Zukunft von Pflegegrad 1: Sparen durch die Hintertür
Die Bund-Länder-Arbeitsgruppe zur Pflege will die Bemessung von Pflegegraden „überprüfen“. Das könnte bittere Folgen für die Betroffenen haben.
S usanne Broth, 73 Jahre alt, darf nach einer Kehlkopfoperation nicht mehr duschen. Und sie kann, bedingt durch ihr Rheuma, keinen Waschlappen mehr ausdrücken. Kartoffeln schälen geht auch nicht. Die Alleinstehende nutzt Feuchttücher für die Körperhygiene und lebt von Fertigmenüs.
Nur der unterste, ein Pflegegrad 1, wurde der Dame bewilligt, die in Wirklichkeit anders heißt. Sie bekommt damit selbst kein Geld, kann sich aber durch den sogenannten „Entlastungsbetrag“ für vier, fünf Stunden im Monat bezahlte Hilfe für ihren Haushalt suchen und dafür 131 Euro mit der Pflegekasse abrechnen.
Den Entlastungsbetrag, den man im Pflegegrad 1 bekommt, um eine externe Hilfe zu bezahlen, und auch die Bemessung der höheren Pflegegrade stehen jetzt zur Disposition. Denn die Finanzlage der Pflegeversicherung soll dringend stabilisiert werden. Die Ausgaben für die soziale Pflegeversicherung sind von 31 Milliarden Euro im Jahre 2016 auf 68 Milliarden Euro im Jahre 2024 gestiegen. In den nächsten Jahren klaffen Milliardenlücken in der Pflegekasse.

Die taz ist eine unabhängige, linke und meinungsstarke Tageszeitung. In unseren Kommentaren, Essays und Debattentexten streiten wir seit der Gründung der taz im Jahr 1979. Oft können und wollen wir uns nicht auf eine Meinung einigen. Deshalb finden sich hier teils komplett gegenläufige Positionen – allesamt Teil des sehr breiten, linken Meinungsspektrums.
Die Bund-Länder-Arbeitsgruppe „Zukunftspakt Pflege“ hat am Montag erste Vorschläge auch zur Ausgabenbegrenzung vorgelegt. Bundesgesundheitsministerin Nina Warken kündigte an, zur „Effizienzsteigerung“ müssten die „Potenziale in der Versorgung“ „stärker gehoben“ und die „Wirkung bisheriger Leistungen auf den Prüfstand“.
Was im Zwischenbericht der Bund-Länder-AG zur Pflege auffällt, ist, dass nicht radikal bestimmte Leistungen aus der Pflegeversicherung von heute auf morgen wegfallen sollen. Vielmehr verstecken sich in dem Bericht strukturelle Veränderungen, die mittelfristig finanzielle Verschlechterungen für Pflegehaushalte bedeuten, also eine Art Sparen durch die Hintertür.
Prävention statt direkte Hilfen
Laut des am Montag vorgelegten Berichts der Facharbeitsgruppen in der Bund-Länder-AG soll der Pflegegrad 1 nicht abgeschafft werden, wie zwischenzeitlich berichtet worden war. Der Entlastungsbetrag, also die indirekte Geldleistung im Pflegegrad 1, werde vielmehr „hinsichtlich seiner Versorgungswirkungen in Frage gestellt“, heißt es in dem Bericht. Die Fach-AGs empfehlen den Minister:innen der Bund-Länder-AG, die für den Entlastungsbetrag eingesetzten Mittel ganz oder teilweise für eine frühe „fachpflegerische, präventionsorientierte Begleitung von Pflegebedürftigen zu verwenden“.
Susanne Broth könnte sich also keine Hilfe für den Haushalt oder zum Haarewaschen mehr leisten, bekäme aber mehr Beratung. Die Frage ist, ob der Fokus auf mehr Prävention durch Beratung den Betroffenen und ihren Angehörigen, die mit ihrer Gebrechlichkeit in einem beschwerlichen Alltag zu kämpfen haben, wirklich hilft. Mit dem Entlastungsbetrag kann man bisher nämlich auch die Hilfe von geschulten Nachbarn bezahlen, eine Flexibilität, die ursprünglich mit Einführung der Pflegegrade im Jahre 2017 als Fortschritt gepriesen worden war.
2017 wurde der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff etabliert, statt der zuvor geltenden drei Pflegestufen wurden damals fünf neue „Pflegegrade“ eingeführt. Auch kognitive Einschränkungen werden nunmehr berücksichtigt. Bei der Begutachtung durch den Medizinischen Dienst der Krankenkassen werden Punkte vergeben für die fehlende Selbstständigkeit und je nach Punktwert dann der Pflegegrad zuerkannt. Die Eintrittsschwelle für den Pflegegrad 1 liegt niedriger als die Schwelle für die frühere Pflegestufe 1, was auch mitverantwortlich ist für die steigende Zahl der „Pflegebedürftigen“. Doch genau dieser leichtere Zugang zur Pflegeversicherung seit 2017 steht jetzt zur Debatte.
Schwelle für Einstufungen höher
Die Fach-AGs in der Bund-Länder-Arbeitsgruppe empfehlen laut dem Papier, zu prüfen, „welche Folgen eine Rückführung der Schwellenwerte in den Pflegegraden 1, 2 und 3“ auf die Verteilung der Pflegebedürftigen und damit auf die „Leistungsausgaben“ hätte. Mit anderen Worten: Die Schwelle der Einschränkungen, die man haben muss, um in einen Pflegegrad 2 oder 3 zu kommen, wäre deutlich höher als heute, was den Pflegekassen erhebliche Kosten sparen kann. Dabei soll ein „Bestandsschutz“ gelten.
Die neuen Pflegehaushalte würden bei einer niedrigeren Einstufung weniger Geld erhalten als heute. So bekommt man im Pflegegrad 1 kein direktes Pflegegeld, im Pflegegrad 2 dann aber 347 Euro, im Pflegegrad 3 dann 599 Euro monatlich, die man ausgeben kann, wofür man will.
Die Fach-AGs schlagen überdies in einer Variante vor, das Pflegegeld für Neuantragssteller:innen für einen „bestimmten Zeitraum“ „zunächst nur reduziert“ zu gewähren. Erst nach Ablauf einer Karenzzeit würde dann das volle bisherige Pflegegeld gezahlt.
In etwa 3,1 Millionen Fällen übernehmen Angehörige die Hauptpflege und erhalten Pflegegeld, so eine Erhebung der Diakonie. Drei Viertel der Angehörigen erleben eine hohe emotionale, die Hälfte auch körperliche Belastungen. Viele verzichten auf Arbeitsverdienst. Solchen Haushalten künftig das Pflegegeld auf die eine oder andere Weise zu kürzen, führt zu Verbitterung.
Allerdings ist es auch schwer, die Einnahmeseite für die Pflegekasse zu erhöhen. Die Bund-Länder-AG schlägt vor, über die Einführung einer verpflichtenden Pflegezusatzversicherung zu diskutieren, deren Beiträge dann von den Beschäftigten alleine aufgebracht werden müssten. Die Gewerkschaften protestieren. Über Umverteilung, etwa über einen Finanzausgleich zwischen sozialer und privater Pflegeversicherung, über mehr Steuermittel für die Pflegekasse wird in der Bund-Länder-AG kaum geredet. Dabei hatte ein Gutachten des IGES-Instituts 2024 diverse Stellschrauben zur Einnahmesteigerung ausgemacht, wie etwa eine Erhöhung der Beitragsbemessungsgrenzen für die Pflegeversicherung, die Erhebung von Beiträgen auch auf Kapitaleinkünfte und anderes.
Sparen durch die Hintertür wird Folgen haben. Der Anteil der über 80-Jährigen steigt, auch noch in 30 Jahren, sagt die Statistik. Wenn es hart kommt, nimmt die Verwahrlosung Hochaltriger zu. Angehörigenpflege führt in die Armut und die Überforderung in den Familien zu dauerhafter Aggression. Wer alleinstehend ist, pflegebedürftig und arm, hat die Arschkarte. Da wollen wir doch nicht hin.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!