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Labour-Parteitag in GroßbritannienDer Gegner heißt Farage, nicht Starmer

Auf ihrem Jahresparteitag in Liverpool vermeidet die britische Regierungspartei eine Selbstzerfleischung. Im Vordergrund sollen jetzt Inhalte stehen.

Die britische Innenministerin Shabana Mahmood während der jährlichen Konferenz der Labour Party, England, am Montag, 29. 9. 2025 Foto: Jon Super/ap

Liverpool taz | Vor dem Eingang des Konferenzzentrums steht eine Schar von vielleicht 100 Personen mit britischen Flaggen. Auf Schildern setzen sie sich für Landwirte ein und gegen die Einführung digitaler Personalausweise, die Großbritanniens Labour-Regierung vor wenigen Tagen als geplante Maßnahme gegen irreguläre Einwanderung vorgestellt hat.

Anhänger des Rechtsextremisten Tommy Robinson, der vor zwei Wochen in London 150.000 Menschen gegen Labour auf die Straße brachte, beschimpfen laut und obszön die Parteigenossen. Akti­vis­t:in­nen mit Palästinaflaggen skandieren „Israel ist ein Terrorstaat“ und „Yalla Yalla Intifada“, viele sitzen auf dem Rasen mit Schildern, auf denen „I Support Palestine Action“ steht – eine von der Labour-Regierung als terroristische Vereinigung verbotene Gruppe. Bis in die späte Nacht transportiert die Polizei diese Leute ab, insgesamt 66, sie werden des Bruchs der Antiterrorgesetze beschuldigt.

Es ist keine 15 Monate her, dass Labour in Großbritannien einen hohen Wahlsieg einfuhr und die Regierung übernahm. Doch das Spektakel in Liverpool könnte glauben lassen, dass die Partei seit vielen Jahren regiert und die Leute ihrer müde seien. Der Fokus beim Labour-Jahresparteitag ist defensiv.

Die rechtspopulistische Partei „Reform UK“ unter Nigel Farage liegt seit Monaten in allen Umfragen weit vorn, nach aktuellem Stand könnte sie bei Neuwahlen die absolute Mehrheit der Sitze im Unterhaus holen – derzeit hat sie fünf von 650 Mandaten. Umfragen zum Parteitagsauftakt erklären Keir Starmer zum unbeliebtesten Premierminister seit 1977 und geben der Forderung nach einem Wechsel an der Parteispitze eine Mehrheit unter den Labour-Mitgliedern. Die kritisieren die schließlich wieder teilweise rückgängig gemachte Kürzung von Heizkostenbeihilfen für Rent­ne­r:in­nen oder auch eine zu zögerliche Kritik an Israel.

Das perfekte Anti-Starmer-Komplott

Tagelang ist spekuliert worden, ob der Parteitag zur Bühne für einen Machtkampf wird. Der beliebte Labour-Bürgermeister von Manchester, Andy Burnham, wurde als möglicher Nachfolger Starmers in Stellung gebracht. Labour muss ohnehin in den kommenden Wochen eine neue stellvertretende Parteivorsitzende wählen, zur Nachfolge der wegen einer Steueraffäre zurückgetretenen Angela Rayner.

Favoritin für diesen Posten ist die Anfang September aus der Regierung ausgeschiedene Lucy Powell, frühere Mitstreiterin Jeremy Corbyns, die Burnham nahesteht. Sie hat auch Unterstützer in der Regierung, darunter Klimaminister Ed Miliband und Kulturministerin Lisa Nandy. Es sieht aus wie das perfekte Anti-Starmer-Komplott.

Lucy Powell verkauft sich als Sprachrohr der Basis. Aber bei ihrer Veranstaltung auf dem Parteitag füllt sich der Raum nur sehr langsam. Im Publikum sind auffällig viele Labour-Mitglieder mit Pakistani- und Bangladeschi-Hintergrund. In Stöckelschuhen mit Schlangenledermotiv und glänzend lackierten Fingernägeln behauptet Powell mit starkem Manchester-Akzent: „Ich kann die Brücke zwischen der Basis und der Führung sein, ohne illoyal oder spaltend zu sein.“ Sie sei die Kandidatin gegen Cliquenwirtschaft. Mehrfach wiederholt sie das alte Corbyn-Motto „Für die Vielen, nicht die Wenigen!“

Ich kann die Brücke zwischen der Basis und der Führung sein, ohne illoyal oder spaltend zu sein.

Lucy Powell (Labour)

Mehrere Zuhörer konfrontieren sie jedoch damit, dass sie selbst während des Parteitages von der Parteispitze einen anderen, verbesserten Ton wahrnehmen. Darauf weist auch Powells Gegenkandidatin hin, die von Starmer favorisierte Bildungsministerin Bridget Phillipson.

Sie führt bei einer Nebenveranstaltung in geradezu enzyklopädischer Detailliertheit und ohne Pause eine ganze Reihe von Maßnahmen gegen Armut und soziale Benachteiligung aus, die bereits laufen: neue Frühstückstafeln für Kinder in 700 Schulen, 1.000 neue Kinderförderzentren („Best Start“) bis 2028, viel mehr Unterstützung für neurodiverse Kinder.

Auch eine Garantie für 30 Stunden kostenlose Kinderbetreuung pro Woche wurde im September ausgefahren, Umsetzung einer Ankündigung der konservativen Vorgängerregierung. Es ist eindeutig, dass all dies für Phillipson, die selber unter sehr ärmlichen Bedingungen aufgewachsen ist, ein persönliches Anliegen ist.

Reale politische Veränderungen – damit will das Starmer-Lager die Kritiker abhängen. Die Parteitagsauftritte von Regierungsmitgliedern setzen eins drauf. Von der prophezeiten Schwäche keine Spur, im Gegenteil. Bei früheren Parteitagen bejubelte Labour einfach sich selbst. Jetzt gibt es ungewohnt harte Argumente, und das scheint anzukommen.

Befreiter und selbstbewusster als früher

Die wegen ihrer Sparpolitik vielfach kritisierte Finanzministerin Rachel Reeves wirkt deutlich befreiter und selbstbewusster als früher. Sie zählt angebliche Errungenschaften auf: der Bau des neuen Atomkraftwerkes Sizewell C für die „saubere“ Energiewende, die Rettung der gefährdeten Stahl-, Schiffbau- und Autoindustrie, verbesserte Arbeitsabsicherung, mehr Geld im nationalen Gesundheitssystem, mehr Sozialwohnungsbau, Handelsabkommen mit den USA, ein europäisches Jugendaustauschprogramm.

Für „Labour-Werte, britische Werte“ stehe all das, ruft sie. Auch für Reeves steht die Befreiung von Kindern aus der Armut im Mittelpunkt: So verspricht sie eine Bibliothek in jeder Grundschule.

Als jemand ihre Rede mit Hinweisen auf die angebliche britische Unterstützung des angeblichen israelischen Völkermords in Gaza stören will, kontert sie das so gekonnt, dass sie stehenden Applaus erntet: „Ich verstehe Ihr Anliegen. Wir haben Palästina anerkannt. Aber wir sind keine Protestpartei mehr, sondern eine Regierungspartei!“

Rechte Kritik an Innenministerin Shabana Mahmood

Der wichtigste einzelne Schritt gegen Kinderarmut gegen Großbritannien, da sind sich nahezu alle Experten einig, wäre das Ende der Begrenzung des Kindergeldes auf zwei Kinder selbst bei größeren Familien, eingeführt von der konservativen Regierung von Theresa May 2017. Jedes neunte Kind im Land ist davon betroffen. Bisher sträubt sich die Labour-Regierung, das rückgängig zu machen, aus Kostengründen. Auf dem Parteitag signalisiert nun die Regierung Bewegung in dieser Sache. Alle Augen richten sich nun auf den nächsten Jahreshaushalt, den Reeves im Parlament am 26. November vorstellen wird.

Im Fokus der Kritik an Labour von rechts steht die erst vor wenigen Wochen ernannte neue Innenministerin Shabana Mahmood. Die Tochter pakistanischer Einwanderer definiert sich vor der Partei als Patriotin, deren Werte für ein Großbritannien als „Land der Offenheit, Toleranz und Großzügigkeit“ stünden, gegen einen finsteren Ethnonationalismus, der Menschen wie sie ausgrenzen wolle. Dass das Einwanderungssystem marode sei und es an Sicherheit auf den Straßen mangele, sei das Erbe der letzten 14 Jahre der Konservativen.

Mahmood will das alles ändern und auch die Migrationspolitik verschärfen: in Zukunft soll eine Einbürgerung erst nach zehn statt bisher fünf Jahren Aufenthalt beantragt werden dürfen, und ein unbefristeter Aufenthaltstitel soll davon abhängig sein, dass man sehr gut Englisch spricht, freiwillige Arbeit leistet, keine Vorstrafen hat und keine sozialen Zuschüsse braucht.

Reaktion auf Nigel Farage

Das alles klingt schon stark nach einer Reaktion auf Nigel Farage, der zuvor gefordert hat, überhaupt keinen unbefristeten Aufenthalt mehr zu gewähren. Ob man Farage als „Rassisten“ bezeichnen darf oder nicht, darüber scheint man sich bei Labour auch nicht einig zu sein. Burnham sagt, so weit würde er nicht gehen. Mahmood findet hingegen, Farage sei noch viel schlimmer.

Die Basis zeigt sich zufrieden. Joel McKavitt aus Blackpool, der 2024 mit nur 12 Stimmen Vorsprung vor Reform UK einen Sitz im Gemeinderat für Labour holte, setzt auf verbesserte Kommunikation: „Sollte die Kindergeldbegrenzung auf nur zwei Kinder abgeschafft werden, wird es helfen.“

Der 70 Jahre alte Nicky Wilson aus Glasgow, Vorsitzender der Gewerkschaft der Grubenarbeiter, äußert sich positiv: „Wir haben nichts zu beanstanden“, sagt er. „Seit Labour an der Regierung ist, haben pensionierte Grubenarbeiter eine Rentenerhöhung von 32 Prozent erhalten.“

Keine Ambitionen auf die Parteiführung

Rachel Onikosi, Kommunalrätin aus Lewisham in London, ist hochmotiviert: „Wir müssen noch mehr in die Gemeinschaft gehen und an Türen klopfen, um Versuchen der Desinformation entgegenzutreten.“

Mitten im Parteitag löscht Burnham selbst das mediale Feuer, das um ihn herum entfacht worden ist. Auf einer Veranstaltung des Guardian erklärt er am Montagnachmittag, er habe keine Ambitionen auf die Parteiführung, und seine Kritik sei vollkommen überdreht dargestellt worden. Wie Powell betont er bloß noch die Notwendigkeit, mit allen Flügeln der Partei im Austausch zu bleiben. „Wir brauchen uns alle miteinander vereint, um den Kampf aufnehmen zu können.“ Er meint den Kampf gegen Farage. Nicht gegen Starmer.

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