Behindertenforschung: Inklusion wird eingespart
Das Zentrum für Disability Studies in Hamburg soll zum Jahresende geschlossen werden. Damit geht Wissen betroffener Menschen verloren.

I n Hamburg wird das Zentrum für Disability Studies (ZeDiSplus) nicht mehr durch den Senat gefördert – und zum Ende des Jahres geschlossen. In Köln ist die Internationale Forschungsstelle für Disability Studies (iDIS) von starken Kürzungen bedroht. Zwei von ohnehin nur drei solcher Institute in Deutschland sind damit gefährdet – mit insgesamt drei Lehrstühlen und weniger als zehn Lehrenden und Forschenden auf dieser Ebene.
Sehr wenig im Vergleich zu den Menschen in Deutschland, die mit einer Beeinträchtigung leben. Rund 15 Prozent der Bevölkerung hat eine Behinderung oder einen gleichgestellten Status. Disability Studies sind also, gemessen am Gesamtanteil behinderter und auf irgendeine Weise beeinträchtigter Menschen, im deutschen Hochschulraum strukturell dramatisch unterrepräsentiert. Warum?
Disability Studies thematisieren Behinderung auf eine für Deutschland ungewohnte Weise: Behinderung ist kein Mangel der einzelnen behinderten Person, sondern ein Mangel der Gesellschaft, der Kultur und des Wissens. Veränderung, Heilung oder Therapie gebührt daher der Gesellschaft, der Kultur und dem Wissen, auch dem an universitären Einrichtungen.
Maßgeblich dafür ist das Wissen behinderter Menschen, jenem Teil der Bevölkerung also, der am besten darüber berichten kann. Daher ist Barrierefreiheit des akademischen Betriebs und seiner Rahmenbedingungen Voraussetzung für Disability Studies. Leitungskompetenz und Themendefinition liegt in den Händen behinderter Menschen. Das ist der Unterschied zu Sonderpädagogik oder sozialer Arbeit, wo Themen und Interessendefinitionen vor allem von nichtbehinderten Personen gesetzt werden.

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Grundlage der Behindertenrechtskonvention
International gelten Disability Studies daher als theoretische Grundlage beispielsweise für die UN-Behindertenrechtskonvention. Im angelsächsischen akademischen Raum existieren Hunderte von Disability-Studies-Programmen – in Deutschland gibt es nur drei Institute. Dafür aber weit über 1.000 gut dotierte akademische Stellen für Sonderpädagogik und verwandte Disziplinen.
Das heute noch weitgehend selbstbestimmte ZeDiSplus als freie Lehr-, Forschungs- und Bildungsinstitution wird also im Dezember geschlossen. Gleichwohl sollen Disability Studies voraussichtlich ab 2028 an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg (HAW) fortgeführt werden. Dort sollen die Disability Studies mit dem sonderpädagogisch motivierten Bereich der Ausbildung von „Bildungsfachkräften“ konzeptionell verschmelzen.
Von ZeDiSPlus ist keine Rede mehr. Differenzierungslos soll alles, was mit dem Themenfeld Inklusion und Hochschule zu tun hat, in die HAW verschoben werden. Angeblich sollen die behinderten Mitarbeiter*innen vom ZeDiSplus an diesem Prozess auch beteiligt sein. Nur weiß davon bei ZeDiSplus niemand etwas. Der Hamburger Senat agiert paternalistisch ohne Konzept, Zeitplan oder Meilensteine.
Eine transdisziplinäre Querschnittsdisziplin, die ungleiche Machtverhältnisse aufheben will, wird wiederholt unter die Aufsicht etablierter Disziplinen gestellt. Jene Disziplinen haben ihr Recht, aber wir verwahren uns gegen ihre Herrschaft über die Disability Studies. Dies alles ist auch für die HAW unkomfortabel, denn die findet sich plötzlich in der Rolle der Totengräberin der Disability Studies wieder. Wird sie sich als willige Vollstreckerin erweisen? Oder zeigt sie Rückgrat und solidarisiert sich mit dem ZeDiSplus?
Unbequem und teuer
Die Antwort liegt in der klassischen Machtpolitik des Divide et impera, des Teilens und Herrschens – nur eben wissenschaftspolitisch verpackt. Zum einen werden die berechtigten Interessen behinderter Menschen gegeneinander ausgespielt: Bildungsfachkräfte werden kostenneutral gefördert, Disability Studies finanziell ausgetrocknet.
Zugleich werden Disability Studies von den ideentheoretisch vergleichbaren Gender Studies separiert: Letztere werden in Hamburg über hochschulübergreifende Verträge dauerhaft abgesichert, Disability Studies nicht. Das Drehbuch ist altbekannt: Erst marginalisieren, dann isolieren, schließlich delegitimieren und abschaffen. Was als Sparmaßnahme daherkommt, könnte bundesweit Schule machen.
Die Ironie ist perfekt: Ausgerechnet Rot-Grün, das sich bei jeder Gelegenheit Inklusion und Menschenrechte auf die Fahnen schreibt, beseitigt deren wissenschaftliche Grundlage. Damit wird die wissenschaftliche Autonomie und Sichtbarkeit einer von behinderten Menschen gegründeten und über 20 Jahre getragenen Hochschuleinrichtung der fiskalischen Opportunität geopfert.
Die geplante Schließung des ZeDiSplus ist mehr als ein lokaler Wissenschaftsskandal – sie markiert den Beginn einer systematischen Demontage kritisch-emanzipatorischer Wissenschaftsansätze in Deutschland. Disability Studies bilden den Anfang, weil sie das vermeintlich schwächste Glied in der Kette der Critical Studies darstellen. Gender Studies, Queer Studies, Critical Race Studies sollten die Ereignisse als Warnsignal verstehen.
Kein Vertrauen in progressive Parteien
In Zeiten des rechtslastigen Backlash können sie sich nicht mehr auf traditionelle Bündnisse mit vermeintlich progressiven Parteien verlassen, die in Krisenzeiten reflexartig zu traditionellen paternalistischen Mustern zurückkehren.
Aber auch kritisches Denken außerhalb dieser Disziplinen, wie es in Geistes- und Sozialwissenschaften prägend ist, wird durch diese Politik bedroht. Wir haben daher eine Petition zum Erhalt der Disability Studies aufgesetzt und wünschen uns, dass viele Menschen diese unterzeichnen.
Es müssen solidarische Bündnisse und politische Freundschaften geschlossen werden, wir müssen ankämpfen gegen die Versuche, uns zu separieren und zu segregieren. Ist das kleinste Glied in der Kette bedroht, müssen es alle schützen, ehe sich der Brandherd zum Flächenbrand entwickelt. Es ist höchste Zeit für Widerstand – bevor es zu spät ist.
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