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Vom polnischen Fotografen Rafał Milach, der es in einer niederländischen Demenzpflegeeinrichtung in Eindhoven gemacht hat Foto: Rafal Milach/Magnum Photos/Ostkreuz Archiv

Demenz und plötzlich ist alles andersAls das Lachen verstummte

Unsere Autorin begleitet ihren demenzkranken Vater zwischen Pflegekrise, Sterbewunsch und der Frage, wie lang Abschiede sein können.

F rüher war mein Vater einer der lustigsten Menschen, die ich kenne. Einmal wurden meine beste Freundin und ich beim Klingeln von Hundegebell erschreckt. Mein Vater rief: „Sei schon leise!“ Das Bellen aber kam von ihm.

Er war ein Vater, wie man ihn in den 80ern selten fand: einer, der von Anfang an die Hälfte der Betreuung übernahm, selbstverständlich wickelte, fütterte und mich stundenlang trug. Einer, der sich Geschichten für mich ausdachte und Rumpelstilzchen mit mir nachspielte.

Heute ist ihm nicht mehr oft zum Lachen. Er ist 72 Jahre alt und hat eine Demenz. So wie 1,84 Millionen weitere Menschen in Deutschland. Mein Vater, einst Lehrer und Lyriker, kann sich nicht damit abfinden, einer von ihnen zu sein. Im April 2022 schrieb er mir über Wochen auf allen Kanälen Nachrichten. Darunter einmal per SMS: „Habe mich gerade erfolgreich um Aufnahme bei der Gesellschaft für Humanes Sterben gekümmert.“

Ich bin auf einer Hochzeit in Glasgow und wollte gerade ein Foto meiner wild tanzenden Tochter machen. Beim Lesen der Nachricht setzt mein Herzschlag aus. Mein Make-up zerfließt vor den Augen der versammelten Hochzeitsgesellschaft.

Das kleine Alzheimer

„Ein kleines Alzheimer“, diagnostizierte der Neurologe, zu dem ich meinen Vater im Februar 2022 – nach vielen gescheiterten Überredungsversuchen, ärztliche Hilfe zu suchen – endlich gebracht hatte. Mein Vater wirkte erleichtert: „Siehst du, nichts Wildes!“ Er, der sein Leben lang Angst vor einer Demenz gehabt hatte, konnte die Diagnose in dem Moment offenbar nicht richtig einordnen – oder wollte sich nicht damit auseinandersetzen.

Seine Reaktion passt zu dem, was ich in Fachartikeln fand: Nach einer Demenzdiagnose mischen sich oft Schock und Verdrängung. Viele versuchen, die Bedrohung kleinzureden – genau wie mein Vater.

Im Rückblick erkenne ich, dass sich seine ersten Symptome bereits Jahre zuvor angedeutet hatten: Mein Vater wollte meine Tochter nicht länger einmal die Woche von der Kita abholen, ging nicht mehr ins Theater oder auf Lesungen. Er, der seine Rente hatte nutzen wollen, sich dem Verfassen von Gedichten zu widmen, hörte auf zu schreiben.

Auch sonst änderte sich sein Verhalten – er wurde ungeduldig und reagierte schnell gereizt, fuhr meine Tochter schon an, wenn sie laut sprach oder zu singen begann. Ich hielt ihn für altersbedingt kauzig, vielleicht auch überfordert vom Renteneintritt.

In Deventer beschäftigen sich die Patienten auch mit Ballspielen Foto: Rafal Milach/Magnum Photos/Ostkreuz Archiv

Ostern 2021 erzählte er meiner Tochter, der Osterhase habe seine Brille im Treppenhaus abgelegt. Wir hielten das für einen seiner Witze und lachten höflich. Kurz darauf aber vergaß er eine Verabredung – konnte sich partout nicht erinnern, uns eingeladen zu haben, als wir bei ihm klingelten.

Als er nach einem gemeinsamen Weihnachtseinkauf im Dezember mehrmals fragte, was sich in der Tüte befände und wie sie in seine Wohnung gekommen sei, wurde mir klar: Er muss dringend zu einem Spezialisten.

Mein Vater hoffte, es gäbe eine harmlose Form von Alzheimer, ich wusste nach einer kurzen Recherche schnell: Ein kleines Alzheimer gibt es nicht. Eine Alzheimerdiagnose bedeutet immer den Anfang vom Ende: ein unaufhaltsames, stufenweises Verschwinden – erst des Kurzzeitgedächtnisses, der Orientierung und der Sprache, dann des Langzeitgedächtnisses und schließlich der Kontrolle über sämtliche Körperfunktionen. Der Tod erfolgt infolge der Bettlägerigkeit meist durch Infekte.

Während mein Vater zu glauben schien, dass es eine harmlose Form von Alzheimer gäbe, wusste ich nach einer kurzen Recherche schnell: Ein kleines Alzheimer gibt es nicht. Eine Alzheimerdiagnose bedeutet immer den Anfang vom Ende: ein unaufhaltsames, stufenweises Verschwinden – erst des Kurzzeitgedächtnisses, der Orientierung und der Sprache, dann des Langzeitgedächtnisses und schließlich der Kontrolle über sämtliche Körperfunktionen. Der Tod erfolgt infolge der Bettlägerigkeit meist durch Infekte.

Krebs oder Demenz – irgendwas kriegen alle, meinte eine Freundin lapidar

Meine Hoffnung, dass die plötzlichen Symptome meines Vaters zu den zehn Prozent heilbaren Demenzformen gehörten, war zerstört.

„Krebs oder Demenz – irgendwas kriegen alle“, meinte eine Freundin lapidar. Andere erzählten von ihrer dementen Oma, einer Tante. Ich lächelte matt. Zu müde, zu widersprechen. Aber in meinem Kopf hämmerte es: Eine demente Tante oder eine demente Oma sind nicht dasselbe. Ich merkte bereits, wie die Rollen kippten: Mein Vater konnte mir keinen Rat mehr geben, meine Texte nicht mehr kritisch gegenlesen.

Der Anfang vom Ende

Wir redeten nicht länger über Literatur oder Politik. Statt bei ihm ein offenes Ohr zu finden, musste ich mich nun kümmern, mich seiner Termine und Sorgen annehmen.

Die meisten in meinem Umfeld wussten nicht, was sie sagen sollten. Ich zog mich zurück, um niemanden zu überfordern. Die Nachrichten zogen an mir vorbei, Kriege, Krisen, alles, was mich sonst bewegt hätte, kam nicht an mich ran. Trost fand ich nur in Büchern, etwa in Joan Didions „Jahr des magischen Denkens“ – einem Memoire über die Zeit nach dem Tod ihres Mannes.

Ein Patient geht „einkaufen“ in einer Pflegeeinrichtung in Deventer Foto: Rafal Milach/Magnum Photos/Ostkreuz Archiv

Mitten in meiner größten Hilflosigkeit kam eine Kollegin auf mich zu und sagte etwas, das hängen blieb: „Du weißt jetzt, was kommt, und kannst dich verabschieden, noch gute gemeinsame Momente sammeln.“ Sie erzählte, dass ihrer Mutter Darmkrebs diagnostiziert worden war: „Da hieß es, sie hat nur noch drei Wochen – und dann ist sie ein paar Tage später gestorben – während ich gerade auf dem Weg zu ihr war.“

Zurück von der Hochzeit in Schottland will ich eigentlich in Berlin den Rest der Osterferien nutzen, um Lösungen für meinen Vater zu finden. Aber stattdessen muss ich für ihn da sein. Er ruft alle paar Minuten an, weint und meint, er halte das Alleinsein nicht aus. Um etwas mit ihm zu unternehmen, das auch mir Spaß macht, blättere ich mit ihm alte Spiegel-Ausgaben durch und spiele „Gesichter raten“.

Mein Vater kommt nur mit großer Mühe auf die Namen von Christian Lindner und Annalena Baerbock. Beim Anblick von Prinz Harry fragt er: „Ist das ein Politiker?“ Ich schüttele den Kopf: „Aber so etwas in der Art.“ Er überlegt. Und fragt dann zögerlich: „Aber schon ein Mensch und kein Affe, oder?“

Ich versuche, den Rat meiner Kollegin zu befolgen: Ich verbringe einen Tag mit meiner Tochter und meinem Vater im Museum, fahre mit ihm zu zweit nach Potsdam, organisiere eine große Geburtstagsfeier mit seinen Freunden für ihn. Ich hoffe, durch ein Antidementivum noch etwas Zeit gewinnen zu können.

Das Mittel Memantin, hatte mir der Neurologe erklärt, schützt die Nervenzellen vor der ständigen Reizüberflutung durch den Botenstoff Glutamat und kann dadurch den Abbau verlangsamen. Anfangs scheint es zu funktionieren: Im DDR-Museum erinnert sich mein Vater beim Anblick alter Radiogeräte an seine Kindheit, in Potsdam genießt er Königsberger Klopse.

Keine Freude mehr am Leben

Schon nach sechs Wochen aber hat mein Vater keine Lust mehr auf Ausflüge. Auch richtige Gespräche mit ihm sind kaum mehr möglich. Er dreht sich im Kreis, verzweifelt am Verschwinden seiner Fähigkeiten, sagt Dinge wie: „Ich bin erst 72 Jahre – das ist doch heutzutage kein Alter!“ Oder: „Es ist schlimm zu erleben, wie einem alles entgleitet.“ Und einmal, inmitten eines vollen Supermarkts: „Das ist kein lebenswertes Leben!“

Ich habe mich in den Jahren zuvor intensiv mit der NS-Ideologie, insbesondere mit Sozialdarwinismus und den Krankenhausmorden beschäftigt. Seine Formulierung erinnert mich an den Nazibegriff „lebensunwertes Leben“. Meint mein Vater, der seinen Zivildienst in einer Behindertenwerkstatt verbracht hat, die Naziterminologie tatsächlich so? Ich frage. Er schüttelt beinahe unmerklich den Kopf: „Aber ich möchte nicht so enden, dass ich nichts mehr mitbekomme und anderen hilflos ausgeliefert bin.“

Ich kann nur erahnen, wie schmerzhaft es für meinen Vater sein muss, immer wieder mitzubekommen, wie er einst selbstverständliche Fähigkeiten wie das Ausfüllen eines Banküberweisungsträgers verliert, wie hart es sein muss, sich von dem Bild zu verabschieden, das er von sich hat – dem Bild eines autonomen Ichs.

Ein Bild, das in unserer Gesellschaft seit der Aufklärung idealisiert und trotz der Verbrechen der NS-Zeit, in der Menschen in ‚wertvolles‘ und ‚unwertes‘ Leben eingeteilt wurden, bis heute wenig hinterfragt wird. Ich versuche, mich mit dem Gedanken zu trösten, dass Identität nicht ist, was jemand leistet, sondern das, was von ihm bleibt. Im Fall meines Vaters: seine Gedichte, sein Humor, seine Herzlichkeit, die Erinnerungen anderer.

Ein Land ohne Plan zu altern

Nach dem Tod seiner Mutter hat mein Vater notariell festlegen lassen, dass ich, falls er jemals nicht mehr entscheidungsfähig sein sollte, seine Betreuung übernehmen, also alle Entscheidungen für ihn treffen solle, vom Finanziellen über seine Unterbringung bis hin zu Medizinischem. Mit meiner Generalvollmacht stelle ich nun zunächst einen Antrag auf einen Pflegegrad. Ich bin überzeugt, dass ich eine ambulante Versorgung oder eine Unterbringung für ihn finden werde.

Am sinnvollsten erscheint mir ein Ort in der Nähe seiner Wohnung – damit mein Vater sich auch bei zunehmender Orientierungslosigkeit zurechtfindet. Doch mein Vater will keine fremde Hilfe. Und die Suche nach einem geeigneten Platz gestaltet sich als schwierig. Die meisten Residenzen, Altersheime und WGs sind voll, ermöglichen keine Besichtigung oder antworten gar nicht erst.

Das nächstgelegene Heim wirbt im Aufzug auf einem vergilbten Plakat mit dem Besuch echter Eulen. Beim Rundgang aber erschreckt mich ein beißender Uringeruch auf den Fluren. Die Bewohnenden liegen am späten Nachmittag im Schlafanzug auf ihren Betten – trotz 3.000 Euro Eigenanteil für die Pflege pro Monat.

Eine Seniorenresidenz am Ku’damm wirkt mit Speisesaal und Fitnessraum zunächst wie ein Fünf-Sterne-Hotel. Die Demenzstation des Hauses aber erinnert an eine Psychiatrie: geschlossene Türen, halluzinierende, schreiende Bewohnende. Kaum Personal in Sicht.

200.000 Pflegekräfte fehlen

Ich recherchiere zur Pflegekrise, spreche mit Bekannten aus dem Gesundheitswesen – und merke: Unsere Gesellschaft will sich nicht wirklich auf Demenz einstellen. Und auch nicht auf ein würdiges Altern. Durch die Kommerzialisierung der Pflege ist der Druck gestiegen. Während die Zahl der Pflegebedürftigen stetig wächst, fehlen schon jetzt rund 200.000 Pflegekräfte.

Mit den Babyboomern, die derzeit in Rente gehen, verschärft sich der Fachkräftemangel weiter. Nachwuchs für schlecht bezahlte Pflegeberufe ist schwer zu gewinnen. Gerade bei Demenz, weiß ich nun aus eigener Erfahrung, ist die Beziehungsebene entscheidend – doch für die fehlt fast überall die nötige Zeit. Unter anderem auch, weil der Krankenstand in der Pflege sehr hoch ist: 2024 lag er in der Altenpflege im Schnitt bei 33,1 Tagen im Jahr – der bundesweite Durchschnitt aller Berufe liegt bei 18,2 Tagen.

„Wenn Sie ihn jetzt unterbringen, können Sie gleich beim nächstbesten Bestatter anrufen und einen Sarg bestellen“, sagt der Neurologe, als mein Vater auch nachts nicht mehr allein bleiben kann und ich nach ein paar Nachtschichten, die meine seit 35 Jahren von ihm getrennte Mutter mir zuliebe übernimmt, nicht mehr weiterweiß. Der Neurologe erklärt, das Wichtigste sei, die Selbstständigkeit im gewohnten Umfeld so lange wie möglich zu erhalten.

Mein Vater fragt: „Können Sie mich nicht einfach sedieren? Ich will das alles nicht mehr mitbekommen.“ Der Neurologe sagt: „Sie sind schon sediert genug.“ Und erklärt dann in aufmunterndem Ton: „Die erste Zeit ist schlimm, weil Sie das Vergessen noch mitbekommen. Aber ich verspreche Ihnen, es wird besser. Später ist es nur für die Angehörigen schwierig.“ Mein Vater wirkt beruhigt.

Der Neurologe rät mir, meinen Vater für die Zeit, bis das Antidepressivum wirkt, bei anhaltender Suizidalität notfalls in einer Psychiatrie unterzubringen. Das bringe ich nicht übers Herz. Seine Hausärztin überweist ihn wegen beginnender Unsicherheiten beim Laufen stattdessen in eine geriatrische Klinik. Schon am ersten Tag aber ruft die Klinik an: „Ihr Vater ist nicht krank, er ist dement und gehört nicht hierher!“ Verzweifelt flehe ich die diensthabende Ärztin an, ihn wenigstens noch über das Wochenende zu behalten.

Zwischen meinen Besuchen bei meinem Vater in der Klinik recherchiere ich zu Demenz und zur Versorgung alter Menschen in Deutschland und Europa. Auf Youtube gucke ich Filme über Roboter, die wegen Personalmangels zur Unterstützung in Heimen getestet werden.

Mich schaudert es – ich möchte später nicht von einem Roboter umsorgt werden. Erst seit 2020 aber gibt es so etwas wie eine nationale Demenzstrategie, also einen Plan der Bundesregierung, um das Leben von Menschen mit Demenz zu verbessern.

Die Niederlande waren da schneller. Dort, sehe ich in einer Doku, gibt es eine solche Strategie seit 2004. Und bereits seit 2009 ein speziell auf die Bedürfnisse Demenzkranker abgestimmtes Dorf. In Hogeweyk leben rund 152 Demenzkranke in Wohngemeinschaften und gehen gemeinsam ihrem Alltag nach – im Supermarkt, Café, Theater und beim Friseur.

Sogar eine nachgemachte Bushaltestelle gibt es. Das Personal – bestehend aus circa 250 Pflegenden und Ehrenamtlichen – agiert aus dem Hintergrund, etwa als Kassenpersonal oder Gartenkräfte getarnt.

Demente meist zuhause gepflegt

Bei meinen Recherchen erfahre ich, dass es auch in Hameln bereits ein an Hogeweyk orientiertes kleines Demenzdorf gibt – und in Bielefeld unter anderem durch Workshops an Schulen aktiv an der Demenzfreundlichkeit der Stadt – einer sogenannten Dementia Friendly Community – gearbeitet wird.

Für meinen Vater aber kommt ein Umzug nicht in Frage. Am wichtigsten, beteuert er immer wieder, sei es ihm, in der Nähe seiner Familie zu bleiben. Also bei meiner Tochter, meiner Mutter und mir. Das ist anscheinend bei den meisten Demenzkranken der Fall: Laut Deutschem Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen werden zwei Drittel zu Hause von Angehörigen unterstützt und gepflegt.

Während mein Vater noch auf der geriatrischen Station liegt, schätzt ein Gutachter des Medizinischen Dienstes telefonisch seinen Pflegegrad ein.

Da mein Vater sich nicht mehr einschätzen kann und auch nicht telefonieren möchte, fragt der Gutachter mich unter anderem nach seiner Selbstständigkeit und Mobilität, nach seinen kognitiven und kommunikativen Fähigkeiten wie Orientierung, Erinnern und Umgang mit Sprache, nach Verhaltensweisen und Problemen wie Unruhe, Aggression oder Ängsten, nach der Selbstversorgung und der Alltagsgestaltung. Obwohl mir von allen geraten wurde, zu übertreiben, bleibe ich ehrlich.

Mein Vater erhält dennoch auf Anhieb den Pflegegrad 3 von 5 – vermutlich durch meine aufrichtige Verzweiflung am anderen Ende der Leitung. Ich kann kaum sprechen vor Anspannung, meine Stimme bricht ständig weg.

Ich finde eine Demenz-WG, die nach Montessori-Konzept Hilfe zur Selbsthilfe verspricht. Bei einem Besuch versteht sich mein Vater auf Anhieb mit einem ehemaligen Deutschlehrer, der wie er aus Süddeutschland kommt und scherzt: „Wenn ich hier einziehe, machen wir zwei schwäbischen Slapstick!“ Die anderen Bewohnenden jedoch können kaum noch sprechen oder sich bewegen.

Nach ein paar Tagen sagt mein Vater: „Ich bin viel zu fit im Vergleich. Ich will lieber in meiner Wohnung bleiben!“ Ich kann es ihm nicht verübeln: In der Demenz-WG würde er als Einziger, der noch laufen und sprechen kann, immer vor Augen geführt bekommen: Das ist die Endstation.

Auch ich brauche eine Weile, um den Anblick eines Mannes in meinem Alter dort zu verarbeiten, der wie ein Geist wirkte: glasige Augen, ohne Sprache. Ich versuche also, den Wunsch meines Vaters zu respektieren. Zur Sicherheit setze ich ihn auf sämtliche Wartelisten.

Ich höre auf, mich zu verabreden, plane nichts mehr, reagiere nur noch

Zwischen Fürsorge und Überforderung

Der Spagat zwischen Arbeit, Vater und Tochter aber wird immer schwieriger. Schon bald dreht sich mein Leben nur noch um die Bedürfnisse meines Vaters. Er schafft es nicht mehr, einkaufen zu gehen, verlegt ständig Portemonnaie und Schlüssel – oder schaltet Handy und Fernseher aus und weiß nicht mehr, wie er sie wieder anstellt. Jedes Mal ruft er so lange an, bis ich komme und wieder alles in Ordnung bringe, ihm erkläre, wie Fernseher und Handy funktionieren. Immer wieder.

Einmal bin ich nach stundenlanger Suche sicher, dass er sein Portemonnaie draußen verloren haben muss. Nachdem ich alle Karten gesperrt und neu beantragt sowie einen Termin für einen neuen Personalausweis gemacht habe, finde ich es im Backofen.

Ich höre auf, mich zu verabreden, plane nichts mehr, reagiere nur noch – mein Alltag ist fremdgesteuert. Mental bin ich ständig zerrissen: Bei meinem Vater, bei der Arbeit, neben meiner Tochter – überall denke ich an unerledigte Aufgaben. Immer bin ich in Sorge: Was, wenn er den Herd anlässt? Oder das Bügeleisen? Was, wenn er rausgeht und nicht zurückfindet? Mit einem Pflegegeld von 599 Euro im Monat wird die emotional zehrende Rundumbetreuung schlechter entlohnt als jeder Minijob.

Es ist, als hätte ich neben dem Grundschulkind noch ein über 70-jähriges Baby – nur dass ich nie weiß, was es braucht oder will. Und ob ich sein Schreien und Weinen ernst nehmen muss – oder ob die Verzweiflung im nächsten Moment bereits wieder vergessen sein wird.

Meine Tage beginnen mit bis zu zehn Nachrichten.

2.13: Wo bin ich?

6.20: Wie komme ich nach Hause?

7.10: Warum gehst du nicht ans Telefon??????

Ich beantworte, was ich kann, während der Kaffee durchläuft. Nach dem Frühstück bringe ich meine Tochter zur Schule. Auf dem Weg zur Arbeit ruft mein Vater das erste Mal an – verwirrt, was er mit dem Tag anfangen soll. Gegen Mittag der nächste Anruf, gefolgt von zahlreichen SMS wie: „Wo sind die Hausschuhe?“ Am frühen Nachmittag fahre ich mit meiner Tochter zu ihm. Einkaufen, Ordnung schaffen, Zeit mit ihm verbringen.

Nachts kümmere ich mich um Bürokratie, versuche, noch zum Arbeiten zu kommen. Durch den ständigen Zeitdruck aber werde ich gefühlt nichts und niemandem mehr gerecht – weder meinem Vater noch meiner Tochter, nicht der Arbeit oder dem Haushalt.

Von Moment zu Moment

Mein Vater bekommt kaum mit, wie viel ich für ihn tue. Er lebt nur von Moment zu Moment – und kehrt doch immer wieder zum Thema Sterbehilfe zurück. Als ich in Schottland war, hat er sich online bei der Deutschen Gesellschaft für Humanes Sterben angemeldet, einer Organisation, die Menschen unterstützt, ihr Leben selbstbestimmt zu beenden – unter anderem durch Vermittlung von assistiertem Suizid.

Ich hätte den Sterbewunsch meines Vaters als Folge seiner demenzbegleitenden Depression abtun können. Mein Vater aber hat sich schon Jahrzehnte zuvor immer wieder für eine Reform der Sterbehilfegesetze ausgesprochen und erklärt: „Ich möchte nicht eines Tages mit einer schmerzhaften Krankheit oder Demenz leben müssen.“

Ich habe abgewartet, ob das Antidepressivum seine Haltung verändert. Da das nicht der Fall ist, beginne ich zu recherchieren. Sterbehilfe ist in Deutschland ein besonders heikles Thema – nicht zuletzt wegen der Krankenhausmorde der NS-Zeit. Körperlich und psychisch Kranke – darunter Menschen mit Schizophrenie und Demenz – wurden systematisch vergast oder durch gezielte Mangelernährung ermordet.

Die Nationalsozialisten bezeichneten die Tötungen im Sinne ihrer sozialdarwinistischen Ideologie perfide verharmlosend als „Euthanasie“ – also als „guten Tod“.

Die Geschichte wirkt bis heute nach: Aktive Sterbehilfe – also gezieltes Töten auf Verlangen – ist strafbar. Andere Formen wie die passive Sterbehilfe, etwa das Einstellen lebenserhaltender Maßnahmen, sind unter bestimmten Voraussetzungen erlaubt.

Seit das Bundesverfassungsgericht im Jahr 2020 das Verbot der geschäftsmäßigen Suizidhilfe für verfassungswidrig erklärt hat, ist auch Beihilfe zum Suizid grundsätzlich legal – sofern der Entschluss der betroffenen Person freiwillig, eigenverantwortlich und wohldurchdacht ist. Alle Versuche des Gesetzgebers, die Suizidhilfe seither gesetzlich neu zu regeln, sind bisher gescheitert.

Der Stand bleibt: Sterbehilfeorganisationen wie die DGHS dürfen unterstützen – aber nur, wenn die Person entscheidungsfähig ist und der Wunsch dauerhaft und innerlich gefestigt erscheint.

Ich berate mich mit Freundinnen und Mitarbeitenden des Pflegestützpunkts. Die meisten reagieren ablehnend. Nur ein enger Freund meines Vaters, selbst ehemaliger Pfleger, nimmt seinen Sterbewunsch ernst – und vermittelt mich an einen Bekannten, der sich auskennt. In einem langen Gespräch mit ihm über das Prozedere der Deutschen Gesellschaft für Humanes Sterben erkenne ich: Für meinen Vater gibt es mit der fortgeschrittenen Demenz keinen gangbaren Weg, seinen Wunsch legal umzusetzen.

Wenn die Selbstständigkeit nachlässt

Am Vatertag 2023 spitzt sich die Situation zu: Seit dem frühen Morgen kann ich meinen Vater nicht erreichen. Ich war die ganzen letzten Tage bei ihm und muss nun die Abgabefrist für einen durch die Pflege liegengebliebenen Text schaffen. Ich hoffe, dass mein Vater wie so oft einfach nur sein Handy verlegt hat, rufe immer wieder bei ihm an und versuche nebenbei, die Deadline einzuhalten.

Um 23 Uhr klingelt mein Handy: „Hier ist die Rettungsstelle. Ihr Vater ist draußen gestürzt und zu uns gebracht worden.“ Die diensthabende Ärztin erklärt: „Mit der Demenz hierbehalten können wir ihn nicht – er muss aber über Nacht wegen eventueller Nachwirkungen beobachtet werden.“

Um zwei Uhr morgens kommt der Krankentransport. Meine 9-jährige Tochter wird durch die Klingel geweckt. Beim Anblick der Hämatome und Blutkrusten meines Vaters beginnt sie zu schreien. Mein Vater witzelt mit Blick in den Flurspiegel: „Ich bewerbe mich für den nächsten Frankensteinfilm!“ Meine Tochter findet es nicht lustig – ich muss sie lange beruhigen, ehe sie wieder einschläft.

Um das Blut loszuwerden, lasse ich meinem Vater ein Bad ein. Während er in meiner Badewanne sitzt, schicke ich am Wannenrand den Text ab. Dann helfe ich meinem Vater notgedrungen das erste und einzige Mal beim Waschen. Eine Grenze, die ich nie hatte überschreiten wollen.

Am nächsten Tag stellt sich heraus: In der Notaufnahme ist ein komplizierter Unterarmbruch übersehen worden – mein Vater muss operiert werden. Eine Woche bleibt er im Krankenhaus, zwei weitere Wochen verbringt er in einer Reha. Dort wird festgestellt: Er hat kein „reines“ Alzheimer, sondern eine Mischform aus Alzheimer-, frontotemporaler und vaskulärer Demenz. Das bedeutet: Die spezifischen Symptome der verschiedenen Formen treten gleichzeitig auf.

Am Tag darauf erkennt mein Vater mich zum ersten Mal nicht

Die Alzheimer-Komponente zeigt sich vor allem durch Gedächtnisprobleme und Orientierungsschwierigkeiten. Die frontotemporale Demenz verändert die Persönlichkeit – dadurch reagiert er unter anderem impulsiver. Die vaskuläre Komponente sorgt für verlangsamtes Denken, Konzentrationsprobleme und Schwierigkeiten, Abläufe zu planen. Für mich bedeutet das: Jeder Tag ist unvorhersehbar, weil sich seine Symptome und ihre Ausprägung ständig ändern.

Nach der Operation ist sein Kurzzeitgedächtnis vollständig verschwunden. Er fragt bereits nach einer Minute: „Wohin gehen wir gerade?“ Auch körperlich baut er ab: Sein Gang wird immer unsicherer. Er traut sich nicht mehr allein raus und döst die meiste Zeit nur vor sich hin. Beim Aufwachen leidet er immer wieder an Halluzinationen. Einmal öffnet er mir die Tür und hält einen Finger vor den Mund: „Shhhh! Leise! Meine Oma schläft im Nebenzimmer.“ Seine Oma Erna wäre heute 130 – sie starb vor 60 Jahren.

Auch das Langzeitgedächtnis meines Vaters wird immer löchriger. Die Melodien aus seiner Kindheit aber sind noch alle da – genau wie die Mundharmonika, die er als kleiner Junge geschenkt bekam. Bei einem unserer Besuche erzählt mein Vater meiner Tochter, dass in seiner Kindheit Musiker in Hinterhöfen spielten und die Menschen ihnen Geld aus den Fenstern zuwarfen. Sie überredet ihn, seine Mundharmonika mit rauszunehmen.

Auf dem Ku’damm spielt mein Vater ihr auf einer Bank Volkslieder vor, sie begleitet ihn mit Gesang. Als die beiden „Das Wandern ist des Müllers Lust“ zum Besten geben, bleibt eine alte Dame stehen und reicht meiner Tochter einen Euro. Die ist selig: „Mensch, Opa – wir gründen eine Band und kommen groß raus.“

Am Tag darauf erkennt mein Vater mich zum ersten Mal nicht. Dass ich beim Begleiten seines Verschwindens selbst zu verschwinden drohe, merke ich erst, als ich kurz vor einem Burn-out stehe. Ich schaffe alles, aber ich funktioniere wie im Autopilotmodus, habe Wortfindungsschwierigkeiten, schlafe trotz Erschöpfung schlecht und verliere bereits bei Kleinigkeiten die Nerven – wie ein Roboter mit Betriebsfehler.

Die Krankenkasse bewilligt eine Kur für pflegende Angehörige. Durch Waldbaden, Sauna, Yoga, Nordic Walking und Aromatherapie in einer Solidargemeinschaft von Erschöpften soll ich zu Kräften kommen – und anschließend wieder fit für die Pflege sein. Nur: Wohin so lange mit meinem Vater?

Zweieinhalb Jahre habe ich seinen Wunsch, in seiner Wohnung bleiben zu können, ernst genommen. Akzeptiert, dass er nicht möchte, dass jemand außerhalb der Familie nach ihm sieht. Nie hätte ich gewagt, ihn gegen seinen Willen fremd betreuen zu lassen. Jetzt aber geht es nicht mehr anders.

Ich rufe alle Tagespflegeeinrichtungen an, ob sie ihn für drei Wochen zur Verhinderungspflege aufnehmen würden, und erkläre meinem Vater, dass ich nicht länger kann. Er reagiert verständnisvoll: „Klar, du sollst dich ja nicht für mich aufreiben.“ Auch die Eingewöhnung in der Tagespflege läuft einfacher als gedacht: Mein Vater entdeckt ein Buffet und setzt sich, ohne sich nach mir umzusehen.

Abends schreibt er: „War ich heute wo, wo ich gesungen habe und es Kuchen gab – oder war das nur ein Traum? Wenn nicht, will ich wieder hin.“ Ich frage mich, warum ich so lange gewartet, warum ich erst alle meine Grenzen überschritten habe, ehe ich diesen Schritt gewagt habe. Und höre dann in der Kur, dass es den meisten pflegenden Angehörigen so ergeht.

Zurück von der Kur in Berlin schicke ich meinen Vater mehr und mehr Tage in die Tagespflege – und muss so nur noch seinen Haushalt, seine Einkäufe, seine Bürokratie, Ärztegänge und sein Wochenendprogramm übernehmen. Aber ich merke: Drei Wochen Pause haben bei Weitem nicht gereicht. Lange geht es nicht mehr gut.

Als ich gerade zwei Tage bei einer Freundin in München bin, schlagen die Nachbarn meines Vaters Alarm, weil er desorientiert durchs Haus wandert. Jahrelang war ich nie einfach weg – und jetzt das. Eine Familie nach der anderen ruft an und fordert, dass ich meinen Vater sofort irgendwo unterbringe. Ich bekomme Panik. Mir wird klar: Ich kann seine Sicherheit nicht länger gewährleisten – und die seiner Nachbarn auch nicht.

Ein neues Zuhause

Dass jemand bei ihm einzieht, will mein Vater nach wie vor unter keinen Umständen. Zum Glück wird in einer ähnlichen Demenz-WG wie der, die wir besichtigt hatten, ein Platz frei. Die WG liegt in der Nähe, drei der Bewohnerinnen und Bewohner können noch sprechen und auch noch interagieren.

Während mein Vater in der Tagespflege ist, räume ich mit zwei Freundinnen binnen drei Stunden seine Wohnung aus und richte ihm sein Zimmer in der WG mit den wichtigsten Bildern und Möbeln ein. Als wir gerade die letzte Schraube festziehen, das letzte Bild aufhängen, klingelt mein Handy. Der Fahrer der Tagespflege erklärt: „Wir sind jetzt da.“

Beim Aussteigen aus dem Kleinbus ist mein Vater verwirrt: „Wo sind wir?“ Der Anblick der Babytochter meiner Freundin lenkt ihn ab. Auf sie fokussiert folgt er uns ins Haus und sein neues Zimmer. Nach einem Moment der Irritation – „Da sind ja meine Sachen!“ – und meiner Erklärung, warum er zu Hause nicht mehr sicher war, bedankt er sich bei mir mit den Worten: „Was du alles für mich getan hast. Du hast alles richtig gemacht.“

Heute sind meine Besuche bei ihm weitestgehend entspannt. Mittlerweile kann ich mich daran erfreuen, wie mein Vater Blumen oder Schilder am Wegesrand bestaunt, einen Sonnenstrahl oder ein Eis genießt, auf der Mundharmonika spielt – und die Welt neu entdeckt wie ein Kind.

Auch wenn das Entdeckte oft nur eine Minute im Kopf bleibt. Wenn er beim Abschied weint, bringe ich ihn in die Gemeinschaftsküche – und weiß, dass sich James, Alisha, Mustafa oder jemand anderes aus dem Pflegeteam um ihn kümmert. Fünf der zehn Pflegekräfte in der Montessori-WG sind über die Pflege nach Deutschland gekommen, hatten jedoch nie Zeit, einen Deutschkurs zu besuchen.

Sie verstehen alles, fühlen sich aber unsicher. Ich erzähle ihnen, dass mein Vater Deutsch als Fremdsprache unterrichtet hat – und ihnen gerne etwas beibringt. Ich hoffe, dass sie so eine Beziehung aufbauen.

Mein Vater aber schreibt auch Monate später noch jeden Morgen, er wolle nach Hause. Ich antworte mit einer vorformulierten Nachricht, dass ich ihn drei Jahre in seiner Wohnung gepflegt habe, bis es nicht mehr ging – weil er dort allein nicht mehr sicher war. Er antwortet immer nur knapp: „Das verstehe ich.“ Oder: „In Ordnung.“

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6 Kommentare

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  • "Ich höre auf, mich zu verabreden, plane nichts mehr, reagiere nur noch – mein Alltag ist fremdgesteuert. Mental bin ich ständig zerrissen: Bei meinem Vater, bei der Arbeit, neben meiner Tochter – überall denke ich an unerledigte Aufgaben. Immer bin ich in Sorge: Was, wenn er den Herd anlässt? Oder das Bügeleisen? Was, wenn er rausgeht und nicht zurückfindet?"



    Ganz genau so ist es, kein Urlaub, kein freies Wochenende u. latent die Sorge, etwas vergessen o. unterlassen zu haben.



    Der Hausnotruf ist oft nur eine Scheinlösung.



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    Umgekehrt sind mir durch eine analoge Odyssee wie in dieser Geschichte Schicksale bekannt geworden, die wirklich grausam waren, noch zudem in der Pandemie-Zeit, wegen der Not der Einsamkeit: Abgeschlossene Türen in Einrichtungen und teilweise autoritäre Strukturen, die wenig hilfreich waren.



    Bei uns hatte es f. d. Vater immer ein Versprechen gegeben, ihn möglichst nicht allein zu lassen. Hilfe durch andere Angehörige kann dann z. Entlastung der oft auf sich allein gestellten autorisierten Personen Gold wert sein.



    br.de:



    "Mental Load: Wenn unsichtbare Aufgaben über den Kopf wachsen



    Ständig erschöpft und gereizt? Schuld könnte eine permanente Überforderung sein."

  • DANKE. Ich habe mich (demenzkranke Mutter) in so vielen Dingen wiederfinden können.

  • Danke für diesen wundervoll einfühlsamen und persönlichen Einblick.

  • Der Text war hart zu lesen - aber trotzdem danke für ihn.



    Meine Mutter ist letztes Jahr kurz vor Weihnachten gestorben, 2009 wurde bei ihr eine Primär progressive Aphasie / Frontotemporale Demenz diagnostiziert. Nur Menschen, die Demenz selbst hautnah erlebt haben, können nachvollziehen wie unglaublich schwer diese Krankheit für die Angehörigen ist. Dabei ist jede Demenz so unterschiedlich wie die Person, die unter ihr leidet. Bei uns war die Sprache als erstes weg - das schließt jegliches Gesprochene, Geschriebene, Gestik, Mimik mit ein. 2015 habe ich das letzte Mal ihre Stimme gehört, 2018 das letzte geschriebene Wort, ab 2020 hat sie sich geweigert, das Haus zu verlassen. Am Ende hat sie Essen und Trinken selbst eingestellt und wir haben sie gehen lassen.

    Das "Endstadium" aller Demenzen ist gleich, hab ich mal gelernt. Nur die Dauer und der Anfang unterscheiden sich. Die letzten Phasen (die ja Jahre dauern können) werden selten sichtbar gemacht, Filme hören immer lange vor der Phase auf, in der es anfängt so richtig schlimm zu werden. Wir wollen das als Gesellschaft nicht sehen und nicht erinnert werden daran, dass wir möglicherweise selbst so enden könnten.

  • Das ist wohl der Preis des "Immer-älter-werdens". Ich bin ziemlich erschüttert.

  • Großartiger Text. Ein Missverständnis vieler pflegender Angehöriger: man muss der betroffenen Person nicht alles Recht machen, die muss sich auch bewegen. Gerade wenn das Urteilsvermögen eingeschränkt ist.

    Der Text illustriert auch: zwischen Zuhause und anonymer Dauerpflegeeinrichtung gibt es viele Zwischenstufen (Pflegedienst, Tagespflege, Verhinderungspflege, Demenz-WG).