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Über den Machtwechsel in Bolivien„Die Frage ist, ob die Linke sich neu erfinden kann“

Nach zwei Jahrzehnten linker Regierung stehen sich bei Boliviens Stichwahl zwei Rechte gegenüber. Die Schriftstellerin Quya Reyna über die Gründe.

Die Schriftstellerin Quya Reyna, eine literarische Stimme der jungen Generation in Bolivien Foto: Daniel Alejandro Quiroga Miranda

Interview von

Tobias Lambert

taz: In der Stichwahl am Sonntag stehen sich zwei rechte Kandidaten gegenüber. Droht Bolivien damit eine Rückkehr in die neoliberalen 1990er Jahre?

Quya Reyna: Beide Kandidaten kommen aus der Rechten. Dennoch scheint es erneut eine Polarisierung zwischen links und rechts zu geben. Jorge Quiroga wirft seinem Kontrahenten Rodrigo Paz von der Christdemokratischen Partei (PDC) vor, Sozialismus und eine Art neuer, verkleideter MAS zu repräsentieren. Das ist natürlich Blödsinn. Die PDC ist eine rechte Partei mit einem rechten Diskurs. In der Stichwahl gibt es keine linke Option. Dennoch unterscheiden sich die beiden Kandidaten voneinander.

Im Interview: Quya Reyna

stammt aus El Alto und ist Schriftstellerin. 2022 feierte sie mit ihrem Kurzgeschichten-Band „Los Hijos de Goni“ („Die Kinder von Goni“) Erfolge, vor allem bei jüngeren Leser:innen. Derzeit arbeitet sie an Projekten zu Identität, Kommunikation und politischen Prozessen in Bolivien.

taz: Inwiefern?

Reyna: Quiroga ist tatsächlich ein klassischer Neoliberaler aus der traditionellen Elite. Er propagiert Konzepte der 1990er Jahre wie Privatisierungen, den Rückzug des Staates oder die Steigerung agroindustrieller Sojaproduktion. Nicht mehr der Staat soll die Rohstoffe verwalten, sondern alle Bo­li­via­ne­r:in­nen sollen zu Aktionären der Rohstoffunternehmen werden. Es ist natürlich ein Irrweg zu glauben, dass die Bevölkerung als Ganze davon profitieren würde. Aber so will Quiroga Privatisierungen legitimieren.

taz: Und Rodrigo Paz?

Reyna: Rodrigo Paz ist nicht gegen den Kapitalismus. Aber er betont, dass nicht nur die traditionelle Elite davon profitieren soll. Das spricht vor allem die ehemalige Anhängerschaft der MAS an, die dank eines linken Transformationsprozesses heute zur Mittelschicht gehört. Dort kommt das Versprechen eines „Kapitalismus für alle“ gut an. Es liegt auf der Hand, dass in einem kapitalistischen System immer einige mehr profitieren als andere. Viele Menschen haben aber das Gefühl, mit Paz für Wohlstand zu votieren, ohne sich an der kleinen weißen Oberschicht orientieren zu müssen, die Qiroga repräsentiert. In der Mittelschicht und auch in ärmeren Gegenden hat Paz damit mehr Rückhalt als Quiroga mit seinem rein neoliberalen Diskurs.

taz: Wie konnte es dazu kommen, dass die MAS, die 20 Jahre lang weitgehend die Politik Boliviens dominierte, keine Rolle mehr spielt?

Reyna: Ein wichtiger Grund liegt in der Spaltung der Partei in drei Blöcke. Da sind zunächst der aktuelle Präsident Luis Arce auf der einen und Ex-Präsident Evo Morales auf der anderen Seite. Ein dritter Block hat sich später um Andrónico Rodríguez formiert, der lange Zeit als aussichtsreicher Kandidat aus dem Spektrum der MAS galt und bei der Wahl mit 8,5 Prozent auf dem vierten Platz landete. Es gibt aber auch andere Faktoren.

taz: Welche sind das?

Reyna: Über die Jahre hat die MAS vor allem über die Stärkung indigener Identität Hegemonie herstellen können. Dazu gehörte, in einem plurinationalen Staat die Indigenen als politische Subjekte anzuerkennen und indigene, kommunitäre Produktionsweisen zu stärken. In den vergangenen Jahren haben die MAS und Evo Morales aber kein gutes Bild mehr abgegeben. Es gab Korruptionsfälle, machistische Verhaltensweisen und das Wirtschaftsmodell geriet in die Krise. Die Wirtschaftskrise ist der Hauptgrund, warum die Kandidaten der Linken so schwach abgeschnitten haben.

taz: Evo Morales leitete in Bolivien einen tief greifenden Transformationsprozess ein, der sich an indigenen Wertvorstellungen orientierte. Stellt die Wirtschaftskrise den ganzen Prozess des Wandels in Frage?

Reyna: Das politische und wirtschaftliche Transformationsprojekt hatte enorme soziale Auswirkungen. Ein beträchtlicher Teil der verarmten, häufig indigenen Unterschicht aus dem ländlichen Raum konnte zwischen 2006 und 2019 in die Mittelschicht aufsteigen. Das lag vor allem an der Umverteilungspolitik, die auf der Nationalisierung der Erdöl- und Gasindustrie 2006 basierte. Die staatlichen Einnahmen aus dem Verkauf der fossilen Energieträger gab die Regierung in Form von Sozialprogrammen, Bonuszahlungen, Lohnerhöhungen und günstigen Krediten an die Bevölkerung weiter. Die Menschen fühlen sich von der MAS aber nicht mehr repräsentiert.

taz: Wie kommt es zu dieser Entfremdung von der MAS?

Reyna: Zum einen hat die MAS es weder geschafft, ihr politisches Modell zu erneuern, noch einen Generationswechsel einzuleiten. Evo Morales ist immer noch der mit Abstand populärste linke Politiker. Zum anderen richtet sich das Angebot der MAS nach wie vor an das politische Subjekt von Anfang der 2000er Jahre, den Indigenen im ländlichen Raum. Diese forderten damals Reformen und eine grundlegend andere Politik. Sie waren es, die der Regierung Morales durch massive Straßenproteste gegen die neoliberale Politik den Weg ebneten. Heute steht die einstige Anhängerschaft des Transformationsprozesses aber als direktes Ergebnis der MAS-Politik wirtschaftlich besser da. Das verändert die politischen Rahmenbedingungen grundlegend.

taz: Was meinen Sie damit?

Reyna: Wer sozial aufgestiegen ist, will nicht wieder arm werden. In der unteren oder sogar oberen Mittelschicht angekommen, streben viele einen weiteren sozialen Aufstieg an. Und den trauen sie unter den derzeitigen Bedingungen eher einem rechten als einem linken Kandidaten zu, obwohl sie früher selbstverständlich die MAS gewählt haben. Das heißt nicht, dass die sozial aufgestiegenen Indigen heute rechts sind. Aber sie waren in vielen Fällen eben auch nie links im Sinne des sozialistischen Regierungsdiskurses. Die Leute wollen einfach wirtschaftliche Verbesserungen.

taz: Sie gelten literarisch auch als Stimme der jüngeren Generation. Wie blicken denn die Jüngeren auf die politische Lage im Land?

Reyna: Die jüngeren Menschen sind mit Evo Morales an der Macht aufgewachsen und definieren ihr Verhältnis zum Staat über dessen politische Führung. Indigene Identität spielt auch nicht mehr eine so große Rolle. Die „Kinder des Transformationsprozesses“ sind heute verärgert über den Staat, sie nehmen ihn nicht als ausgleichend und gerecht wahr. Etwas Ähnliches ist in Argentinien passiert, wo Javier Milei vor allem bei jungen Menschen beliebt ist. In den sozialen Medien, wo sich die Jüngeren maßgeblich politisch betätigen, spielt die MAS keine große Rolle. Antistaatliche Diskurse haben hier viel mehr Rückhalt. Und gerade weil die jüngeren Leute fast nur die MAS an der Macht kennen, wirken die rechten Kandidaten interessant auf sie. Einfach, weil sie für etwas anderes stehen.

taz: Welche Perspektiven ergeben sich angesichts des zu erwartenden Rechtsrucks für linke, indigene und kleinbäuerliche Bewegungen?

Reyna: Da die MAS und andere Linke im Parlament kaum Sitze gewinnen konnten, spielen sie auf institutioneller Ebene in den nächsten Jahren praktisch keine Rolle. Es gibt aber indigene und linke Sektoren, die weiterhin über eine hohe Mobilisierungsfähigkeit verfügen, um mit Straßenblockaden und Protesten Einfluss auf die Politik zu nehmen. Dazu zählt zweifellos auch Evo Morales. Die nächsten fünf Jahre könnten also zu verschärften Konflikten führen. Die Frage ist, ob die Linke sich neu erfinden kann. Kurzfristig ist eher davon auszugehen, dass Morales über eine Parteineugründung nochmal versucht, an die Regierung zurückzukehren. Aber der heutige Morales repräsentiert auch nicht mehr die klassische Linke. Vielmehr versucht er sich als „jenseits von Links und Liberal“ darzustellen. Neue Führungsfiguren in der Linken werden sich vermutlich erst in den nächsten fünf bis zehn Jahren herausbilden.

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