zu empowern, zu Fachanwält:innen zu gehen“, erklärt Karla Steeb. In den Beratungen werde zunächst über grundsätzliche Rechte und finanzielle Unterstützungsmöglichkeiten aufgeklärt.
Doch Fachanwält:innen in dem Bereich sind rar gesät. „Es gibt sehr wenige Anwält:innen, die im reinen Opferschutz tätig sind, also Opfer von Straftaten vertreten“, sagt Victoria Heßeler, die sich als Anwältin genau darauf spezialisiert hat. „Meine Spezialisierung war im Prinzip ein komplettes Selbststudium“, sagt sie. Im Referendariat, der praktischen juristischen Ausbildung nach dem ersten Staatsexamen, entschied sie, in die Sexualabteilung der Staatsanwaltschaft zu gehen. Dort hatte sie eine engagierte Ausbilderin und bearbeitete zahlreiche Akten selbst. Man brauche für diesen Bereich „eine große, innere Motivation“.
Anwältinnen, die wie sie im Opferschutz tätig sind, seien überwiegend Frauen, sagt Heßeler. Strafverteidiger der Täterseite seien hingegen meistens Männer – und würden meist besser bezahlt. Wenn es in einem Vergewaltigungsprozess darum gehe, nicht für mehrere Jahre ins Gefängnis zu müssen, könnten Strafverteidiger große Summen verlangen. Sie hingegen versuche „grundsätzlich gar kein Geld von Opfern zu verlangen, sondern eine Prozesskostenhilfe zu erhalten und so die Kosten mit dem Staat abzurechnen“.
Mythen um Partnerschaftsgewalt
Die Lücke im Studium habe weitreichende Folgen. Mythen rund um Vergewaltigung, sexuelle Belästigung und Partnerschaftsgewalt seien bei Richter:innen, der Polizei und der Staatsanwaltschaft weit verbreitet. Immer wieder begegneten Heßeler in ihrer Arbeit Fragen wie: Was hatte die Frau am Abend der Vergewaltigung an? Warum hat sie ihn nicht einfach früher verlassen, wenn er sie geschlagen hat?
Eine Studie der Universität Hamburg mit dem Titel „(Geschlechter)rollenstereotype in juristischen Ausbildungsfällen“ aus dem Jahr 2016 hat untersucht, welche Fälle im Jurastudium behandelt wurden. Laut Studie wurden häufig Geschlechter- und Rollenstereotypen bedient und viele Lebensrealitäten überhaupt nicht abgebildet – was auch über das Studium hinaus wirke. Wer nur wenig über Sexualstrafrecht hört und dann überwiegend mit der lügenden Frau konfrontiert wird, wird später in Strafverfahren wegen sexualisierter Gewalt, eher dazu tendieren, Frauen nicht zu glauben.
Dozierende, wie Mohamad El-Ghazi, versuchen zwar, diese Leerstelle im Studium mit außercurricularen Vorlesungen und Seminaren zu füllen. Doch sowohl Lehrende als auch Studierende haben wenig Kapazitäten für zusätzliche Kurse. Damit sich wirklich etwas ändere, müsse der Gesetzgeber beschließen, Sexualstrafrecht in den Juristenausbildungsgesetzen als einen festen Bestandteil des Pflichtblocks „Strafrecht“ zu integrieren. „Ich sehe da aber wenig Bewegung, der Stoffplan des Studiums ist jetzt schon sehr voll“, sagt El-Ghazi, „Aber wir lehren eben auch Deliktfelder wie Brandstiftung – und dann kein Sexualstrafrecht.“
Nergis Zarifi, Juristin und Leiterin des Arbeitsstabes des Deutschen Juristinnenbunds, stimmt diesen Beobachtungen zu. Der Juristinnenbund versuche auf Landesebene auf die Justizministerien politisch einzuwirken, damit diesen Themen auch im Studium mehr Raum gegeben werden könne. Aber die Veränderungen kämen nur sehr langsam voran. „Der Lehrplan ist veraltet. Thematiken, die vor allem Frauen betreffen, sind dort noch nicht angekommen“, sagt Zarifi. Initiativen wie die Feminist Law Clinic, die dem Thema immer mehr Sichtbarkeit verschaffen, seien deshalb essenziell, um Bewegung in den Diskurs zu bringen, sagt sie.
Auch Karla Steeb von der Feminist Law Clinic zweifelt daran, dass das Jurastudium zeitnah reformiert wird – dafür sei es noch immer in allen Bereichen zu männlich geprägt. Aber mit ihrer Organisation hofft sie, etwas zu bewegen. „Es ist letztlich einfach unfair, dass so viele Betroffene keinen rechtlichen Schutz bekommen“, sagt sie. „Die wenigsten Fälle sexueller und patriarchaler Gewalt werden überhaupt zur Anzeige gebracht und die wenigsten verurteilt.“
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