Fast vier Jahre Krieg in der Ukraine: Wenigstens Waffenstillstand
Je länger die Ukraine mit Verhandeln wartet, desto schlechter sieht es für sie aus. Es geht um kleine Schritte, weniger um den großen Frieden.
 
D ie Ukraine kämpfe heldenhaft gegen Putin – das bekommen wir immer wieder zu hören. Diese Aussage ist in doppelter Hinsicht eine Halbwahrheit. Die Ukraine kämpft erfolgreicher gegen Russland, als Putin das erwartet hat. Aus einem Blitzkrieg, wie man sich das in Russland vorgestellt hatte, ist inzwischen ein Stellungskrieg geworden, in dem keine Seite wirklich erfolgreich ist. Wer heute an der Front kämpft, tut das meistens nicht, weil er sich freiwillig gemeldet hat, sondern weil er der Wehrbehörde TZK in die Hände gefallen ist, die ihn auf der Straße aufgegriffen und wenig später in einen Schützengraben gesteckt hat.
156.360 Männer haben nach Angaben der ukrainischen Generalstaatsanwaltschaft zwischen Januar und September 2025 unerlaubt die Truppe verlassen oder sind desertiert. Die Dunkelziffer dürfte noch um einiges darüber liegen, wie ukrainische PolitikerInnen und Militärs mutmaßen. Bei meiner letzten Reise von Kyjiw nach Berlin im September waren von 60 Fahrgästen mehr als ein Dutzend Männer im Alter unter 23 Jahren im Bus. Bei meiner Rückfahrt von Deutschland nach Kyjiw war kein einziger junger Mann unter den Fahrgästen.
Wer wie ich von der Ukraine nach Deutschland reist, wundert sich als Erstes über die vielen ukrainischen Männer auf den öffentlichen Plätzen in Deutschland. In der Ukraine sitzen in den Bussen fast nur Frauen, auch in den Geschäften und in den Cafés sind vorwiegend Frauen zu sehen. Viele Männer haben seit dem Beginn des russischen Überfalls ihre Wohnungen nicht mehr verlassen, aus Angst vor der TZK.
Ungefähr 1,5 Millionen Männer geben gesetzwidrig ihre Daten nicht an die Wehrbehörde weiter, entziehen sich somit der Musterung. Kurz gesagt: Wer von einem heldenhaften Kampf der UkrainerInnen gegen Putin spricht, sollte der Ehrlichkeit halber auch sagen, dass sich ein sehr großer Teil der männlichen Bevölkerung diesem Kampf entzieht. Eine Abstimmung mit den Füßen. In die Entscheidungsfindung sollte diese Meinungsäußerung einbezogen werden.
Ich habe den russischen Überfall auf die Ukraine am 24. Februar 2022 erlebt. Die russischen Truppen waren von meiner Wohnung gerade mal 20 Autominuten entfernt. Ich bin kein Pazifist. Wenn die Russen vor meinem Haus gestanden hätten, hätte ich auch geschossen, wenn man mir eine Waffe gegeben hätte. Doch Selbstverteidigung war gestern. Heute werden bei den Angriffen auf Russland auch mit „unseren“ Waffen Kinder und andere Zivilisten getötet, Chemiewerke und Anlagen der Petrochemie zerstört, wird der zivile Flugverkehr mit Drohnen behindert, wird ein Staudamm, wie in Belgorod geschehen, angegriffen. Und es gibt Dinge – wie Kinder und andere Zivilisten töten –, die trage ich auch dann nicht mit, wenn sie für einen guten Zweck sind. Und all das passiert unter dem Narrativ „gegen Putin kämpfen“.
Es ist richtig, dass Russland für seinen Angriffskrieg sanktioniert wird, russische Aktiva eingefroren werden. Wir sollten noch aktiver Sand im Getriebe des russischen Angriffskrieges sein. Aber auch Verhandlungen sind im Interesse der Ukraine – und zwar direkt mit Putin, dem Herrn über Leben und Tod. Je länger die Ukraine mit dem Verhandeln wartet, umso schlechter ist ihre Verhandlungsposition.
 
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Doch ist Putin überhaupt bereit zu Verhandlungen? Aktueller Stand ist: Die Ukraine ist bereit zu einem sofortigen Waffenstillstand ohne Vorbedingungen, was de facto den Verlust von großen Teilen der Gebiete Donezk und Luhansk zementieren würde. Russland will aktuell keinen Waffenstillstand ohne Vorbedingungen. Was Russland wirklich will, ist aber so klar nicht. Während sich Putins Sonderbeauftragter Kirill Dmitriew jüngst zu Verhandlungen in die USA wagte, lehnt Ex-Präsident Dmitri Medwedjew auf Telegram „sinnlose Verhandlungen“ ab. Die Bandbreite von Positionen zu weiteren Verhandlungen in Putins Umfeld ist also groß.
Während lange Zeit die Meinung vorherrschte, mit Putin könne man ja nicht reden, Präsident Selenskyj sogar per Dekret Verhandlungen mit Putin verboten hatte, wirft man nun Putin mangelnde Verhandlungsbereitschaft vor – ein Widerspruch. Die Ukraine und ihre europäischen Verbündeten haben noch nicht alle Möglichkeiten ausgeschöpft, Putin zum Verhandeln zu bewegen. Einseitige Schritte, wie ein von Selenskyj Anfang Oktober ins Spiel gebrachter einseitiger Waffenstillstand in der Luft, wären ein guter Anfang.
Wie ein roter Faden zieht sich Russenhass durch das Narrativ in der Ukraine und anderswo. Auf einer öffentlichen Grünanlage in der Straße Protassiv Jar in Kyjiw findet sich der Spruch: „Je mehr Russen wir heute töten, desto weniger müssen unsere Kinder töten.“ Es wäre friedensfördernd, wenn man in der Ukraine etwas gegen derartigen Hatespeech unternehmen würde. Es wäre friedensfördernd, wenn die Ukraine zumindest in den Gebieten, in denen vorwiegend Russisch gesprochen wird, Russisch auch respektieren würde – wie es in Demokratien eigentlich üblich sein sollte.
Es ist eine Illusion, an einen Frieden zwischen der Ukraine und Russland zu glauben. Das maximal Mögliche ist aktuell ein Waffenstillstand. Und wenn auch dieser nicht erzielt werden kann, gilt es kleine Brötchen zu backen, so etwa mit einem von Selenskyj ins Spiel gebrachten einseitigen Waffenstillstand in der Luft, einem weiteren Gefangenenaustausch oder einer Fortsetzung der russisch-ukrainischen Verhandlungen auf der Ebene der Menschenrechtsbeauftragten.
Immer wieder wird als Gegenargument angeführt, dass ein Waffenstillstand wenig bringe, könne man doch sicher sein, dass es in zwei Jahren wieder zu einem Krieg kommen werde. Gleichwohl: Zwei Jahre Waffenstillstand sind besser als null Jahre Waffenstillstand. In zwei Jahren kann die Welt eine ganz andere sein. Und sicher ist: Auch dieser Winter wird hart in der Ukraine.
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