Ökonomin zur Lage in Deutschland: „Ohne Wachstum geht's schneller Richtung Autoritarismus“
Dass Deutschlands Wirtschaft schwächelt, bedroht die Demokratie, sagt die Ökonomin Nicola Fuchs-Schündeln – und macht Vorschläge.
taz: Frau Fuchs-Schündeln, Deutschland ist seit drei Jahren in der Rezession, der Internationale Währungsfonds rechnet für 2026 mit weniger als einem Prozent Wirtschaftswachstum trotz massiver staatlicher Investitionen in Rüstung und Infrastruktur. Muss sich Deutschland auf dauerhaftes Nullwachstum einstellen?
Nicola Fuchs-Schündeln: Das können wir nicht.
taz: Vielleicht müssen wir?
Fuchs-Schündeln: Wir sollten uns lieber fragen: Wie bekommen wir wieder mehr Wachstum? Denn bleibt das aus, ist der gesellschaftliche Frieden in Gefahr. Wir wissen aus der Forschung: Demokratie ist gut für Wirtschaftswachstum, aber Wirtschaftswachstum ist auch gut für die Demokratie. Wenn wir langfristig kein Wachstum hätten, bekämen wir ein ernsthaftes Problem.
Die Makroökonomin leitet seit 2024 das Wissenschaftszentrum für Sozialforschung Berlin. Davor lehrte sie unter anderem an den Universitäten Harvard und Stanford.
taz: Demokratie geht in der Bundesrepublik nur mit Wirtschaftswachstum?
Fuchs-Schündeln: Ich glaube, langfristig ist das so. Die Zufriedenheit mit den öffentlichen Gütern und mit dem Handeln des Staates ist wichtig für die Unterstützung der Demokratie. Das ist das Problem: Wir haben in den letzten Jahrzehnten in Deutschland die öffentlichen Güter vernachlässigt. Investitionen in Straßen, Schiene, Schulen fehlten. Auch deshalb wird der Staat als handlungsunfähig wahrgenommen.
taz: Aber stimmt dieser Zusammenhang zwischen Autoritarismus und Wirtschaftswachstum? China und die USA haben Wirtschaftswachstum.
Fuchs-Schündeln: Wir erleben im Moment weltweit eine populistische, autoritäre Welle, und der Mangel an Wachstum ist nicht der einzige Grund. Aber wenig Wachstum bedeutet härtere Verteilungskämpfe. Die Antimigrationsrhetorik gewinnt an Boden, wenn öffentliche Güter knapp sind und das Gefühl wächst, dass „die Migranten uns das Geld wegnehmen“. Wirtschaftswachstum dämpft solche Stimmungen. Ich bin felsenfest überzeugt, dass es schneller in Richtung Autoritarismus geht, wenn Wirtschaftswachstum ausbleibt.
taz: Friedrich Merz ist überzeugt, dass die Viertagewoche und Work-Life-Balance Wirtschaftswachstum und Wohlstand in Deutschland bedrohen. Hat er recht?
Fuchs-Schündeln: Je weniger gearbeitet wird, desto weniger produzieren wir. Insofern stimmt das. Für Wohlstand ist aber das Produktivitätswachstum viel entscheidender – also wie viel wir in einer Stunde herstellen. Das ist zu niedrig.
taz: Warum?
Fuchs-Schündeln: Wegen Deutschlands Rückstand bei der Digitalisierung. Der Kapitalstock von Informations- und Kommunikationstechnologien hat sich bei uns in den letzten drei Jahrzehnten verdreifacht, in den USA aber verzehnfacht. Das ist einer der Hauptgründe, warum das Produktivitätswachstum in Europa so viel niedriger ist als in den USA. Ich fürchte, das wird mit der künstlichen Intelligenz so weitergehen.
taz: Was empfehlen Sie also?
Fuchs-Schündeln: Uns fehlt eine Zukunftsvision: Was kann uns in zwei Jahrzehnten tragen? Das wird nicht die Automobilindustrie sein. Wir brauchen mehr Risikofreude bei den Unternehmen, Arbeitnehmern und in der Regierung. Deutschland muss deregulieren und die überbordende Bürokratie herunterfahren. Die Gesetze und Maßnahmen haben für sich meist gute Ziele, das macht Deregulierung so schwierig. Aber die Regelungsdichte insgesamt hat enorme Kosten.
taz: Die deutsche Wirtschaft leidet auch an Arbeitskräftemangel.
Fuchs-Schündeln: Wenn Friedrich Merz den Mangel an Arbeitskräften kurzfristig beheben will, sollte er sich auf die Frauen konzentrieren.
taz: Weil Frauen weniger arbeiten als Männer?
Fuchs-Schündeln: Die Erwerbstätigenquote von Frauen ist in Deutschland hoch, da sind wir nicht schlechter als andere europäische Länder. Aber die Arbeitsstunden sind niedrig. Zwei entscheidende Faktoren für die Frauenerwerbstätigkeit sind Mutterschaft und Normen. Es gibt immer noch die sogenannte Motherhood-Penalty. Das heißt: Frauen verdienen nach der Mutterschaft deutlich weniger als vorher. Nicht nur in den ersten Jahren, sondern langfristig. In Deutschland verdienen Mütter zehn Jahre nach der Geburt des ersten Kindes im Durchschnitt 60 Prozent weniger als im Jahr vor dieser Geburt.
taz: Weil sie Teilzeit arbeiten?
Fuchs-Schündeln: Das ist der Hauptgrund. Diese Motherhood-Penalty ist in Deutschland und Österreich sehr groß, weniger groß in den angelsächsischen und am niedrigsten in skandinavischen Ländern.
taz: Liegt das an fehlender Kinderbetreuung?
Fuchs-Schündeln: Nicht ausschließlich, dann würden die USA nicht deutlich besser dastehen als Deutschland und Österreich. Entscheidend sind Gendernormen. Die müssen wir verändern.
taz: Was heißt das konkret?
Fuchs-Schündeln: Es ist immer noch die Norm, dass der Mann voll arbeitet und das Gehalt nach Hause bringt. Und von der Frau wird erwartet, dass sie hauptverantwortlich für die Kindererziehung ist. Das schlägt sich im Verhalten nieder, weil Normen zu brechen mit konkreten Kosten verbunden ist. Es gibt zum Beispiel Forschungen, die zeigen, dass beruflicher Erfolg für Frauen die Scheidungswahrscheinlichkeit erhöht. Und für Männer eben nicht.
taz: Wie erklären Sie das?
Fuchs-Schündeln: Da wird mit den Normen gebrochen. Und das erhöht Konflikte in der Außenwelt und in den Ehen.
taz: Weil Männer es immer noch nicht ertragen können, wenn Frauen erfolgreicher sind als sie?
Fuchs-Schündeln: Es ist halt nicht die Norm. Und Frauen verinnerlichen das. Wenn Frauen anfangen, mehr zu verdienen als ihre Männer, dann machen sie wieder mehr Hausarbeit, um das zu kompensieren. Sie wissen um die Kosten und reagieren darauf. Das findet man in den USA und in Westdeutschland. In Ostdeutschland trifft es nicht zu. Das ist auch ein Grund, warum viel mehr Frauen als Männer Beförderungen ablehnen. Sie wissen, dass das für sie risikoreicher und mit mehr Kosten verbunden ist. Es gibt sehr viele talentierte Frauen, die ihre Fähigkeiten nicht entsprechend in den Arbeitsmarkt einbringen. Das ist schlecht für das Wirtschaftswachstum und sollte der Regierung nicht egal sein.
taz: Kann man das ändern?
Fuchs-Schündeln: Die soziologische Forschung zeigt, dass Politikmaßnahmen nicht nur finanzielle Anreize setzen, sondern auch Normen verändern können. Das Elterngeld etwa wird ein Jahr bezahlt. Damit signalisiert der Staat, es ist okay, wenn man ein einjähriges Kind in die Krippe gibt. Es ist also nicht nur ein finanzieller Anreiz, sondern auch ein Signal, was gesellschaftlich akzeptabel ist. Ich habe Forschung zum Ehegattensplitting gemacht. Das ist ein deutsches Spezifikum, das es in anderen Ländern nicht oder nicht in diesem Maße gibt. Es stärkt die alte Norm. Ich würde empfehlen, es abzuschaffen.
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taz: Die Diskussion über das Ehegattensplitting gibt es seit Jahrzehnten. Warum tut sich da nichts?
Fuchs-Schündeln: Es wäre eine relativ komplizierte Reform. Wenn man das Ehegattensplitting einfach abschafft und alle so besteuert wie Ledige, müsste ein sehr großer Teil der Bevölkerung mehr Steuern zahlen. Es gäbe einen öffentlichen Aufschrei. Man müsste diese Abschaffung also in eine größere Steuerreform verpacken, in der man die Arbeitsanreize verändert, aber die Steuereinnahmen nicht erhöht. Das ist kompliziert, aber möglich. Hinzu kommt, dass auch viele Politiker und Parlamentarier vom Ehegattensplitting profitieren. Großbritannien hat das Ehegattensplitting abgeschafft, langsam und schrittweise zwischen 1990 und 2000. Das hat ohne große politische Proteste funktioniert.
taz: Es ist also eine Frage des Wollens?
Fuchs-Schündeln: Auch vielen Politikern ist inzwischen klar, dass dies ein Hebel wäre, um den Arbeitskräftemangel zu mildern. Aber der politische Wille, dies anzugehen, ist noch nicht da.
taz: Ein anderes Problem ist die starke Ungleichheit bei Vermögen. Sollte man die Erbschaftssteuer erhöhen?
Fuchs-Schündeln: Wir brauchen keine höhere Erbschaftssteuer, aber eine breitere Bemessungsgrundlage. Sehr große Vermögen werden zu oft verschont. Die Erbschaftssteuer zahlt hauptsächlich die obere Mittelschicht. Die sehr Reichen vermeiden dies oft mit raffinierten Konstrukten.
taz: Familienunternehmen argumentieren, dass Erbschaftssteuern ihre Firmen ruinieren würden. Ist da was dran?
Fuchs-Schündeln: Das Problem lässt sich lösen, indem man die Erbschaftssteuer für Unternehmen über zehn Jahre streckt.
taz: Warum ist es dann so schwierig, eine effektivere Erbschaftssteuer durchzusetzen?
Fuchs-Schündeln: Das hat wahrscheinlich mit Lobbyarbeit zu tun.
taz: Es gibt beim Vermögen eine krasse Teilung zwischen Ost und West.
Fuchs-Schündeln: Ja. Vereinfacht gesagt: Ostdeutschland hatte 1990 faktisch kein Vermögen. Vermögensunterschiede lassen sich, anders als Einkommensunterschiede, nur sehr langsam abbauen. Sie akkumulieren sich eher. Reichtum und auch Erfahrungen mit Vermögen werden über die Generationen vererbt. Im Westen investiert man zum Beispiel mehr in Aktien als im Osten.
taz: Welche politischen Auswirkungen hat das?
Fuchs-Schündeln: Es gab zuletzt viele Krisen, von der Finanzkrise über Corona bis zum Ukrainekrieg und der Inflation. Im Osten werden Krisen stärker als fundamentale Verunsicherung begriffen. Das hat auch damit zu tun, dass Vermögen gerade in Krisenzeiten ein Sicherheitsnetz bedeutet. Dieses Netz ist im Westen viel dichter als im Osten. Wahrscheinlich ist die größere Attraktivität der AfD im Osten auch eine Folge der geringeren Vermögen.
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