Erfinderin des Uni-Austauschprogramms: Danke, „Mamma Erasmus“
Die Italienerin Sofia Corradi hat das Leben von Millionen Europäer:innen geprägt. Nun ist sie mit 91 Jahren gestorben. Und wir erinnern uns.
Französisch für Anfänger
1993 war es, ich befand mich gerade in einer kreativen Senke, da schickte mich mein Prof an die Universität Paris VIII in Saint-Denis. Vorher jobbte ich noch schnell drei Monate auf dem Bau, denn das Stipendium war spärlich. Und weil es Französisch in meiner Ostschullaufbahn nicht gab, packte ich noch einen Zwei-Wochen-Sprachkurs obendrauf. Als ich ankam, verstand ich erst mal: nichts. In der Uni saß ich in verwirrenden Vorlesungen und heuchelte Kompetenz. Im Studentenwohnheim kamen die meisten aus Deutschland, so musste ich mir Abende mit Einheimischen organisieren, um wenigstens mit der Sprache voranzukommen – als radebrechender Trottel lebt es sich nicht angenehm. Was ist geblieben? Nicht nur habe ich in Paris einen anderen Berliner kennengelernt, mit dem ich bis heute eng befreundet bin. Auch hätte ich mich ohne das Semester in Paris nicht auf eine Stelle in der taz bewerben können, die Französischkenntnisse voraussetzte. Was für ein Glück!
Stefan Mahlke
Europa, verteilt auf drei WGs
Wintersemester in Córdoba, Südspanien. Das bedeutete, durch enge weiße Gassen zur Uni zu schlendern. Vorlesungen über spanische Geschichte. Laue Abende auf der Dachterrasse. Viele Tapas in vielen Bars. Elektropartys auf einer Finca zwischen Olivenbäumen. Und vor allem tolle Leute. Die Französin, die vorher als Schafschererin gearbeitet hatte. Der Katalane, der sonst in London lebte. Der Italiener, der gerne über rote Ampeln fuhr. Ein anderer Italiener, der entsetzt war, dass ich Nudeln mit Sahnesoße kochte. Und noch ein Italiener, in den sich meine Mitbewohnerin verliebte. Ich hatte nie wieder so viel mit Italienern zu tun wie in Spanien. Europa schnurrte in diesem halben Jahr auf drei Wohngemeinschaften zusammen. Wir waren uns nah. Zum Glück wohnte ich mit einer Studentin aus dem Baskenland zusammen, sonst hätte ich wohl wenig Spanisch gesprochen. Wir haben uns kürzlich wiedergetroffen. In Italien.
Antje Lang-Lendorff
Die Komfortzone verlassen
Das wird mein Jahr des Wassersports, dachte ich, packte meine Sachen und zog für zwei Semester an die Küste von Wales, nach Swansea. Kaum eine andere Uni der Welt liegt so nah am Meer, der Strand beginnt, wo der Campus endet. Und so schrieb ich gleich in der ersten Woche euphorisch meinen Namen auf die Listen der Segel-, Surf- und Kajak-Societys, um kurz darauf buchstäblich hart zu landen. Beim Surfen prellte ich mir so doll den Hinterkopf, dass ich Sterne sah, auf den Segeltrip bei Nieselregen folgte ein wochenlanger grippaler Infekt, und die Kajaktour über den Fluss Tawe brachte mich dann tatsächlich fast um – weil ich nach dem Kentern jedes Mal quälend lange unter Wasser warten musste, bis mich wieder jemand umdrehte. Danke, Mamma Erasmus! Jetzt weiß ich, dass ich Sport lieber an Land mache.
Leonie Gubela
Ein Semester, zehn Jahre
Mit 19 war Berlin für mich ein ferner Ort – emotional weiter weg als geografisch. Ich studierte in Wien, träumte aber von Berlin. In meinem vierten Semester bot sich dann Erasmus an, aber wie ich den Platz bekam, war ein wenig kurios. Der zuständige Professor verstarb kurz vor der Vergabe, hatte den Platz aber schon mündlich einer anderen Studentin zugesichert. Am Ende bekamen wir beide einen, und ich landete also an der Freien Universität. Der Campus wirkte riesig und zerstreut, und trotzdem: Plötzlich war ich dort, wo ich mich so lange hingeträumt hatte. Aus dem Semester wurde ein Jahr. Daraus wurde ein weiteres. Dann ein Job. Und plötzlich – zehn Jahre. Heute ist Berlin mein Zuhause. Was ich rückblickend an Erasmus so schätze: Es hat mir erlaubt, mich in eine neue Umgebung zu wagen, ohne gleich alles hinter mir zu lassen. Ich konnte mich ausprobieren, mich irren, mich neu erfinden – alles im schützenden Rahmen eines offiziellen Austauschprogramms.
Anna Pointinger
Mehr wert als jedes Zeugnis
Wo ich herkomme, war ein Studium eher nicht vorgesehen, schon gar kein Auslandsjahr. Irgendwann hielt ein Dozent eine flammende Rede, dass man unbedingt mal im Ausland studieren sollte, und da gäbe es so ein Programm namens Erasmus. Ich rechnete ein bisschen das Finanzielle durch, und ein paar Monate später fand ich mich in Uppsala in Schweden wieder, in einer altehrwürdigen Universität samt fantastischer Bibliothek und sehr internationalem Publikum, mit GaststudentInnen aus Afrika und Lateinamerika. Studiersprache war Englisch. In einem Politikwissenschaftsseminar diskutierten wir unsere papers, da sagte der strenge schwedische Professor inmitten von englischen Muttersprachlern: Die Arbeit von Gunnar sei „probably the best one“. Ich glühte vor Stolz. Diese Worte, von denen ich ein paar Monate zuvor nicht zu träumen wagte, hatten über Jahre mehr Bedeutung für mich als jedes Zeugnis.
Gunnar Hinck
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