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Widerstand im NationalsozialismusDer Retter im Gefangenenlager

Die Gedenkstätte Yad Vashem ehrt den Arzt Hans-Georg Früchte posthum als „Gerechten unter den Völkern“. Er hatte Juden in der Ukraine vor dem Tod bewahrt.

Yad Vashem-Feierstunde zu Ehren der „Gerechten unter den Völkern in der Bayrischen Landesvertretung Foto: Annette Riedl/dpa

Da praktiziert einer als Arzt auf dem Dorf. Jahrein, jahraus kümmert er sich um angeknackste Füße, eine hartnäckige Bronchitis, auch um ernste Erkrankungen. Er fährt zu Hausbesuchen, wenn jemand sich nicht mehr in der Lage fühlt, in die Praxis zu kommen, so wie es damals üblich war, auch in der Nacht. Hans-Georg Früchte war so ein Mann. Er hatte seine Hausarztpraxis in der Gemeinde Sulzemoos im oberbayerischen Landkreis Dachau. Ein „Arzt vom alten Schlag“, so hat ihn die Lokalzeitung einmal genannt. „Sehr offen, sehr direkt“ sei der 2011 im Alter von 95 Jahren verstorbene Vater gewesen, erinnert sich seine Tochter Tatjana.

Und doch hatte der Mann ein Geheimnis. Hans-Georg Früchte, geboren 1915, wurde als junger Arzt zur Wehrmacht eingezogen. Zunächst diente er im besetzten Frankreich. 1941 wurde er in die von den Deutschen eroberte Ukraine versetzt und kam in einem der berüchtigtsten Kriegsgefangenenlager zum Einsatz: Dem Dulag (Durchgangslager) 160, das sich damals in der Nähe von Chorol befand.

Bis zu hunderttausend Menschen sind dort in etwa zwei Jahren umgebracht worden. Insgesamt 3,3 von fünf Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen verhungerten oder starben an Krankheiten. Über das Lager habe der Vater nie gesprochen, sagt seine Tochter. Das einzige, was an die Zeit dort erinnerte, war ein von Hand geschnitztes Schachspiel, das er von einem der Gefangenen als Geschenk erhalten hatte und das er in seiner Wohnung in Sulzemoos aufbewahrte.

„Gleichgültigkeit ist keine Option“

Am Freitagnachmittag im Lichthof der bayerischen Landesvertretung in Berlin steht vor einem gewaltigen Foto einer Alpenlandschaft Ron Prosor, Botschafter des Staates Israel, und würdigt Hans-Georg Früchte. „Jeder Mensch kann sich, auch unter schwierigen Bedingungen, für das Richtige entscheiden“, sagt Prosor. „Gleichgültigkeit ist keine Option, nicht gestern, nicht heute, nicht morgen.“

Der bayerische Staatsminister Florian Herrmann (CSU) ist gekommen, auch er würdigt Früchte. Der Arzt aus Sulzemoos erhält heute von der Jerusalemer Gedenkstätte Yad Vashem die höchste Auszeichnung, die der Staat Israel vergibt. Hans-Georg Früchte wird posthum der Titel „Gerechter unter den Völkern“ verliehen, weil er selbstlos und unter höchster Gefahr Juden im Holocaust vor der Ermordung geschützt hat. Er ist damit einer von 28.486 weltweit Geehrten, darunter 679 Deutschen. Verbunden ist die Auszeichnung mit der Übergabe einer Medaille und einer Urkunde an die Nachkommen. Deshalb sind Tatjana und Maximilian Früchte und weitere Verwandte anwesend.

Im Archiv des Münchner Instituts für Zeitgeschichte liegt eine Zeugenaussage. Die Schreibmaschinenschrift ist nicht einfach zu lesen. Zwei Jahre nach Kriegsende waren die Amerikaner auf der Suche nach Verantwortlichen für die Nazi-Verbrechen. Am 21. Oktober 1947 wurde in Nürnberg Henryk Schechter vernommen, ein 1908 in Lemberg geborener Jude. Als Rotarmist geriet er im September 1941 in der Kesselschlacht von Charkiw in deutsche Gefangenschaft und kam in das Dulag 160. In Lagern wie diesen wurden die Juden von den anderen Gefangenen getrennt und später ermordet, etwa 80.000 sind insgesamt so getötet worden.

Dr. Hans-Georg Früchte, hat als Arzt der Wehrmacht jüdischen Gefangenen zur Rettung und Flucht verholfen Foto: privat

Aber Schechter, der sich als christlicher Russe ausgab, berichtet gegenüber dem Vernehmer nicht nur von Massenmorden der Deutschen, sondern auch etwas anderes. Es habe da im Lazarett des Lagers einen Arzt gegeben, Dr. Früchte mit Namen, der habe gegenüber seinem Vorgesetzten, dem Lagerleiter Viktor Lepple, protestiert, weil der Juden „buchstäblich zu Krüppel geschlagen“ habe. Und nicht nur das.

Früchte verhalf jüdischen Gefangenen zur Flucht

Schechter berichtet, dass er an Fleckfieber erkrankt sei und ins Lazarett kam. Dort lernte er Dr. Früchte und einen weiteren Arzt kennen. „Da hatte ich schon hohes Fieber, und da habe ich ihm gesagt, dass ich kein Russe, sondern Jude bin, Von da an hat er mich die ganze Zeit gedeckt.“ Und Schechter erzählt laut dem Protokoll der Vernehmung: „Sie haben viele Juden gedeckt.“

Früchte verhalf jüdischen Gefangenen zur Flucht. Er besorgte falsche Papiere. Beschneidungen jüdischer Gefangener korrigierte er so, dass diese nicht mehr als Juden kenntlich waren. Er hat mit seiner uneigennützigen Hilfe enorme Risiken auf sich genommen. Die Hilfen blieben offenbar nicht unentdeckt. Früchte wurde an die Front geschickt.

Es muss in den ersten Nachkriegsjahren gewesen sein, da besuchte Henryk Schechter den Arzt, der inzwischen seine Praxis in Sulzemoos eröffnet hatte. Danach verlor sich der Kontakt. Wieder viele Jahrzehnte später, nach dem Tod ihres Vaters 2011, entdeckte die Tochter Tatjana eine Mappe mit Papieren im Nachlass. Es waren Zeugenaussagen von Menschen darunter, denen Früchte geholfen hatte. Der Vater hatte die Papiere offenbar benötigt, weil er beweisen sollte, an keinen Verbrechen beteiligt gewesen zu sein. Tatjana Früchte beschloss, die Angelegenheit Yad Vashem zu übergeben.

Hilfe für verfolgte Juden selbst in der Wehrmacht

In der bayerischen Landesvertretung ist es soweit. Nach den Reden des Staatsministers und des Botschafters überreicht Prosor Urkunde und Medaille von Yad Vashem an den Enkel Maximilian Früchte. Es ist ein feierlicher Moment

Dann spricht Tatjana Früchte. Der Vater sei in seiner Jugend ein begeisterter Leichtathlet gewesen und habe sogar die Qualifikation zur Teilnahme an den Olympischen Spielen 1936 in Berlin erreicht, erzählt sie. Doch weil er seinen Mund nicht habe halten können, durfte er dann doch nicht teilnehmen. Nach dem Medizinstudium wurde er zur Wehrmacht eingezogen. Und wieder habe er seine Klappe nicht halten können und sei deshalb in Frankreich bei Beförderungen übergangen worden.

Einmal, erinnert sich Tatjana Früchte, habe sie den Vater gefragt, ober er im Krieg einen Menschen getötet habe. „Ich helfe den Menschen. Ich nehme kein Leben“, habe der geantwortet. „Er hat seine Menschlichkeit bewahrt“, sagt die Tochter über ihren Vater.

Magdalena Große

Neben Hans-Georg Früchte wurde am Freitag auch Magdalena Große posthum der Titel einer „Gerechten unter den Völkern“ zuerkannt. Große rettete ihrer Schwägerin, die jüdische Augenärztin Else Steinert, das Leben. Nach dem Tod ihres nichtjüdischen Ehemanns war diese akut von der Deportation bedroht. Magdalena Große versteckte Steinert von Februar 1944 bis zur Befreiung durch die Amerikaner in ihrem Haus im bayerischen Krailling und versorgte sie mit Lebensmitteln.

Hans-Georg Früchte ist der Beweis dafür, dass Hilfe für die verfolgten Juden möglich war, selbst in der Wehrmacht, sogar in einem Gefangenenlager. Seine Geschichte straft der Behauptung lüge, dass man nichts gegen die Nazis habe machen können. In Sulzemoos sind sie stolz auf ihren früheren Hausarzt. Bürgermeister Johannes Kneidl sagte schon im Januar vergangenen Jahres der Lokalzeitung: „Das ist eine tolle Sache, auch für die Gemeinde.“

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