Werner Herzog hat jetzt ein Handy: Das Recht, offline zu sein
Die Welt funktioniert kaum noch ohne digitale Hürden. Selbst Werner Herzog musste sich dem App-Zwang beugen. Es braucht ein Recht auf analoges Dasein.
E ingebettet in die Maslow’sche Bedürfnispyramide, liegt das Internet neben Wasser, Nahrung und Schlaf bei den Grundbedürfnissen. Ein Report meiner Bildschirmzeit zeigte kürzlich einen Tagesdurchschnitt von zehn Stunden und 58 Minuten an: Ich bin immer erreichbar, immer online.
Werner Herzog erschien mir immer als ein Verweigerer der Erreichbarkeit. Einen „noted luddite“, einen bekannten Maschinenstürmer, nennt ihn die Tech-Website, wo ich zuerst davon hörte, dass sogar dieser Werner Herzog jetzt ein Mobiltelefon hat. Dazu kam es, weil er während Dreharbeiten in Dublin nur mittels einer App sein Auto aus einem Parkhaus hatte auslösen können. Sein neues Gerät sei aber immer ausgeschaltet, er habe es nur für Notfälle wie den des gefangenen Autos.
Dass es vom Alltag gestressten Kleinkindeltern mit all ihren Organisationsaufgaben nicht gelingt, sich dem Zwang zum Mobiltelefon zu entziehen – okay. Aber wenn ein für seinen Eigensinn bekannter, auf Autonomie bedachter und über beträchtliche Mittel verfügender Werner Herzog nun auch daran scheitert, ist es Zeit für einen Großalarm: Das analoge Leben darf nicht sterben!
In Luc Bessons Film „Das fünfte Element“ (1997) gibt es den „Multipass“, in der Offenbarung des Johannes das „Malzeichen des Tiers“, das sich die Menschen auf die Stirn oder die rechte Hand zeichnen lassen, um ein Verhalten aufgezwungen zu bekommen. Nur zum Amüsement: Gott ist erklärter Gegner des Malzeichens und kündigt an, wer sich das Zeichen geben lasse, „wird von Gottes Zorneswein unvermischt eingeschenkt bekommen“.
Meiner Krankenversicherung muss ich mit Gottes Zorneswein natürlich gar nicht erst kommen, die möchte schon, dass ich ihre App in meinen Multipass installiere. Für die Arbeit habe ich neun Apps, zur Nutzung meines Wohnorts zwei. Es könnten deutlich mehr sein, aber der zugebuchte Speicherplatz ist schon wieder ausgeschöpft.
Es braucht eine Anpassung des Grundgesetzes
Werner Herzogs bisheriger Verzicht auf ein Smartphone bedeutet natürlich nicht, dass er nicht am Internet teilgenommen hätte. Er hat sogar einen Film darüber gedreht: Um „Lo and Behold“ (2016) im Amazon-Account eines Freunds zu streamen, muss ich erst die App auf dem iPad installieren. Herzog besucht zuerst Pioniere des Internets, die sagen, das Internet sei heute unsicher, weil sie einander damals vertraut und deshalb auf Sicherheitsmaßnahmen verzichtet hätten. Herzog spricht auch mit Menschen, die angeben, an von Funkstrahlen und Radiowellen ausgelösten Krankheiten zu leiden. Die National Radio Quiet Zone rund um das Green-Bank-Teleskop bietet ihnen einen nahezu strahlenfreien Schutzraum. Dann fragt Herzog den aufstiegsorientierten Marsianer Elon Musk nach seinen Träumen. Nach langem Schweigen antwortet Musk, er könne sich an keine schönen Träume erinnern, nur an Albträume.
In der Szene klingt an, wovon wir inzwischen mehr gehört haben: Die Techsonnenkönige von Thiel bis Zuckerberg rechnen mit einer baldigen Katastrophe, die zu überleben sie in hawaiianischen Schutzbunkern oder schwimmenden Städten planen. Glaubt man an die Apokalypse, ermächtigt die Überlebensnotwendigkeit zur Ausbeutung aller verfügbaren Ressourcen, zum Beispiel unserer Daten.
Es wäre Unsinn, Werner Herzog so etwas wie praktizierte Bedenkenlosigkeit anzulasten, weil er sich jetzt, vermutlich nach vielen zuvor überstandenen Erpressungssituationen wie der im Parkhaus, einen Multipass zugelegt hat, der Daten für die Apokalyptiker sammelt. Wie groß der Anpassungsdruck ist, zeigt das Einknicken des Ludditen-Herzog schon sehr deutlich.
Heribert Prantl führte im Januar in seinem Kommentar „Mündige Bürger haben ein Recht auf ein analoges Dasein“ die DHL-Packstationen als Beispiel dafür an, wie eine reine Digitalstrategie Menschen exkludiert. Er zitierte den damaligen Bundesminister für Digitales, Volker Wissing: „Wir müssen“, hatte der verkündet, „analoge Parallelstrukturen konsequent abbauen und auf komplett digitale Prozesse setzen.“ Das führe aber in die Verfassungswidrigkeit, schrieb der Jurist und Journalist Prantl dazu und forderte, Artikel 3 des Grundgesetzes um ein „Recht auf einen analogen Zugang zur Daseinsvorsorge“ zu ergänzen.
„Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich“, heißt es da schließlich. Auch die, deren Maslow’sche Bedürfnispyramide noch ohne das Grundbedürfnis Internet solide dasteht.
Gemeinsam für freie Presse
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Alle Artikel stellen wir frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade in diesen Zeiten müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass kritischer, unabhängiger Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert