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Dankesrede zum Ovid-Preis 2025Die Götter, die Stasi und das Prinzip Willkür

Der Schriftsteller Marko Martin lernte durch Zeugen Jehovas in der DDR, dass es eine bunte Welt gibt. Die taz dokumentiert seine Rede zum Ovid-Preis.

Lust und Leiden: das Gemälde „Göttermahl“ von H. van Balen Foto: akg/picture alliance

Meine Damen und Herren, liebe Freunde und Freundinnen,

woher kam es wohl, dass der Junge von einst Gustav Schwabs „Die schönsten Sagen des klassischen Altertums“ – wie vermutlich auch bei vielen von Ihnen eine Art Erstbegegnung mit Ovids Welt – zuerst mit Faszination und dann durchaus mit Schrecken las? Was für ein Gewimmel an Gestalten, Menschen und Göttern und Dazwischen-Wesen und wie undurchschaubar die abrupt wechselnden Verhältnisse zwischen ihnen!

Das schlug und webte und lockte und schrie und klagte und gebar und starb und kopulierte (Letzteres freilich eher züchtig umschrieben in jenen jugendfreien Versionen), dass es eben nicht nur eine Lese-Freude war, sondern alsbald, von Geschichte zu Geschichte, auch diese Fragen provozierte: Und wo blieb das Mitleid, wo der Schutz der Schwächeren, wo die Möglichkeit, sich all diesen Verwandlungen/Metamorphosen zu entziehen, die da nach den arbiträren Launen der Götter und Göttinnen pausenlos verfügt wurden?

Gut, man könnte sagen: Der junge Leser war eben noch nicht reif für die Akzeptanz jener Ambivalenz, die sich jedes Mal offenbarte, wenn der Göttervater kindisch wurde, die Göttin der Weisheit von kleinlicher Rachsucht getrieben war und selbst die mit Musik und Liebe assoziierten himmlischen Wesen zu Furien wurden.

Allerdings – und ich hoffe, dabei der überklugen Überinterpretation zu entgehen, beim Blick zurück auf jenen damaligen Leser – war es nicht irgendeine Enttäuschung über die Taten und Untaten von Zeus, Pallas Athene oder Hermes, welche die stärkste Empfindung provozierte. Eher die bange, freilich noch kaum in Worte zu fassende Entdeckung, dass all dies ja nicht vor Willkür zu schützen vermochte: weder heilige Haine und Tempel noch bukolische Landschaften, Anstand, Witz und Beliebtheit ebenso so wenig wie Klugheit oder Ruhm.

Tschilpende Vögelchen

Da es doch keinerlei Zwischenschaltungen, Instanzen oder Einspruchsmöglichkeiten gab gegen die unvorhersehbaren Götterlaunen, die als Belohnung oder Strafe, als Verhängnis und nicht zu hinterfragendes Schicksal herabsausten auf die Sterblichen – im Grunde steinern auch dann, wenn sie fallweise einmal gnädig zurückgenommen wurden und es den Mächtigen gefiel, die Ohnmächtigen stattdessen in tschilpende Vögelchen zu verwandeln.

Eine reichlich überzogene, sauertöpfische, ja fast schon paranoide Betrachtungsweise? Nicht für einen, der schon als kleiner Junge wusste, dass der Polizist, der örtliche „Abschnittsbevollmächtigte“, der doch auf der Straße immer so unverfälscht freundlich grüßte, nur ein paar Jahre zuvor den Vater abgeholt hatte. Mit Handschellen und zu verfrachten in ein unscheinbar-unauffälliges Auto, das dann vom geruhsamen Kleinstädtchen Limbach-Oberfrohna in die nahegelegene Bezirksstadt Karl-Marx-Stadt fuhr, in das U-Haft-Gebäude auf dem Kaßberg.

Und das, obwohl man doch im Familienhaus an der sanft abschüssigen, kopfsteingepflasterten und mit alten Bäumen bestandenen Reinholdstraße, bewohnt von den Urgroß-, Großeltern und Eltern, alles dafür tat, dass der Junge behütet aufwuchs und auch so wenig wie möglich mitbekam von den unregelmäßigen Besuchen der sogenannten „zuständigen Organe“ alias Stasi.

Natürlich Westradio

Dazu gab es in der weiträumigen Polsterei-Werkstatt hinter dem Garten, in dem sein Vater und der Großvater samt einem „Geselle“ genannten Arbeiter einvernehmlich werkelten, geradezu verwunschene Nischen, in denen sich Versteck spielen ließ: der alte dämmrige „Zupfraum“ etwa mit der längst obsolet gewordenen gusseisernen Maschine zum Zerhäckseln von Füllmaterial oder die Hohlräume zwischen den Stoffballen und den Schaumgummimatten.

Lag man dort in wohligem Schauer, waren die Töne in der Werkstatt, die Geräusche von Schere, Hammer und Kreissäge, die Gespräche der Erwachsenen ebenso gedämpft zu hören wie die Stimme des Nachrichtensprechers im Radio. Natürlich „Westradio“, entweder Bayern 3 oder Rias Berlin. Und die Stimme dort sprach von einem Entführten namens Aldo Moro, dessen Spur sich verloren habe, dessen Verbleib unbekannt sei, dessen Leiche schließlich gefunden wurde in einer Straße in der schönen großen Stadt Rom. Und nicht einmal dort, im sonnigen Süden des vorerst unerreichbaren Westens, schien es Sicherheit zu geben und Schutz.

Jene Stadt Rom, über die der Junge, aufwachsend in einer Familie von Zeugen Jehovas, doch während des Bibelstudiums in der zweimal wöchentlich in wechselnden Wohnzimmern stattfindenden „Versammlung“ schon Folgendes erfahren hatte: Der Apostel Paulus hatte einst dort gewirkt, war von den Autoritäten festgesetzt worden, behielt als römischer Bürger jedoch gewisse Rechte.

Die Illustrationen in der in den Osten hineingeschmuggelten Zeugen-Zeitschrift Wachturm zeigten einen attraktiven Bärtigen in weißer Toga, der trotz Handschellen keineswegs verzweifelt wirkte und in einem antiken Großbürgerhaus – im Säulen-Hintergrund Pinien und Hügel – einem Schreiber etwas diktierte, womöglich ja eine Verteidigungsschrift.

Was ebenfalls in Erinnerung bleibt: diese Verwunderung der Versammlungsteilnehmer, vor allem des Vaters und der Älteren, die „Mitbrüder“ genannt wurden, nahezu ein jeder von ihnen mit Hafterfahrung wegen Kriegsdienstverweigerung, unter Honecker, unter Ulbricht. Römischer Bürger, verbriefte Rechte!

Die Erinnerung aber macht jetzt einen winzigen Sprung innerhalb der Kleinstadt – von der Reinholdstraße in ein Haus nahe der Kreuzung Straße des Friedens/Pestalozzistraße, etwas oberhalb des damals berühmten, da noch privat betriebenen Café Dittrich mit seinen leckeren Brötchen, Hörnchen und Törtchen. Dort lebte ein inzwischen hochbetagter „Mitbruder“, von dem jeder wusste, dass er das KZ Buchenwald überlebt hatte.

Dass er Anfang der fünfziger Jahre wegen der gleichen Gewissensentscheidung, den Armeedienst zu verweigern, erneut verhaftet worden war. Dass er dabei lediglich um die Gnade gebeten hatte, sich kurz umziehen zu dürfen – und dass er danach auf die Straße trat, in der alten, von ihm bis dahin aufbewahrten KZ-Häftlingskleidung, jene mit dem auf den gestreiften Drillich aufgenähten lila Winkel der Zeugen Jehovas.

Und das Kind, der Junge von damals? Träumte sich ja bereits in jenen Jahren weg, weit weg. Und nicht etwa in die schöne „Neue Welt“, deren Nahen die Zeitschrift der Sekte, die sich selbst als „die Organisation“ bezeichnete, verkündete – und zwar seit ihrer Gründung 1879 durch einen überreizten amerikanischen Ex-Pastor. Zuvor aber sollte das Strafgericht von Harmagedon die sündige „alte Welt“ auslöschen.

Wobei es dem Jungen und – vorerst noch eine vage Vermutung, die sich erst ein paar Jahre später bestätigen wird – vielleicht ja sogar dessen Eltern eigentlich doch vollauf genügen würde, dass es keine Häuser mehr gab, die Unschuldigen ihren Schutz verweigerten und jene Städte und Straßen verschwanden, in denen keinerlei wache Öffentlichkeit existierte, auf deren Beistand Verlass gewesen wäre.

Klandestine Zeugen

Wenn also der Junge während der Versammlungen in der kompakten, ledergebundenen Dünndruckausgabe der „Neue Welt-Bibelübersetzung“ blätterte, die zuerst in Wiesbaden und späterhin in Selters im Taunus gedruckt und ebenfalls klandestin in den Osten gebracht wurde, direkt hierher auf diesen sächsischen Wohnzimmertisch, dann erwies sich beim Blättern zweierlei als nahezu magisch. Da war nämlich die in bunten Atlasfarben gezeichnete Karte auf den letzten beiden Seiten, die Orte wie Jerusalem und Damaskus, Paphos und Antiochia zeigte, Rhodos, Kos und Samos, Thessaloniki und Athen, Syrakus und Rom.

Und dazu, quasi als konkrete Bestätigung, dass solche Städte nicht nur in biblischer Zeit und während der Missionsreisen des Paulus existierten, eine Seite zurück. Dort, ebenfalls auf Dünndruckpapier, das beim Berühren mit den Fingerkuppen ein leise zirpendes Geräusch machte, die Adresslisten der gegenwärtigen Orte, an denen die Zeugen Jehovas ihre Zweigbüros unterhielten.

Was für Namen das Kind da lesen konnte! Brookylyn Heights/New York, Via della Bufalotta/Rom, Pensacola Street/Honolulu, Kent Road/Kowloon-Hongkong, Yun Ho Street/Taipei, Sukhumvit Road/Bangkok, Avenida 5, Guatemala-Stadt, Nahalat Binyamin/Tel Aviv, Rue du Point-du-Jour/ Boulougne-Billancourt.

Und, ja – so viel stand fest –, alles würde er versuchen, um eines Tages an genau diesen Orten zu sein, um dort, und zwar jenseits der Sekte, Häuser und Menschen zu entdecken und sich in andere Biografien einwickeln zu lassen. Wobei, so frühreif war der Knabe dann schließlich doch nicht, die erotische Komponente, die aus all dem folgen würde, damals noch kaum imaginiert war.

Fest stand damals aber vorerst nur: Der Junge sehnte sich mitnichten danach, später einmal die weltweit verstreuten Zweigstellen der Zeugen Jehovas zu besuchen. Da er jedoch unter der religiösen Rigidität auch nicht wirklich litt, sondern diese eher ignorierte, wurden ihm die antiken Lektüre-Orte der Mythen und Sagen auch keineswegs zur erträumten Alternative, musste er sie, anders als viele vor ihm, die geradezu traumatisiert waren von protestantischer Strenge und katholischen Obskurantismus, auch nicht forciert idealisieren als Hort eines vermeintlich beständig heiteren polytheistischen Treibens und Hallodris.

Da der dortige Götter-Kosmos zwar von Gestalten bevölkert war, die weniger moralisierend wirkten als der Bibel-Gott Jehova, doch in ihren unvorhersehbaren Launen fast noch mehr Schrecken verbreiteten. Deshalb: Orte ohne das Gefühl, irgendwelchen „denen da oben“ schutzlos ausgeliefert zu sein, dorthin müsste man gelangen …

Von Limbach-Oberfrohna nach Rochlitz

Just solche Orte aber existierten selbst im beschaulichen Limbach-Oberfrohna nicht, und noch weniger gab es sie dann im Jahr 1988 in der sächsischen Kreisstadt Rochlitz, in welcher der zum jungen Erwachsenen und ebenfalls Kriegsdiensttotalverweigerer gewordene Junge vor den sogenannten „zuständigen Organen“ zu erscheinen hatte. Da gab es Angst und Zwang, doch immerhin war die Entscheidung, den DDR-Armeedienst zu verweigern, seine ureigene – ohne jeden Druck vonseiten der Eltern, die sich inzwischen ebenfalls längst aus der „Organisation“ zurückgezogen hatten.

Blieb die Frage nach dem Verhältnis von innerer Freiheit und äußerer Macht-Ammaßung. Gewiss, Erstere erwies sich als reichlich robuste Hilfe – die Genossen der Abteilung Inneres und der Staatssicherheit, die da in ihren grauen Präsent-40-Anzügen und mit ihren klobigen, uringelb gerahmten Brillen Schicksalsgötter spielten und abwechselnd mahnten, drohten und brüllten, sie blieben im Auge des „Vorgeladenen“ ja ganz und gar lächerliche Männlein.

Und dennoch. Wenn in diesen überheizten und nach Zigarettenrauch riechenden Räumen die Drohung fiel, nicht jede Tür hier führe wieder hinaus auf die Straße, dann verwandelte sich danach, obwohl ja – anscheinend und für dieses Mal – „alles noch gut ausgegangen“ war, auch eine solche Straße und erhielt eine veränderte Gestalt, ja Missgestalt; endgültig.

Und Rom? Auch dort hatte ja selbst der Status als römischer Bürger Paulus nicht vor der Hinrichtung bewahrt; die gewährte „Gnade“ bestand allein daran, ihn nicht zu kreuzigen, sondern zu enthaupten. Und Ovid? Knapp sechs Jahrzehnte zuvor hatte ihn auf der Insel Elba die Entscheidung Kaiser Augustus' ereilt, dass er nicht in die Hauptstadt zurückkehren dürfe, sondern sich ins Zwangsexil ins abgelegene Tomi am Schwarzen Meer zu begeben habe. Immerhin: keine Exekution des aus bis heute ungeklärten Gründen plötzlich zur Unperson gewordenen Dichters.

An anderen Orten zu jener Zeit wäre er gewiss sofort ums Leben gebracht worden. Wie auch zu anderen Zeiten in jenem Tomi, das, inzwischen unter dem Namen Constanta, im zwanzigsten Jahrhundert nachfolgend unter dem mörderischen Terror-Regiment der Antonescu-Faschisten, des Hardcore-Stalinisten Gheorghui-Dej sowie des nerohaft größenwahnsinnigen Conducator Ceaușescu stand.

Und gewiss mehr als nur eine Fußnote, sondern, wie fragil und unruhig flackernd auch immer, Aufschein hellerer Möglichkeiten, dass sich Ovid später schriftlich beklagen konnte, dass seine Verbannung doch weder durch ein Gerichtsverfahren noch durch einen Senatsbeschluss eine rechtliche Grundlage erhalten hatte.

Auf so eine Idee musste man erst einmal kommen, solch eine Idee musste erst einmal in die Welt gekommen sein. Eine Welt, aus der sie freilich immer wieder entschwindet – und zwar bis heute, denn natürlich werden sich die Opfer eines Putin und eines Xi auf keinerlei Verfassungsgesetzlichkeit berufen können, und selbst in den gegenwärtigen, den Trump'schen USA erfolgt auf derartige Ansinnen immer häufiger das höhnische So what der Macht.

Via Michelangelo Caetani

Der Junge von damals aber, um hiermit ein letztes Mal zu ihm zurückzukehren, hatte weder den Namen der römischen Straße vergessen, in welcher der Leichnam des ermordeten Aldo Moro schließlich aufgefunden wurde – Via Michelangelo Caetani –, noch jene, die Jahrtausende zuvor von anderen, die sich ebenfalls anheischig machten, Schicksal zu spielen, um ihre irdische Gestalt gebracht wurden.

Dass einige von ihnen verwandelt wurden, um sie vor der Rache konkurrierender Götter zu schützen, unterlief dabei nicht etwa das Prinzip Willkür, sondern verstärkte es. Lycaon, von Jupiter in einen Wolf verwandelt, weil er dessen Göttlichkeit angezweifelt hatte. Minyastöchter zu Fledermäusen gemacht, da sie sich dem Bacchuskult verweigerten.

Ocyroe als Strafe für ihre Prophezeiungen zu einer Stute transformiert, Callisto nach der Vergewaltigung durch Zeus von dessen Gattin Hera – die ja eigentlich als Göttin der Frauen fungierte – in eine Bärin verwandelt. Actaion, der die Göttin Diana/Artemis ungewollt beim Baden überraschte und sie nackt sah, von ebendieser zu einem Hirsch gemacht, den daraufhin seine eigenen Jagdhunde zerfleischen. Undsoweiterundsofort.

Dass jedoch bereits das alte Griechenland nicht im Bann all dieser Mythen verharrt war, sondern Olymp, Hainen und Tempeln so etwas wie Polis und Agora entgegengestellt hatte, Sokrates' Insistieren auf der Notwendigkeit des Nachfragens, Rationalität und Skepsis, Institutionen und Machtbegrenzung, kurz: immens wichtige Grundelemente der Demokratie – so etwas konnte selbst das Geschichtslehrbuch in der DDR-Schule nicht gänzlich verschweigen.

Und als ich dann – ein paar Jahre nach der Ausreise im Mai 1989 – in Paris ankam, öffnete mir André Glucksmann den Blick auf das Gegenwartsrelevante eines spätantiken Denkens, das lehrte, mit dem Schlimmsten immer zu rechnen. Nicht zufällig drehte sich dann bei unser letzten Begegnung im Sommer 2009 das Gespräch um jenes Buch, das Glucksmann noch vollenden konnte: Eine Gegenüberstellung des auf gedanklicher Klarheit und Flexibilität rekurrierenden Sokrates mit Martin Heidegger, dem wortreichen Rauner einer kruden „Eigentlichkeit“, dem völkischen Kult des Bodens und der „Wurzeln“.

Bereits 1979 hatte mit "Le Testament de Dieu" Glucksmanns elf Jahre jüngerer Mitstreiter Bernard-Henri Lévy ein Buch geschrieben, das neben Athen auch Jerusalem in den Blick nahm als ersten Impulsgeber für den Menschheitskampf gegen Gewalt und Despotie.

War der Gott, der sich von den Zehn Geboten quasi vertraglich fesseln ließ, der von Abraham vor der Zerstörung von Sodom und Gomorrha in eine Art Handel verstrickt wurde, der im letzten Moment der Opferung Isaaks Einhalt gebot, der von Hiob ob dessen grausamen Geschick just als der letztlich ungerechte Gott, der er war, anklagt wurde – konnte solch eine Götterfigur und die Gemeinschaft der an sie Glaubenden, fragte Bernard-Henri Lévy, nicht viel präziser in humane Pflicht genommen werden als der arbiträr handelnde und nur vermeintlich „heitere Götterolymp“ der Antike?

War es deshalb nicht folgerichtig, und auch das wurde von ihm schon damals hellsichtig analysiert, dass sich eine Neue Rechte, hierbei in der Tradition der nazistischen Verächter eines sogenannten „Judäo-Christianismus“, ein militantes Neo-Heidentum auf die Fahnen geschrieben hatte, ein erneutes Gewusel von Herrschenden und Beherrschten, zusammengehalten von der Heiligsprechung eines „autochthon-authentischen Bodens“?

Auch Franz Kafkas getreuer Freund Max Brod, einer der ganz frühen Mitglieder unseres PEN-Zentrums, hatte über die fatale Anschlussfähigkeit eines solchen Heidentums für gegenwärtige Freiheitsfeindschaft geschrieben. „Alle hier und jetzt sich durchsetzenden Triebe und Kräfte werden heiliggesprochen: nur wird abwechselnd dem Machttrieb des Einzelnen oder dem kollektiven Machttrieb des Staates der Vorzug gegeben – einen prinzipiellen Unterschied begründet das nicht.

Die Tugenden des Heidentums sind: kriegerischer Sinn, Aristokratismus, Gesundheit, Kraft, Wagemut, Überleben der Tüchtigsten, Herrenmoral. Seine Gemeinschaft ist auf Dienen und Gehorchen ausgerichtet, auf Heldentum und Gefolgschaft, auf 'Führerschaft' und 'Treue' der Untertanen.“

Brod beschrieb dies als „pantheistischen Dusel“, misstraute jedoch auch dem Erbsünde-Denken eines Christentums, das entweder alles Heil ins Außerweltliche verlagerte oder sich in pathetischer „Brüderlichkeit“ erging, die kaum je nach konkreten Machtstrukturen (und deren möglicher Einhegung) fragte.

Sein Verständnis eines modernen Judentums und nicht zuletzt auch eines liberalen Zionismus war deshalb genau dieses: Wertschätzung der uns gegebenen Welt, Skrupel und Wehrhaftigkeit und statt dem Prinzip Schuld – oder lärmend selbsterklärter Schuldlosigkeit – der Versuch eines Lebens in Verantwortlichkeit und in einer Daseinsdankbarkeit, welche die Reflexion über ein „Danach“ ja keineswegs ausschließt.

Max Brod hatte dies übrigens bereits 1921 veröffentlicht, mit gerade einmal 37 Jahren und lange vor jenem Märztag 1939, als er und und seine Frau Elsa zusammen mit Felix Weltsch den letzten freien Flüchtlingszug erreichten, ehe Wehrmacht und SS in ihre Heimatstadt Prag einfielen.

Ben-Yehuda-Straße 9

Etwa sieben Jahrzehnte später entdeckte ich Max Brods zweibändiges "Heidentum, Christentum, Judentum. Ein Bekenntnisbuch", erschienen 1921 im Kurt Wolff Verlag München, ein wenig stockfleckig geworden, mit dem vertrauenserweckenden Geruch alten Papiers und dem fortdauernden Aroma der Freiheitsfreundschaft, in der legendären Buchhandlung Landsberger in Tel Aviv, Ben-Yehuda-Straße 9. Ganz in der Nähe, in einem noch heute fast idyllisch anmutenden Häuschen in der HaYarden-Straße 16, hatte Max Brod bis zu seinem Tod 1968 gelebt. Und seit nunmehr Jahrzehnten kein Strandgang, der mich nicht durch diese Straße führen würde in dieser längst zu einer Art Heimat gewordenen Stadt.

Eine friedliche Wohnstatt, wie man sie auch dem exilierten Publius Ovidius Naso gewünscht hätte, dessen Tomi am Schwarzen Meer allerdings wohl nicht nur in Christoph Ransmayrs genialem Roman "Die letzte Welt" eine Art Nicht-Ort war am Rande des Imperiums, unwirtlich und bedroht von allerlei Formen der Barbarei.

Viele Tel-Aviv-Sommer wohnte ich, ehe es zu einem teuren Boutique-Hotel samt üblichem sustainable-Blabla umgemodelt wurde, in einem wie verwunschenen Absteige-Hotel in der Nahalat Binyamin – und das ausgerechnet, so etwas lässt sich nur finden, nicht erfinden, vis-à-vis der örtlichen Zentrale der Zeugen Jehovas.

Der Junge von einst, auf einem der maroden Balkonstühle balancierend, Duschhandtuch um die Hüften, da selbst nach Mitternacht die Temperatur kaum gesunken war, zerdrückt im Aschenbecher die Zigarette und grüßt mit vager Geste zum verdunkelten Haus gegenüber, und zwar keineswegs im Triumph, eher schon im ewigen Verwundertsein über das Verrinnen der Zeit und deren Mysterien. Die Absteige war ironischerweise nach dem eigenwilligen Theoretiker Max Nordau benannt, der Anfang des zwanzigsten Jahrhundert von der Metamorphose des sogenannten „Nervenjuden“ in einen „Muskeljuden“ träumte.

Das natürlich gerade da bezirzende Synthesen möglich sind – auch davon erzählt dann die Hommage mit dem bewusst mediterran-barocken Hybrid-Titel "Tel Aviv – Schatzkästchen und Nussschale, darin die ganze Welt". Also schließlich auf doppelte Weise angekommen – in der seit je her erträumten Stadt im Süden und, was jedoch eher bedenklich wäre, auch im Selbstzitat, in öffentlicher Rede vorgetragenem Bezug auf das bisherige Werk?

Innere und äußere Bedrohungen

Doch gab und gibt es ausgerechnet in Tel Aviv jene nicht-strangulierende Sicherheit, jenen Schutz vor Willkür, den der Junge von einst in nordöstlicher Nicht-Heimat ebenso vermisst hatte wie bei der Lektüre von Ovids "Metamorphosen"? In jener 1909 aus Sanddünen entstandenen Stadt am Mittelmeer, an deren Strand in den siebziger Jahren mordende PLO-Kommandos gelandet waren und in deren Straßen, Cafés und Kindergärten in den Neunzigern sogleich nach dem Osloer Friedensprozess die Hamas eine Blutspur gezogen hatte, eine Stadt, in der quasi jeder einen der am 7. Oktober 2023 im Süden des Landes Dahingeschlachteten oder Entführten kennt und in der bis zum heutigen Tag Drohnen der jemenitischen Huthi-Extremisten eine tödliche Bedrohung darstellen?

Und, als wäre es nicht genug: Auch der inneren Gefahr, dem Versuch der in Teilen rechtsextremen Netanjahu-Regierung, Israel in eine illiberale Demokratie im Sinne Orbáns oder Trumps zu verwandeln, müssen die Tel Avivniks widerstehen – was sie im Übrigen auch tun, zu Hunderttausenden protestierend auf den Straßen der Stadt. Hatten, gehen wir ein letztes Mal so weit zurück, nicht bereits die biblischen Propheten von Jeremia und Jesaja bis Amos, Micha und Obadja just dieses Mindset verantwortlicher Erwachsener gehabt, also zuvorderst die vermeintlich „eigenen Leute“ kritisierend, die autoritären Priester und Könige, das Unrecht intro muros?

Waren sie darin nicht auch den Schriftstellern im gegenwärtigen Israel ähnlich, den älteren und Jüngeren, dazu den Dissidenten mittelosteuropäischer Herkunft, denen ich rund um die Welt und glücklicherweise begegnen durfte, über die Jahre und Jahrzehnte hinweg? All diese klugen Alten und die gewitzten Jüngeren – und was für ein Privileg, was für eine fortgesetzt wunderbare Herausforderung, in Erzählungen und Essays ein bisschen ihr Chronist sein zu dürfen!

Nach dem 7. Oktober

So harmonisch könnte es schließlich enden – und wäre doch falsch. Nicht zuletzt hier in Frankfurt, wo, wie auch anderswo weltweit, an der Universität ein aktivistisch judenfeindlicher Mob grölend in „Antizionismus“ macht – und dabei vom humanen Grundgedanken jenes Zionismus ebenso wenig weiß wie von den mannigfaltigen Ursachen der Tragödie der Palästinenser, für welche man doch angeblich „pro“ ist, im Israel eliminierenden „from the river to the sea“.

Als ich letztes Jahr aus meinem Buch über die Nachwirkungen des 7. Oktober las, fand das statt in einem Campusgebäude am Theodor-Adorno-Platz. Jedoch in einem Vorlesungssaal, der zuvor öffentlich nicht genannt worden war, zu dem keine Plakate hinführten, vor dem – ebenfalls um Nicht-Erkennbarkeit bemüht – zwei Leute vom Sicherheitspersonal der Jüdischen Gemeinde standen, um denen, die sich zuvor online angemeldet hatten, nach Prüfung ihrer Personalien Einlass zu gewähren.

Wie sie da alle fast in den Raum hineinschlichen, um low profile bemüht … Realität im Deutschland unserer Zeit, ebenso wie – an anderen, ebenfalls zahlreichen Orten – die zusätzliche Angst, nicht nur von Islamisten und deren sich als links verstehenden Kollaborateuren angegriffen zu werden, sondern von Nazis und deren Anhang. Dazu die schändlichen Metamorphosen des Diskurses: abgewiegelt und relativiert und zu „Einzelfällen“ erklärt wird vor allem das, was das angebliche „eigene Lager“ betrifft.

Und so kann es geschehen, dass an ebendieser ehrwürdigen Frankfurter Universität ein Forschungszentrum zum Islamismus einfach abgewickelt wird – und die Kritik daran infam denunziert als „Kulturkampf-Rhetorik“.

Gegenwärtige Verwandlungen, von denen gleichfalls zu reden wäre: Wann zum Beispiel wird ein Islamkritiker zum geifernden Rassisten – und ein Anti-Rassist zum Relativierer oder gar Rechtfertiger des Islamismus? Wann wird offener Dialog von offenem Hass gekapert – oder derart bigott kanalisiert, dass von der souveränen Grundintention nichts mehr übrig bleibt? Wann verwandelt sich gebotene Wachsamkeit in frei vagabundierendes Ressentiment – und legitime Besorgnis um Zivilität in schranzenhafte Zensurversuche?

All das liegt in unseren Händen. Oder anders gesagt: im Zusammenspiel von Herz und Hirn. Folgt man, jenseits dieser Metaphern, den plausiblen Erkenntnissen der Neurowissenschaftler, wird zwar deutlich, dass auch hier Prägungen, Prädispositionen und dergleichen eine immens wichtige Rolle spielen, die unserem Selbstbild als vollkommen autonome Wesen so einige Dellen verabreicht.

Aber auch das ist gut so: Zeigt es doch noch im Hinweis auf unsere Limitiertheit Wege ins Offene – ohne die Pranken von Göttern und, so gut als möglich, ohne die Fallstricke von Eindeutigkeits-Ideologien.

Philemon und Baucis

Bleibt jetzt am Schluss nur noch an die ohnehin größte und schönste aller Verwandlungen zu erinnern: an die Liebe und wie sie uns im Zusammenspiel mit einem geliebten Menschen partiell zu einem anderen macht. Ob später daraus, wie bei Philemon und Baucis, zwei ineinander verschlungene Bäume daraus werden, können wir nicht wissen, und eigentlich betrifft es uns auch nicht.

Ohnehin kann davon, in Annäherungen und auf dankbar-vorsichtige Weise, um ja auch nur nichts zu beschreien, nur in den Büchern erzählt werden. Jedoch nicht in einer Rede, die hiermit nun endlich zu ihrem Ende kommt.

Ich danke einer meiner geistigen Heimat, dem PEN-Zentrum deutschsprachiger Autoren im Ausland, für die Zuerkennung des Ovid-Preises, der mir sehr viel bedeutet. Ich danke dem Maler Hans-Hendrik Grimmling, der mir zum Preis eines seiner unverwechselbaren – auf originäre Weise inspirierenden und verstörenden – Bilder als Geschenk überreicht hat.

Ich danke Frau Dr. Sylvia Asmus und dem Team des Exilarchivs der Deutschen Nationalbibliothek für ihr Engagement und die liebevolle Organisation der Veranstaltung. Und ich danke meinem Kollegenfreund Michael Kleeberg für die berührende Laudatio.

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