Forscher zu Bürgergeld-Sanktionen: „Verweigern Personen Arbeit, kann es gute Gründe dafür geben“
Der Koalitionsausschuss berät über härtere Bürgergeld-Sanktionen. Schon die Ampel hatte sie für „Totalverweigerer“ verschärft. Was hat es bewirkt?

taz: Herr Wolff, Sie haben sich als Wissenschaftler intensiv mit sogenannten Totalverweigerern beschäftigt. Haben Sie schon mal einen in echt gesehen?
Joachim Wolff: Gesehen habe ich noch keinen. Man weiß aus Daten, dass es welche gibt. Das heißt aber nicht, dass es viele Fälle sind.
taz: Die Ampel-Koalition hat 2024 neue Sanktionen für diese Menschen eingeführt. Wer wiederholt Arbeit ablehnt, die das Jobcenter als zumutbar einstuft, kann für zwei Monate seinen kompletten Regelsatz verlieren. In einer Studie schreiben Sie: Die Zahl der Fälle bis Juni 2025 liege im „niedrigen zweistelligen Bereich“. Haben Sie eine genaue Zahl?
Wolff: Ich habe eine konkrete Zahl vor mir, doch die ist nicht gesichert. Ob es 20, 30 oder 40 Fälle sind, spielt aber keine Rolle. So oder so sind es sehr wenige.
Joachim Wolff ist Wirtschaftswissenschaftler und Forschungsbereichsleiter am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB). Er ist Co-Autor von zwei
zu „Totalverweigerern“ und 100-Prozent-Sanktionen.taz: Warum ist es nicht möglich, die Zahl genau zu erfassen?
Wolff: Bei einem Teil der Jobcenter fehlt im Software-System die Möglichkeit, 100-Prozent-Sanktionen eindeutig zu dokumentieren. Bei den anderen sind nicht alle Einträge plausibel. Bei manchen sind zum Beispiel Meldeversäumnisse als Sanktionsgrund vermerkt, also etwa ein verpasster Termin im Jobcenter. Der vollständige Wegfall des Regelsatzes ist aber nur bei Arbeitsverweigerung zulässig.
taz: Können Sie ausschließen, dass die tatsächliche Zahl deutlich höher liegt?
Wolff: Vielleicht sind es auch hundert Fälle, aber sicher nicht Tausende.
taz: Auch wenn nur wenige Personen direkt betroffen sind: Können diese Sanktionen eine Abschreckungswirkung auf andere Bürgergeld-Empfänger*innen haben?
Wolff: Grundsätzlich gibt es solche Effekte. Wenn die Wahrscheinlichkeit einer Leistungsminderung steigt, gehen auch Personen schneller in Beschäftigung, die noch gar nicht sanktioniert wurden. Dass das hier der Fall war, kann ich mir aber nicht vorstellen – weil die Wahrscheinlichkeit einer Komplettsanktion eben sehr klein ist. Auch entsprechende Rechtsfolgebelehrungen gab es nicht viele, man ist mit dem Thema als Leistungsberechtigter also kaum konfrontiert.
taz: Eine Rechtsfolgebelehrung ist gewissermaßen die Warnung des Jobcenters, dass eine Sanktion unmittelbar bevorsteht. Wie viele davon gab es für Komplettsanktionen?
Wolff: Wir haben Daten von 457 Fällen. Das ist zumindest mehr als der niedrige zweistellige Bereich, für den eine Auswertung überhaupt keinen Sinn gemacht hätte. Hier konnten wir uns anschauen, welche Merkmale diese Personen haben. Die Ergebnisse sind ähnlich wie bei anderen Sanktionen: Unter-25-Jährige und Männer kommen vergleichsweise häufig vor.
Wie kommt diese Verteilung zustande?
Wolff: Das haben wir nicht explizit untersucht. Um bei den Altersunterschieden zu spekulieren: Voraussetzung für die Komplettsanktion ist, dass man in den vergangenen zwölf Monaten schon mal wegen einer Arbeitsverweigerung sanktioniert wurde und jetzt wieder ein Stellenangebot hat. Das kann bei Jüngeren häufiger vorkommen, weil sie in den Jobcentern intensiver betreut werden und häufiger Stellenangebote bekommen. Es kann aber auch damit zusammenhängen, dass sie weniger Erfahrung mit dem Jobcenter haben und nicht wissen, wie sie eine Sanktion abwenden können.
taz: Überrepräsentiert sind laut Ihrer Studie auch deutsche Staatsbürger. Wie kommt das?
Wolff: Ein möglicher Grund: Deutsche bekommen häufiger Stellenangebote als Ausländer, weil sie seltener Sprachbarrieren haben. Aber nochmal: Wir haben das nicht konkret untersucht.
taz: Im politischen Diskurs nimmt die Figur des Totalverweigerers eine große Rolle ein, die Bundesregierung will Sanktionen für sie ausweiten. Ist das angesichts Ihrer Zahlen eine Phantomdebatte?
Wolff: Die Schlussfolgerung ist sicherlich zulässig für das rechtliche Konstrukt, das derzeit in Kraft ist. Die Voraussetzungen im entsprechenden Paragraphen sind sehr komplex. Das Jobcenter muss nachweisen, dass die Möglichkeit zur Arbeitsaufnahme „tatsächlich und unmittelbar besteht und willentlich verweigert wird“. Das ist nicht leicht und so bekommt man nur wenige Fälle zusammen.
Anders könnte die Schlussfolgerung ausfallen, wenn es generell um Personen geht, die aus Sicht der Jobcenter nicht an den Tisch zu bringen sind. Es ist eine kleine Minderheit, aber eine belastbare Zahl haben wir nicht.
taz: Insgesamt wurden 2024 laut der Bundesagentur für Arbeit 185.600 Menschen in irgendeiner Form sanktioniert.
Wolff: Das sind aber zum großen Teil Meldeversäumnisse, und die können auf verschiedenste Weise zustandekommen. Es gibt Leute, die nicht verstehen, wie das System funktioniert. Es gibt Personen, die psychische Probleme haben und ihre Post nicht aufmachen. Es ist schwer zu entscheiden, ob dahinter eine Verweigerungshaltung steckt. Wenn eine Person einmal im Jahr eine Pflicht verletzt, wäre ich vorsichtig damit, sie als Totalverweigerer zu kategorisieren. Ohnehin habe ich noch keine gute Definition gehört, was ein Totalverweigerer jenseits der gesetzlichen Regelung sein soll.
taz: Sie haben sich in Ihrer Forschung auch mit der Figur des Totalverweigerers in der politischen Debatte um das Bürgergeld beschäftigt. Woher kommt der Begriff?
Wolff: In meiner Jugend waren das Personen, die sowohl den Wehrdienst als auch den Zivildienst verweigert haben. In Bezug auf die Grundsicherung haben in der Ampel-Zeit Arbeitsminister Hubertus Heil und die Bild-Zeitung den Begriff verwendet. Sie können sich vorstellen, dass ich das nicht für sinnvoll halte. Wenn Personen Arbeit verweigern, kann es dafür ja gute Gründe geben.
taz: Welche denn?
Wolff: Wenn jemand entscheidet, eine Stelle abzulehnen, weil er gute Chancen auf eine bessere hat, dann mag das ein Regelverstoß sein, der vom Jobcenter sanktioniert wird. Aber ich würde diese Person nicht gleich als Totalverweigerer bezeichnen. Natürlich muss es darum gehen, die Hilfebedürftigkeit zu überwinden. Es kommt aber auf den Einzelfall an.
taz: Was sind die häufigsten Gründe, aus denen Bürgergeldempfänger Arbeit ablehnen?
Wolff: Das hängt beispielsweise mit der Vereinbarkeit von Beruf und Familie zusammen. Wir wissen aber umgekehrt aus Befragungen, dass die deutliche Mehrheit der Arbeitslosen bereit ist, Jobs unterhalb ihrer Qualifikation anzunehmen. Mehr als 60 Prozent nehmen ungünstige Arbeitszeiten und jeder Zweite nimmt lange Arbeitswege in Kauf. Nur eine Minderheit dagegen würde für einen Job auch umziehen. Aber diese Untersuchung stammt aus dem Jahr 2017, und die Bereitschaft ändert sich mit der Lage am Arbeitsmarkt.
taz: Inwiefern?
Wolff: Wenn die Lage am Arbeitsmarkt gut ist, man sich den Job also eher aussuchen kann, sind weniger Menschen bereit, Abstriche zu machen.
taz: Aktuell dürfte es demnach weniger Bürgergeldempfänger geben, die Jobs ablehnen – aber es wird vermehrt über sie gesprochen.
Wolff: Vor Wahlen, in der Rezession und in Zeiten knapper Staatskassen kommt das Thema immer wieder auf. Das ist auch legitim. Aber zur Wahrheit gehört, dass man durch die Sanktionierung von Arbeitslosen nicht unbedingt im großen Umfang Geld spart.
taz: Vorhin haben Sie gesagt, dass Sie es falsch finden, dass der Totalverweigerer wieder aus der Mottenkiste gezogen wurde.
Wolff: Ich finde es falsch, aber ich kann die Gründe nachvollziehen. Mit der Bürgergeldreform ging es der Ampel zunächst um Aspekte wie Augenhöhe oder Anerkennung der Lebensleistung. Angesichts der anhaltenden Wirtschaftskrise und steigender Arbeitslosenzahlen wurde ein anderer Aspekt betont: Die Bezieher müssen sich mehr bemühen. Die Wortwahl ist aber unpassend.
taz: Schon ein Jahr nach der ursprünglichen Bürgergeldreform führte die Ampel die neue Sanktion für Totalverweigerer ein. Man könnte zur Ehrenrettung der SPD sagen, dass sie damit das Bürgergeld retten wollte. Die Logik: Man muss an die wenigen Verweigerer ran, um die Akzeptanz insgesamt zu verbessern.
Wolff: Das erschließt sich mir nicht. Als die Ampel die Wende beschloss, hin zu mehr Fordern und höheren Sanktionen, hatten wir nur wenige Monate Erfahrungen mit dem Bürgergeld sammeln können. Es war ja gerade erst in Kraft getreten.
taz: Die Wende kam zu schnell?
Wolff: Im Juli 2023 traten einige Regelungen des Bürgergelds erst in Kraft, da wurden im Frühjahr 2024 andere schon wieder verschärft und die Debatte sah weitere Verschärfungen vor. Wir konnten gar nicht erforschen, wie das Bürgergeld wirkt, was funktioniert und was nicht.
taz: Klingt frustrierend.
Wolff: Ja, wir hätten das System gern zwei oder drei Jahre in einem stabilen Zustand beobachtet und in Ruhe untersucht und mit diesen Ergebnissen die Politik beraten.
taz: Prinzipiell ist das Bild des „faulen Arbeitslosen“ nicht neu. Anfang der Nullerjahre war es Florida-Rolf, ein deutscher Arbeitsloser in Florida, über den die Bild-Zeitung berichtete – was damals die Hartz-Reformen legitimierte.
Wolff: Die Figur ist noch älter. In den 80er Jahren war es die soziale Hängematte. Heute ist der Totalverweigerer das, was früher der Hartzer war. Aber um es optimistisch zu wenden: Wenn sich die wirtschaftliche Lage verbessert, verschwindet die Figur wieder aus der Öffentlichkeit.
taz: Schwarz-Rot will das Bürgergeld in der aktuellen Form abschaffen. Die Reform wird in Kürze vorgestellt. Hat die mediale Figur des Totalverweigerers das Bürgergeld gekillt?
Wolff: Nein, nicht allein. Es gab von Anfang an unterschiedliche Auffassungen in Union und SPD, da sprach noch niemand vom Totalverweigerer. Jetzt muss man schauen, wie der Kompromiss aussieht. Vielleicht ist es ja ein guter.
taz: Sie haben für Ihre Studie auch mit Mitarbeitern im Jobcenter gesprochen und waren bei Beratungsgesprächen mit Bürgergeldempfängern dabei. Welche Rolle spielte dabei das Bild des vermeintlich arbeitsscheuen Arbeitslosen?
Wolff: Bei den Gesprächen betonten Mitarbeiter des Jobcenters oft, wie sich die leistungsberechtigte Person verhalten hat, was sie geleistet hat und was nicht.
taz: Aber das ist doch Teil ihres Jobs.
Wolff: Natürlich! Aber in manchen Fällen erschwert das Bild, das ein Jobcenter-Mitarbeiter von seinem Gegenüber hat, womöglich die Beratung. Es gab einen Fall, bei dem eine Bürgergeldempfängerin ihren Partner nicht mitbringen durfte, obwohl sie Sprachprobleme hatte. Zudem hat der Jobcenter-Mitarbeiter der Frau Vorwürfe gemacht und ging davon aus, dass sie als Mutter nicht arbeiten möchte. Mit der Person hätte man auch anders reden können.
taz: Führt die Figur des Totalverweigerers also zu einer Art Generalverdacht?
Wolff: Das kann im Einzelfall so sein. Andersherum gibt es auch Mitarbeiter im Jobcenter, die sagen: Ich konzentriere mich auf die motivierten Leute. Das kann natürlich auch mit einem Vorurteil gegenüber den anderen Empfängern zusammenhängen.
taz: Welche Reformen bei den Sanktionsmöglichkeiten empfehlen Sie?
Wolff: Aus der Erfahrung mit den sehr wenigen Totalverweigerern im Sinne der aktuellen Regelung: Man sollte keine allzu komplexen Regeln aufsetzen, die für die Mitarbeiter im Jobcenter im Alltag nicht umsetzbar sind. Gleichzeitig muss immer das Urteil des Verfassungsgerichts mitgedacht werden, das Sanktionen enge Grenzen gesetzt hat.
taz: Wie sehen sinnvolle Sanktionen aus?
Wolff: Ein Kollege von mir hat erforscht, dass leichte Sanktionen und die Drohung damit positive Effekte haben können auf die Vermittlung in den Arbeitsmarkt. Aber zu viel Druck wirkt kontraproduktiv: Wenn Bürgergeldempfänger gar kein Geld mehr bekommen und ihnen in der Folge sogar der Strom abgestellt wird, hilft das auch nicht bei der Suche nach einem Job. Wenn die Regierung tatsächlich strenger sanktionieren will, sollte sie also darüber nachdenken, die Regeln für leichte Sanktionen zu ändern. Die sind bisher höchstens für drei Monate erlaubt, sodass man eine längere Dauer vorsehen könnte. Aber von zu viel Strenge würde ich abraten.
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