Macht der Hamas in Gaza: Bedingt entwaffnungsbereit
Israels Armee hat die Hamas vielleicht demontiert, aber nicht besiegt. Die Miliz nutzt die Waffenruhe im Gazastreifen, um gegen Rivalen vorzugehen.
Zwei Jahre lang herrschte Krieg im Gazastreifen, zwei Jahre lang veröffentliche das israelische Militär immer wieder Meldungen über seine Fortschritte. Im Frühling 2024 etwa, vor der Offensive auf die Stadt Rafah im Süden des Küstenstreifens, als die Armee verkündete, 20 von 24 Hamas-Bataillonen „demontiert“ zu haben. Folglich wolle man sich den verbleibenden 4 Bataillonen in der Grenzstadt zu Ägypten zuwenden. Im August 2024 meldete die Armee dann: Auch in Rafah habe man die Hamas besiegt.
Schon vor über einem Jahr hieß es dann, es seien gar keine kampffähigen Hamas-Einheiten mehr übrig. Doch die Bilder, die nach dem Beginn der Waffenruhe am 10. Oktober 2025 aus dem Gazastreifen kommen, sprechen eine andere Sprache. Die Hamas ist weiterhin im Straßenbild zu sehen, schwer bewaffnet, sie geht brutal gegen Dissidenten, Kriminelle und rivalisierende Gruppen vor. Viele Bewohnerinnen und Bewohner Gazas fürchten sie noch immer.
Man könnte fast meinen, dass in den beiden Jahren Krieg zwar die Zivilbevölkerung enorm gelitten hat, die Hamas als Organisation aber weniger. „Die Hamas verhält sich nicht wie eine besiegte Gruppe“ titelte die Times of Israel jüngst. Doch was beutetet das für die Verhandlungen um eine zweite Phase der Waffenruhe? In dieser soll nämlich, dem Friedensplan von US-Präsident Donald Trump zufolge, über eine Entwaffnung der Hamas, die Ermächtigung alternativer Strukturen und ein endgültiges Kriegsende verhandelt werden.
In den vom israelischen Militär verkündeten Erfolgen selbst ließ sich in den vergangenen beiden Jahren schon erkennen, dass „demontiert“ nicht „besiegt“ bedeutet. Das Militär erklärte zu fünf unterschiedlichen Zeitpunkten, den Kommandeur des Hamas-Bataillons in Shujaya, getötet zu haben, einem Viertel von Gaza-Stadt. Nach jeder der fünf Meldungen formierte sich die Einheit wieder unter einem neuen Anführer.
Taktische Fehler der israelischen Armee
Den ganzen Krieg hindurch erklärten Analysten in Israel wie im Ausland immer wieder: Die Kriegstaktik des israelischen Militär funktioniere nicht. Diese Taktik sieht vor, dass die Armee Gebiete, in denen sie die Hamas besiegt hat, nicht hält, sondern sich wieder zurückzieht. Und damit der Hamas erlaubt, sich wieder neu zu formieren – um dann am selben Ort erneut gegen sie vorgehen zu können.
Einer der Analysten, die diese Taktik für falsch halten, ist Seth Frantzman. Als Militärkorrespondent berichtet er unter anderem für die rechtskonservative Jerusalem Post. Schon ein Jahr nach dem 7. Oktober sagte er der taz: Israel habe seine Ziele in Gaza – die Befreiung der Geiseln sowie die Hamas zu zerstören – nicht erreichen können. Stattdessen erlaube die israelische Kriegsführung der Hamas, sich immer wieder zu regruppieren. Die Hamas habe sich so im Schatten der Zivilbevölkerung im Kriegsverlauf quer durch den Gazastreifen bewegen können. Dass die Hamas Zivilisten bewusst als eine Art Schutzschild nutzt, war indes bereits vor dem 7. Oktober bekannt, als mit dem Hamas-Überfall auf Südisrael der Krieg in Gaza begann.
Das ist wohl der zweite taktische Fehler der israelischen Armee: dass sie nie versuchte, die Zivilbevölkerung von den Milizionären zu trennen. Nie eine Frontlinie schuf, hinter die sich Zivilisten hätten zurückziehen können, im besten Fall in von internationalen Organisationen betreute Geflüchtetencamps.
Und das Ergebnis? Ein fast völlig zerstörter Gazastreifen, fast 70.000 tote Palästinenser, fast die Hälfte von ihnen Frauen und Kinder. Zwei vom Internationalen Strafgerichtshof ausgestellte Strafbefehle gegen israelische Spitzenpolitiker wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen. Eine wachsende Isolierung Israels auf der diplomatischen Bühne. Und nicht zuletzt: ein von renommierten Völkerrechtlern und zahlreichen Nichtregierungsorganisationen wie auch den Vereinten Nationen vorgebrachter Vorwurf des Genozids.
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Die Hamas betreibt das Gegenteil ihrer Entmachtung
Auf der Haben-Seite der israelischen Führung stehen acht lebende Geiseln, die die Armee aus Gaza retten konnte: 8 von insgesamt 251. Und eine ganze Reihe getöteter Hamas-Anführer, unter anderem Jahia Sinwar, der wohl als Drahtzieher des Überfalls am 7. Oktober fungiert hatte.
In dieser Situation lässt sich natürlich argumentieren, dass der Druck des israelischen Militärs die Hamas erst dazu bewog, sich im Oktober 2025 auf den von Trump vermittelten Friedensdeal einzulassen. Denn sollte der Plan bis zum Ende durchexerziert werden, würde das letztlich eine völlige Entmachtung der Hamas bedeuten.
Doch dem saudi-arabischen Analysten Aimen Dean zufolge war dabei nicht der Krieg im Gazastreifen das Zünglein an der Waage. Sondern die Annexionspläne Israels im Westjordanland, die im Schatten des Krieges weit vorangetrieben wurden. Am Mittwoch votierte die Knesset in erster Lesung für ein Gesetz zur Annexion. Die Sorge davor, als Ermöglicherin der Annexion zu gelten, habe Dean zufolge dazu beigetragen, die Hamas einlenken zu lassen.
Bei den Verhandlungen in Ägypten zeigte sich die Hamas relativ willig. In Gaza selbst aber betreibt sie aber das Gegenteil ihrer Entmachtung: Sie geht gegen innere Rivalen vor und stärkt so ihre Position.
Es gibt sechs größere Rivalen der Hamas
Dabei hilft der Hamas auch die Waffenruhe. Schon einige Tage bevor diese begann, gingen Kräfte der Hamas gegen Mitglieder der Familie Majaydah vor und töteten mindestens zwei von ihnen. Die Majaydahs gelten als der Fatah verbunden, der größten Rivalin der Hamas und dominierenden Fraktion innerhalb der Palästinensischen Autonomiebehörde. Das israelische Militär nutzte den Moment und tötete bei einem Luftangriff sechzehn Hamas-Kämpfer und zwei Mitglieder des Clans.
Die Familie Majaydah hat mittlerweile ihre Unterstützung der Hamas bekannt gegeben. Darüber wie freiwillig das erfolgte, kann spekuliert werden.
Außer den Majaydahs gibt es heute mindestens fünf organisierte Anti-Hamas-Fraktionen im Gazastreifen. Die größte von ihnen sind die sogenannten Popular Forces, angeführt von Yasser Abu Shabab, einem Beduinen, den die Hamas lange gefangen hielt. Seine Miliz soll massiv am Diebstahl von Hilfsgütern beteiligt sein. Die Popular Forces sitzen in Ost-Rafah – nahe dem Grenzübergang Kerem Schalom, über den die Hilfstransporte kommen. Die Miliz soll etwa 500 bis 700 Kämpfer umfassen, sie gilt als von Israel unterstützt und aufgerüstet. Eine Investigativrecherche von Sky News legte sogar eine mögliche Verbindung zu den Vereinigten Arabischen Emiraten nahe.
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Dass seit Beginn der Waffenruhe keine massiven Zusammenstöße zwischen ihr und der Hamas gemeldet wurden, liegt wohl auch daran, dass die Popular Forces sich derzeit hinter der Rückzugslinie des israelischen Militärs befinden soll. Noch 53 Prozent des Gazastreifen hält Israels Militär derzeit noch besetzt – im Einklang mit dem Waffenruheabkommen.
Mutmaßliche Verbindungen zur Autonomiebehörde
Eine weitere Anti-Hamas-Miliz im Gazastreifen nennt sich „Counterterrorism Strike Force“. Sie hat etwa 40 Mitglieder, die meisten davon sollen aus der Familie al-Astal stammen, so wie auch ihr Anführer, Husam al-Astal. Medienberichten zufolge hat er ebenfalls Verbindungen zur Palästinensischen Autonomiebehörde. Mit der Hamas steht er schon länger auf Kriegsfuß, so warf sie ihm 2018 vor, einen ihrer Ingenieure getötet zu haben.
In Gaza-Stadt gibt es den Dogmoush-Clan. Lokale Stimmen berichten auch bei ihm von Kriminalität: So hätten sich Mitglieder der Familie während des Krieges verlassene Häuser unter den Nagel gerissen. Kämpfe zwischen den Dogmoushs und der Hamas direkt nach Beginn der Waffenruhe führten zu Dutzenden Toten, darunter mindestens eine Frau und ein Kind.
Zudem bewegen sich in Teilen Gaza-Stadts die „Shujaya Popular Defense Forces“ unter dem Kommando von Rami Hilles. Auch er soll Fatah-nah sein, unabhängig bestätigt ist das aber nicht. Ganz im Norden des Küstenstreifens, ebenfalls hinter der israelischen Rückzugslinie, gibt es schließlich noch die sogenannten Popular-Army Northern Forces unter dem Kommando von Ashraf al-Mansi.
Bei allen diesen Gruppen wird zumindest spekuliert, dass sie von Israel unterstützt werden. Premier Benjamin Netanjahu hatte im Frühsommer zugegeben, das man Anti-Hamas-Kräfte in Gaza „aktiviert“ habe. Manche Analysten sehen die Gefahr, dass zwischen den Milizen und der Hamas ein handfester Bürgerkrieg entbrennen könnte. Dagegen spricht jedoch, dass die Hamas seit Beginn der Waffenruhe mit ihrem harten Vorgehen die Oberhand behalten konnte.
Nach Wunsch europäischer Staaten und wie auch im Trump-Plan vorgesehen, soll die Palästinensische Autonomiebehörde einmal die Kontrolle über Gaza übernehmen. Derzeit gelänge das nicht wirklich. Bevor es also irgendeine Bewegung in Richtung dauerhaften Friedens im Gazastreifen geben kann, müssen die Verhandlungen in Phase zwei eine tatsächliche Entmachtung der Hamas ergeben.
Doch die Hamas distanzierte sich jüngst mehrmals öffentlich von diesem Schritt. Und auch den Vermittlern scheint bewusst zu sein, dass es nicht gelingen wird, der Hamas jede einzelne Handfeuerwaffe abzunehmen. Stattdessen wolle man sich auf die Tunnel konzentrieren.
Mitarbeit: Hisham Al-Masri
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