
Sprachreform in Estland: Russisch nur noch in der Pause
Estland lehrt Estnisch verpflichtend als Unterrichtssprache. Wie kommt das bei der russischsprachigen Minderheit an?
A ls im September in Estland das neue Schuljahr begann, hörten einige Schüler*innen morgens zur Begrüßung plötzlich eine andere Sprache als noch vor den Sommerferien. Statt wie gewohnt mit dem russischen Gruß „Zdravstvujte“ wurden die Zweit- und Fünftklässler*innen an den 50 russischsprachigen Schulen im Land mit den estnischen Worten „Tere tulemast“ begrüßt, die in großen Kreidelettern auf die Tafeln geschrieben standen.
Estland, im Süden an Lettland, im Osten an Russland grenzend, steht aktuell vor einer der größten Bildungsreformen, seit die Sowjetunion 1991 zerfiel und das Land unabhängig wurde: Das Land stellt das komplette öffentliche Schulsystem auf die Unterrichtssprache Estnisch um. Denn bislang unterrichteten gut zehn Prozent der Schulen nahezu vollständig auf Russisch. Bis 2030 soll die im vergangenen Jahr begonnene Maßnahme abgeschlossen sein. Erklärtes Ziel der Reform: den Teil der Bevölkerung, der Russisch als Muttersprache spricht, besser zu integrieren.
Rund ein Viertel der knapp 1,4 Millionen Einwohner:innen Estlands gehört zur russischen Minderheit im Land, ein Erbe aus Sowjetzeiten. Der Anteil der russischsprachigen Bevölkerung – weil sie ukrainische oder belarussische Wurzeln hat – liegt mit rund 30 Prozent sogar noch höher. Der Umfang ihrer Estnischkenntnisse ist meist sehr begrenzt.
Während einige im Land die Sprachreform als längst überfällig sehen, um die gesellschaftliche Spaltung des Landes zu überwinden, üben andere Kritik. Die Reform erfolge mit der Brechstange, nehme die russischsprachige Bevölkerung nicht wirklich mit. Denn hinter der vermeintlichen Integrationsmaßnahme steht natürlich auch der Versuch der Abgrenzung vom russischen Nachbarn: Viele der russischen Muttersprachler*innen im Land informieren sich weiterhin über Medien, die die Propaganda des Kremls verbreiten. Die Sprachreform an den Schulen ist auch ein Kampf gegen russische Einflussnahme im Land
Ganz allein ist Estland mit seiner Sprachreform nicht. Denn auch in Lettland, dessen russischer Bevölkerungsanteil bei gut 23 Prozent liegt, gab es lange russischsprachige Schulen als sowjetisches Überbleibsel. 2004 entschied sich Riga dazu, diese Schulen bilingual zu machen, indem 60 Prozent des Unterrichts auf Lettisch und die verbleibenden 40 Prozent auf Russisch unterrichtet werden. Trotz Widerstands der russischen Minderheit wurde die Reform mit einigen Abstrichen durchgesetzt. 2018 ging Lettland sogar noch einen Schritt weiter und ließ Russisch als Unterrichtssprache an privaten Universitäten verbieten. Außerdem wurde der Anteil an lettischsprachigem Unterricht an Minderheitsschulen weiter hochgefahren. Seit September ist das gesamte Bildungssystem komplett auf Lettisch umgestellt.
Im Gegensatz zu Estland hat Lettland noch zwei weitere offizielle Sprachen: das Livische und das Lettgallische. Während Livisch zu den uralischen Sprachen zählt und beinahe ausgestorben ist, ist Lettgallisch eng mit dem heutigen Lettisch verwandt und wird zum Teil als älterer Dialekt angesehen. 2016 entschied sich Lettlands Bevölkerung in einem Referendum dagegen, Russisch als weitere Amtssprache zu etablieren.
Kristina Kallas ist seit zwei Jahren estnische Bildungsministerin. Die 49-Jährige ist selbst estnisch-russisch. Minderheitenrechte und Integration hat sie zu ihren politischen Schwerpunkten erklärt – und nun hat sie die Aufgabe, Estland von seinem sowjetischen Erbe in der Bildungspolitik zu trennen. Dafür reist sie kreuz und quer durchs Land, besucht Schulen, wirbt für Akzeptanz und gibt zwischendurch Interviews per Zoom von der Rückbank ihres Dienstwagens.
„Die russischen Schulen stammen aus den 1950ern, nachdem die Sowjetunion die heutigen baltischen Staaten besetzt hatte“, erklärt Kallas auf einer dieser Fahrten. Russland brachte Immigrant:innen aus allen Teilen der UdSSR als Arbeitskräfte in das kleine Land. Für sie wurden separate Schulen nach russischem System aufgebaut. „Als die Sowjetunion 1991 zerfiel, hatten wir auf einmal etwa 100 Schulen im Land, die nicht zu uns gehörten“, sagt die Ministerin. Also überführte der Staat sie ins estnische System. Was man jedoch nicht anfasste, waren die Unterrichtssprache und das Lehrpersonal: „Auf einmal sollten sowjetische Lehrkräfte estnische Geschichte unterrichten, das funktionierte einfach nicht.“
Bemühungen, diese Schulen von Russisch auf Estnisch umzustellen, gab es immer wieder. Etwa, als die Regierung 2011 beschloss, ab der 10. Klasse mindestens 60 Prozent des Unterrichts auf Estnisch abzuhalten. „Russland skandalisierte das damals als Assimilation und Apartheid“, sagt Kallas. Also ruderte die Politik zurück. Doch seit Russlands Überfall auf die Ukraine im Februar 2022 habe sich die Situation grundlegend geändert. „Russland hat sein Recht verwirkt, für die russischen Communitys zu sprechen“, sagt Kallas.

Spätestens seit 2022 geht in Estland ein immer größerer Teil der Russ:innen auf Distanz zu Putin. Eine Umfrage der Friedrich-Ebert-Stiftung aus dem Mai 2023 stellte fest, dass zwei Drittel der russischsprachigen Befragten in Estland unzufrieden mit seiner Politik sind – auch wenn die Gruppe den Krieg deutlich ambivalenter betrachtet als die estnischstämmige Bevölkerung. Kallas sieht eine Chance, die Reform endlich umzusetzen. „Für uns hieß das: Jetzt oder nie.“
Tatsächlich ist Estland sowohl geografisch als auch sozioökonomisch stark nach Sprache getrennt. Die russische Minderheit lebt vor allem im Nordosten des Landes, nahe der Grenze zu Russland, und in der Hauptstadt Tallinn. Im bevölkerungsreichsten Tallinner Stadtteil Lasnamäe, der in den 70ern als Plattenbausiedlung für die Zuwanderer:innen angelegt wurde, sind bis heute mehr als die Hälfte der Einwohner Russ:innen. In der Grenzstadt Narva, der drittgrößten des Landes, sind es sogar fast 90 Prozent.
Die russischsprachige Szene ist sehr isoliert
Vielen der russischen Muttersprachler:innen verschließen sich Karriere- und Aufstiegschancen, da sie nicht die nötigen Sprachkenntnisse haben. Denn um an einer Universität zu studieren, braucht es gute Estnischkenntnisse. Auch in vielen Berufen ist Estnisch eine Grundvoraussetzung. Und während immer mehr Est:innen Englisch und andere Fremdsprachen lernen, beherrschen 40 Prozent der Russ:innen in Estland nur ihre Muttersprache. Die Statistiken setzen sich fort: Russischstämmige Est:innen haben höhere Arbeitslosenquoten, geringere Einkommen und schätzen ihren Gesundheitszustand als generell schlechter ein. Und auch kulturell sind Russ:innen in Estland im Vergleich zu ihrem Bevölkerungsanteil eher unterrepräsentiert.
Inmitten des hippen Tallinner Stadtviertels Kalamaja, in dem sich bunt bemalte Holzhäuser adrett aneinanderreihen, liegt die Bar Heldeke. Der Eingang befindet sich die Treppe hinunter im Kellergeschoss und führt in einen Barraum mit einer Bühne, die von einem roten Samtvorhang abgeschlossen wird. Wer in den Backstage-Bereich tritt, den grüßen eine eingebaute Holzsauna sowie direkt daneben ein mit Kacheln gefliester Raum samt Dusche und Kaltwasserpool.
Heldeke war früher ein Bordell, bis der Australier Dan Renwick das Gebäude vor neun Jahren übernahm und es zu einem Hotspot der lokalen Kulturszene umbaute. Heute ist die Bar einer der Hauptspielorte des alljährlichen von ihm ausgerichteten Theater- und Performancefestivals „Tallinn Fringe“, das überall in der Stadt Kleinkunst darbietet. Das reicht von Straßentheater, Konzerten und Stand-up-Comedy bis hin zu Cabaret und Burlesque.
Eine der Künstlerinnen, die eng mit der Tallinn Fringe verbunden ist, ist Jana Levitina. Sie kommt aus der russischen Minderheit im Osten des Landes, hat aber auch jüdische und ukrainische Wurzeln. In Erscheinung tritt sie einerseits als Stand-up-Comedienne und Co-Gründerin des FLINTA-Kollektivs „Pussy Jam Comedy“. Auf der Bühne thematisiert sie ihre slawische Herkunft und ihr Verhältnis zu Estland, arbeitet sich aber auch an Themen wie Sexismus und Kapitalismus ab.

Gelegentlich schlüpft Levitina noch in ein ganz anderes Outfit. Dann trägt sie dick aufgetragenes Make-up mit asymmetrischem Lippenstift, eine rotbraune Perücke, von der ein Stoffhase baumelt, und ein buntes Kleid, das aus allerlei pastellfarbenen Tüllfetzen besteht. Als Drag Princess lebt sie eine performative Weiblichkeit aus, die ihr das Patriarchat im Alltag nicht zugestehe, wie sie sagt. Gespickt sind ihre Shows dabei mit reichlich Selbstironie und einer atemberaubenden Fülle an Wortwitzen.
Im vergangenen Jahr hat Levitina ein zweiwöchiges Mini-Comedy-Festival im Rahmen der Fringe organisiert: Die Hälfte des Programms war auf Englisch, die andere auf Russisch. Für Letzteres traten vor allem Komiker auf, die Russland, Belarus oder die Ukraine wegen des Krieges oder aus politischen Gründen verlassen mussten. „Wir haben damit ein neues Publikum erschlossen, aber die Resonanz war trotzdem leider eher gering“, sagt sie.
„Das Problem ist, dass die russischsprachige Szene sehr isoliert ist und dadurch stark durch russische Expats und Comedians geprägt wird, die immer noch in Russland auftreten.“ Obwohl Levitinas Muttersprache Russisch ist, performt sie deshalb fast ausschließlich auf Englisch. Dennoch sei es wichtig, das russischsprachige Publikum bei Kulturveranstaltungen nicht zu vernachlässigen. Doch dafür brauche es Geld, das derzeit selbst für russlandkritische Projekte immer knapper werde.
Seit dem Haushalt 2024 werden die Ausgaben für Kultur kontinuierlich gekürzt, bis 2027 sollen es 7 Prozent weniger sein. Während der Kunstszene zweistellige Millionenbeträge gestrichen werden, plant Estland im Rahmen des Fünf-Prozent-Ziels der Nato bis 2029 mehr als 10 Milliarden Euro für den Wehretat auszugeben. In der Bildung wiederum wird ebenfalls der Rotstift angesetzt – ausgerechnet beim Sprachwechsel lassen sich laut Bildungsministerium problemlos Gelder einsparen. Man habe zur Sicherheit mehr Budget für die Reform eingeplant, das sich nun aber angeblich problemlos um 18 Millionen Euro kürzen ließe, ohne substanzielle Einschnitte bei der Umsetzung hinnehmen zu müssen. Wie genau das funktionieren soll, das bleibt allerdings in den Erläuterungen des Ministeriums vage.
Levitina besuchte eine russische Schule und fing erst in ihren 20ern an, Estnisch wirklich zu benutzen. Ein Universitätsstudium schloss sie auch nach mehreren Versuchen nicht erfolgreich ab. „Mir fiel es schwer, diese ganzen Informationen in einer Fremdsprache zu verarbeiten“, sagt sie.
Dass Estland neben dem Estnischen auch das Russische zur Amtssprache machen könnte, war politisch nie eine Option. Aber der alternativlose Umstieg auf Estnisch birgt nun ebenfalls innenpolitisches Konfliktpotenzial: Die estnische Zentrumspartei gilt seit Jahrzehnten als Sammelbecken für einen großen Teil der russischen Wählerschaft. Im Jahr 2004 ging die Partei sogar ein Kooperationsabkommen mit der russischen Regierungspartei Geeintes Russland ein, das erst 2022 nach Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine beendet wurde.
Zu diesem Zeitpunkt war die heutige EU-Außenbeauftragte Kaja Kallas Premierministerin. Schon vor der erneuten Invasion Russlands in der Ukraine 2022 führte sie Estland auf einen harten Anti-Russland-Kurs. Ihre resolute Unterstützung Kyjiws brachte ihr politisch damals viel Anerkennung ein. Sie war es auch, die die aktuelle Bildungsreform ins Rollen brachte. Als sich die damals mitregierende Zentrumspartei weigerte, Estnischunterricht in allen Kindergärten verpflichtend zu machen, entließ sie deren gesamte Minister:innenriege und suchte sich neue Partner:innen.
Angriffsfläche für den Kreml
Trotz dieses Polarisierungspotenzials fällt die generelle Einstellung zum Sprachwechsel an den Schulen aber insgesamt positiv aus. Eine staatliche Umfrage vor Reformbeginn ergab, dass 96 Prozent aller estnischstämmigen und immerhin 70 Prozent der russischstämmigen Einwohner:innen im Land die Maßnahmen unterstützen. Allerdings bietet die Reform dem Kreml so oder so reichlich Angriffsfläche für seine Propaganda.
Einer, der dieser russischen Propaganda Einhalt gebieten will, ist Ilja Dotšar. Der 36-Jährige arbeitet in Tallinn als Redakteur für den russischsprachigen Teil des estnischen öffentlich-rechtlichen Rundfunks ERR und kümmert sich dort um die internationalen Radionachrichten. Er sitzt in einem historischen Bau aus den 1940ern im Zentrum Tallinns mit brauner Steinfassade und ausgiebigen Stuckverzierungen im Treppenhaus. In den Innenräumen befinden sich helle Newsrooms mit moderner Technik.
Neben Onlineangeboten gibt es in Estland drei staatliche Fernseh- und fünf Radiokanäle, von denen jeweils einer auf Russisch sendet. „Wir haben das größte russische Mediensegment in der gesamten EU“, sagt der Nachrichtenredakteur. Das russische Programm unterscheidet sich laut Dotšar vor allem im Ton und im Fokus: „Wir senden beispielsweise viele Nachrichten aus mehrheitlich russischsprachigen Regionen.“ Hinzu kommen zweisprachige Formate. Etwa die Nachrichtensendung „Aktualnee kaamera“, dessen Name sich tatsächlich von den Staatsnachrichten der DDR herleitet – ein weiteres Relikt aus Sowjetzeiten. Doch am russischsprachigen Programm der Öffentlich-Rechtlichen wird derzeit nicht gerüttelt. „Man muss die Menschen im Land informiert halten“, plädiert auch der Redakteur. Dazu zählen neben den Russ:innen eben auch viele Ukrainer:innen in Estland. Ein großer Teil von ihnen sind Geflüchtete. Ihr Bevölkerungsanteil beläuft sich mittlerweile auf mehr als 5 Prozent.
Für Estland ist ein breites russischsprachiges Medienangebot deshalb kein Nice-to-have, sondern eine integrative Notwendigkeit. Als Russland die Ukraine überfiel, ließ man in Estland den Zugang zu russischen Fernsehsendern sperren. „Aber es gibt immer noch Telegram-Gruppen, Facebook und Satellitenfernsehen“, sagt Dotšar. In manchen Regionen ist mittlerweile ein regelrechter Kampf um die Informationshoheit ausgebrochen.
Einer dieser Orte ist Narva. Zum „Tag der Befreiung“ am 9. Mai ließ Russland von der Nachbarstadt Iwanogorod aus die estnische Seite mit Propagandamusik beschallen und animierte die Menschen zum Mitsingen. Die estnische Regierung hält regelmäßig mit eigenen Konzerten dagegen, etwa diesen Sommer mit dem Eurovision-Star Tommy Cash, der neben estnischen auch russisch-ukrainische Wurzeln hat. Doch diese gegenseitigen Provokationen sind harmlos im Vergleich zu dem, was Militärexperten das „Narva-Szenario“ nennen: einen russischen Angriff auf Estland oder sogar die gesamten baltischen Staaten, der von der Grenzstadt ausgeht.
Zwar rechnet damit zumindest öffentlich derzeit niemand, doch Russlands jüngste Vorstöße in den Luftraum der Nato vergrößern die Sorge vor einer weiteren Eskalation. Zunächst waren es mehrere russische Drohnen, die Anfang September über Polen abgeschossen wurden. Ebenfalls im September drangen zudem drei russische Kampfjets für zwölf Minuten in den estnischen Luftraum ein. EU-Außenbeauftragte Kallas sprach von einer „schweren Provokation“. Der US-Botschafter bei den Vereinten Nationen, Michael Waltz, betonte, dass die USA mit ihren Verbündeten „jeden Zentimeter des Nato-Territoriums“ verteidigen würden. Im Zuge dessen verstärkt das Bündnis seine Ostflanke weiter. Deutschland will eine bestehende Mission zur Überwachung des polnischen Luftraums ausweiten.

Für Ilja Dotšar ist Moskaus Säbelrasseln erst einmal kein Grund zur Panik. „Das ist nichts Neues. Russland war in der Vergangenheit sogar schon deutlich aggressiver“, sagt er. Laut Daten der estnischen Luftwaffe gab es seit 2014 mehr als 40 russische Luftraumverletzungen über Estland. Ganz kalt lässt die aktuelle Lage aber auch den Radiomoderator nicht: „Die Anspannung steigt.“
Ilja Dotšar, Redakteur im russischsprachigen Teil des öffentlich-rechtlichen Rundfunks
Dotšar wuchs in einer estnisch-russischen Familie auf und besuchte eine russischsprachige Schule. „Der Estnischunterricht war damals schrecklich und ich wollte die Sprache gar nicht lernen“, erinnert er sich. Erst fünf Jahre nach seinem Abschluss nahm er einen zweiten Anlauf. „Ich lebe in Estland und bin estnischer Staatsbürger – es wäre doch merkwürdig, wenn ich kein Estnisch spreche“, sagt er. Ihm hätten sich durch diesen späten Start keine Türen verschlossen, aber vielen seiner Freunde schon.
Die Schulreform sieht er gespalten. Er hält sie zwar grundsätzlich für richtig, aber tut sich mit der Umsetzung schwer. „Ich habe Kristina Kallas’ Partei gewählt, und ich bin so enttäuscht worden“, sagt er. Vor ihrer Ernennung habe sie ein integratives Schulmodell angestrebt, das estnische und russische Kinder in Kontakt miteinander bringen sollte. „Als sie Ministerin wurde, warf sie das komplett über den Haufen.“ Außerdem schnitten die Schüler:innen der ersten auf Estnisch umgestiegenen Schulklassen miserabel in Vergleichsarbeiten ab.
Russische Sprache und Kultur im Land eindämmen
Dieses Jahr bestanden 70 Prozent der Tallinner Viertklässler:innen, deren Muttersprache nicht Estnisch ist, entweder die estnischen Sprachtests oder die Fachprüfungen nicht. Hinzu kommen andauernde Entlassungen von Lehrkräften. Kristina Kallas geht davon aus, dass im Zuge der Reform jede siebte Lehrkraft ersetzt werden muss. Das wären immerhin insgesamt rund 2.500 Lehrer:innen. Seit diesem Schuljahr müssen diese nämlich mindestens über Estnischkenntnisse auf Sprachniveau B2 verfügen, also fast fließend die Sprache beherrschen, um weiter unterrichten zu dürfen. In der Praxis wird oft sogar ein noch höheres Niveau gefordert.
Viele der Lehrkräfte an den von der Reform betroffenen Schulen haben diese Qualifikation jedoch nicht erreicht. Da sie in Estland nicht verbeamtet sind, wurden ihre Verträge nicht verlängert. Einige waren dem Ruhestand ohnehin nahe, während andere nun beruflich umsatteln müssen. Ersetzt werden sie oft durch weniger erfahrenes Personal oder durch Quereinsteiger:innen.
Irene Käosaar ist Rektorin in Narva und betreut dort drei Schulen. Die Pädagogin wuchs als Kind estnisch-russischer Eltern bilingual auf. Bisher sieht sie die Reform positiv. „Ich dachte, es würde anfangs schwerer sein, aber in Narva und Tallinn ließen sich genug Grundschullehrer finden“, sagt sie. Wichtig sei dabei vor allem das Vertrauen der Eltern, das sie vor Ort spüre. „Natürlich haben sie viele Fragen und machen sich Sorgen, aber soweit läuft es gut“, versichert die Schulleiterin.
Um Lehrkräfte in die Region zu holen, wurden die Gehälter im Landkreis deutlich angehoben. „Man verdient hier im Schnitt um die Hälfte mehr“, sagt Käosaar. Bisher funktioniere dieses Anreizsystem. Doch die größte Herausforderung stehe noch bevor: Ab dem kommenden Jahr würden insbesondere an den weiterführenden Schulen mehr Lehrkräfte mit den nötigen Sprachkenntnissen gebraucht. Trotzdem findet die Rektorin es wichtig, dass die Reform zügig umgesetzt wird: „Es geht schnell, es wird hart und es braucht Geld und Ressourcen, aber wir müssen es jetzt angehen.“
Von den schlechten Ergebnissen aus Tallinn zeigt sich Käosaar eher unbeeindruckt. „Diese Tests gab es früher nicht, deswegen können wir sie auch mit nichts vergleichen.“ Belastbare Analysen werde es erst mit der Zeit geben. Doch auch sie hat Vorbehalte gegenüber dem neuen System. „Die Reform dreht sich nur um die Sprache und nicht, wie man die Kinder besser integriert“, stellt sie fest. Sie sieht deshalb nicht zuletzt ein politisches Kalkül dahinter. Ein Kalkül, das auch darauf abziele, die russische Sprache und Kultur im Land einzudämmen: „Zu Hause wird ja weiter Russisch gesprochen – aber womöglich geht die kulturelle Identität dadurch etwas verloren.“
Denn auch wenn das Bildungsministerium beteuert, dass den Menschen ihre Sprache nicht genommen wird, sondern sie im Gegenteil eine weitere dazubekommen: Überzeugen kann diese Argumentation längst nicht alle. Zumal die Regierung im März beschloss, Nicht-EU-Staatsbürger*innen das Kommunalwahlrecht zu entziehen. Die am stärksten davon betroffene Gruppe sind die etwa 83.000 russischen Passinhaber:innen im Land, die nicht zugleich die estnische Staatsbürgerschaft haben.
An die Möglichkeit, dass Moskau die Sprachreform als Anlass gebrauchen könnte, um Estland zum verstärkten Ziel einer hybriden Kriegsführung zu machen, glaubt man in der Regierung zumindest offiziell nicht. „Russland ist zu beschäftigt mit der Ukraine, als dass es noch Raum hätte, irgendetwas in Estland anzustacheln“, glaubt Kristina Kallas. Die jüngsten Drohgebärden des Kremls sprechen jedoch zumindest symbolisch eine etwas andere Sprache.
Eine gewisse Grundanspannung gehört in Estland mittlerweile sowieso zum Dauerzustand. Man weiß nur zu gut, dass Estland einen der verwundbarsten Punkte der EU und der Nato ist.
Im „Narva-Szenario“ wären es maximal 60 Stunden, bis russische Truppen Tallinn und Riga erreichen würden. Der Zweckoptimismus mit dem die Regierung die Schulreform angeht, lässt sich vielleicht ganz gut übertragen auf die Grundanspannung, mit der man auf die russische Bedrohung blickt: Es wird schon alles, denn es muss ja.
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