Neue Kosten-Nutzen-Rechnung für A39: Autobahn lohnt sich, lohnt sich nicht, lohnt sich
Überraschend gut stuft das Verkehrsministerium plötzlich den Bau der A39 zwischen Wolfsburg und Lüneburg ein. Eine Begründung liefert es nicht.

Wer mit dem Auto von Wolfsburg nach Lüneburg fahren möchte, der nimmt die Bundesstraße 4 – Wendland und Altmark sind autobahnloses Land. Wenn es nach den Verkehrsministerien in Niedersachsen und im Bund geht, dann soll man in Zukunft auch eine Autobahn nutzen können: Über 106 Kilometer Länge würde die Verlängerung der A39 vorbeiführen an Wittingen und Bad Bodenteich, an Uelzen und Bad Bevensen – das sind so die größten Städte.
Ob sie kommt, die A39, ist aber hochumstritten. Befürworter verweisen darauf, dass VW von Wolfsburg aus eine schnelle Verbindung zum Hamburger Hafen bekäme; Gegner wie Greenpeace weisen darauf hin, dass das Straßenprojekt einen „der größten zusammenhängenden Naturräume Deutschlands zerschneiden“ würde. Waldgebiete, in denen heute Wildkatzen und Wölfe leben, würden durchtrennt.
Der Koalitionsausschuss im Bund hatte im September grundsätzlich Geld für Autobahnen freigemacht und entschieden, dass baureife Projekte gestartet werden sollten. Die A39 könnte dazugehören. Doch neben einer Klage von Umweltverbänden gab es noch eine Hürde: Auch volkswirtschaftlich ist das Autobahnprojekt hochumstritten. Mindestens 1,6 Milliarden Euro soll der Spaß kosten, Stand jetzt. Lohnt sich das? Das sogenannte Kosten-Nutzen-Verhältnis (KNV) verspricht in dieser Frage messbare Objektivität: Wird ein Projekt mit über 1 bewertet, dann lohnt sich die Investition; alles unter 1 kostet mehr, als es an anderer Stelle einbringt.
Doch die Zahl, die eigentlich Klarheit bringen soll, sorgt nun für ziemliche Verwirrung: In diesem Jahr hat es zum Autobahnprojekt A39 drei völlig verschiedene Bewertungen gegeben. Zuletzt hieß es, das Kosten-Nutzen-Verhältnis sei negativ – jetzt schnellt es plötzlich so weit nach oben, dass die A39 in die Reihe der Top-Straßenbauprojekte des Bundes aufsteigt.
Von Mittelmaß zu schlecht – und dann zu überaus gut
Mit 2,1 war die A39 im Bundesverkehrswegeplan 2030 bisher bewertet worden. Lohnt sich also – für jeden investierten Euro gibt es laut Rechnung irgendwann zwei zurück. Zu den richtig guten Projekten gehört die Autobahn damit aber noch lange nicht: Der Rechnungshof hatte jüngst eindringlich gefordert, nur stark priorisierte Projekte umzusetzen; ansonsten würde die Autobahn GmbH sich übernehmen und könnte die nötigen Brückensanierungen nicht umsetzen.
Im Sommer gab es dann richtig Grund, an der A39 zu zweifeln: Das Bundesumweltministerium unter Ministerin Steffi Lemke (Grüne) hatte ein eigenes Gutachten erstellen lassen, vorbei am FDP-Verkehrsministerium. Das verkehrswissenschaftliche Institut der TU Dresden hatte dafür verschiedene Szenarien erstellt. Bei einem für die Zukunft sehr hoch angesetzten CO₂-Preis bekam die A39 eine skandalös schlechte Bewertung von minus 0,6. Doch auch im konventionellen Szenario war das Ergebnis negativ: Vor allem wegen der stark erhöhten Baukosten seit 2016 kam die A39 nur auf einen Wert von 0,9 – also unter der Wirtschaftlichkeitsmarke 1.
Julia Verlinden, Grüne Bundestagsabgeordnete
Doch nun die Überraschung: Die Bundestagsabgeordnete Julia Verlinden (Grüne) des Wahlkreises Wahlkreis Lüneburg/Lüchow-Dannenberg fragte nach aktuellen Zahlen – und bekam vom Verkehrsministerium den Traumwert von 5,2 übermittelt. Die A39 steigt damit auf in die Riege von Straßenbauprojekten, die sich so richtig lohnen – etwa jedes fünfte Projekt, so der BUND, erreicht einen Wert über fünf.
Doch wie es zu dem neuen Wert kommen konnte, ist ein Rätsel. Verlinden stellte zwei weitere Anfragen zu den Berechnungsgrundlagen, um das Ergebnis nachvollziehen zu können. Doch trotz Auskunftsrecht der Bundestagsabgeordneten verweigerte das Ministerium die Daten. Die Gründe sind kryptisch: Für andere Straßenbauprojekte habe man noch kein aktuelles Kosten-Nutzen-Verhältnis erstellt. Die Ergebnisse wolle man gebündelt veröffentlichen – „nach derzeitigem Stand“ – noch 2025. Doch schon in den nächsten Wochen müssen die Ausschüsse über die Haushaltsposten für 2026 beraten.
Eine Beschwerde der Bundestagsabgeordneten gegen die Antwort führte bisher zu nichts. Auch Anfragen der taz und der Braunschweiger Zeitung aus der vergangenen Woche hat das Ministerium bisher nicht beantwortet. Beim Nachhaken kommt aus dem Ministerium nur die Bitte um „etwas Geduld“.
Zahlen stellen Wissenschaft vor Rätsel
„Die Geheimniskrämerei des Bundesverkehrsministeriums um Kosten und Nutzen des A39-Neubaus lässt nichts Gutes ahnen“, meint die Abgeordnete Verlinden. „Sich zu weigern, Kosten und Nutzen der Projekte vor dem Beschluss des Bundeshaushalts transparent zu machen, deutet darauf hin, dass die Bundesregierung etwas zu verbergen hat.“ Es bestünde die Gefahr, dass das Verkehrsministerium den Nutzen der A39 schöngerechnet habe. Verlinden ist sich dabei einig mit lokalen Initiativen gegen die Autobahn. Auch Karin Loock von „Natürlich Boldecker Land“ beklagt „Schönrechnerei“.
Daran mag Richard Hartl nicht glauben. Er ist Hauptautor der Studie im Auftrag des Bundesumweltministeriums und ist grundsätzlich von der Wissenschaftlichkeit des KNV-Verfahrens überzeugt: Der Rechenmechanismus sei nicht unumstritten – aber vor politischen Einflussnahmen sicher. Rätsel gibt ihm das Ergebnis trotzdem auf. Für die Kostenberechnung habe das Ministerium dieselben Zahlen genutzt wie auch sein eigenes Team bei der Uni Dresden. Auch die gestiegenen CO₂-Kosten seien eingepreist worden, in derselben Höhe wie in der Berechnung seines Teams, die zum Ergebnis 0,9 gekommen war.
Bei diesen Zahlen gibt es praktisch keinen Spielraum – in der Dresdner Studie führte das dazu, dass die ursprüngliche Bewertung von 2,1 auf 0,9 sank. Wenn das Verkehrsministerium mit diesen Zahlen zu einem Gesamtergebnis von 5,1 kommt, muss der Nutzen viel höher angesetzt worden sein als damals – etwa fünfmal so hoch.
Der Nutzen, das ist in der KNV-Rechnung im Wesentlichen die Zeitersparnis auf einer Autobahn. Wie aber soll die sich innerhalb von zehn Jahren auf das Fünffache steigern? Theoretisch möglich ist das, wenn die Zahl der künftigen Staus auf den bisher genutzten Straßen sehr viel höher geschätzt wird – etwa durch mehr Güterverkehr.
Rheinmetall in Unterlüß steigert Produktion
Der Bundestagsabgeordnete Hubertus Heil (SPD) aus Gifhorn, der als Befürworter des Ausbaus gilt, äußerte sich auf eine Anfrage der Braunschweiger Zeitung angesichts der wenigen Details noch vorsichtig. Woran die neue gute Bewertung liegen könnte, das wusste man auch im SPD-Büro nicht. Als mögliche Gründe aufgezählt wurde die Nähe zum Hamburger Hafen, der VW-Standort Wolfsburg – und der Rüstungsstandort des Rheinmetall-Konzerns in Unterlüß.
Der Gütertransport zum Hafen ist allerdings eher rückläufig; und VW hat zuletzt seine Produktion gedrosselt. Bleibt Rheinmetall. Das große Werk in Unterlüß wurde erst vor einem Monat um eine neue Munitionsproduktion ergänzt. Jährlich bis zu 350.000 Artilleriegeschosse sollen dort produziert werden – das Werk soll damit laut CEO Armin Papperger „das größte Munitionswerk Europas, wenn nicht gar der Welt“ werden. An diesem Dienstag wurde bekannt, dass Rheinmetall einen Auftrag über 3 Milliarden Euro für den Bau von 200 Schakal-Radpanzern von der Bundeswehr und der niederländischen Armee bekommen hat.
Wissenschaftler Hartl glaubt aber nicht daran, dass dies der Grund für die fünffach verbesserte Nutzen-Bewertung sein kann. „Das mag erst mal intuitiv einleuchten“, meint er. Aber: Angesichts der Nähe zum Hafen sei die Verkehrsmenge von Rheinmetall noch immer eher zu vernachlässigen. „Wie stark sollen die ihre Produktion steigern, um den volkswirtschaftlichen Gesamtnutzen fünffach zu steigern?“, fragt er. Eine andere Erklärung hat er freilich auch nicht.
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