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Fast vier Jahre Krieg in der UkraineWenigstens Waffenstillstand

Bernhard Clasen

Kommentar von

Bernhard Clasen

Je länger die Ukraine mit Verhandeln wartet, desto schlechter sieht es für sie aus. Es geht um kleine Schritte, weniger um den großen Frieden.

Dem Frieden so fern, dem Krieg so nah, das Dilemma der Ukraine und ihrer Menschen Foto: Kateryna Klochko/AP/dpa

D ie Ukraine kämpfe heldenhaft gegen Putin – das bekommen wir immer wieder zu hören. Diese Aussage ist in doppelter Hinsicht eine Halbwahrheit. Die Ukraine kämpft erfolgreicher gegen Russland, als Putin das erwartet hat. Aus einem Blitzkrieg, wie man sich das in Russland vorgestellt hatte, ist inzwischen ein Stellungskrieg geworden, in dem keine Seite wirklich erfolgreich ist. Wer heute an der Front kämpft, tut das meistens nicht, weil er sich freiwillig gemeldet hat, sondern weil er der Wehrbehörde TZK in die Hände gefallen ist, die ihn auf der Straße aufgegriffen und wenig später in einen Schützengraben gesteckt hat.

156.360 Männer haben nach Angaben der ukrainischen Generalstaatsanwaltschaft zwischen Januar und September 2025 unerlaubt die Truppe verlassen oder sind desertiert. Die Dunkelziffer dürfte noch um einiges darüber liegen, wie ukrainische PolitikerInnen und Militärs mutmaßen. Bei meiner letzten Reise von Kyjiw nach Berlin im September waren von 60 Fahrgästen mehr als ein Dutzend Männer im Alter unter 23 Jahren im Bus. Bei meiner Rückfahrt von Deutschland nach Kyjiw war kein einziger junger Mann unter den Fahrgästen.

Wer wie ich von der Ukraine nach Deutschland reist, wundert sich als Erstes über die vielen ukrainischen Männer auf den öffentlichen Plätzen in Deutschland. In der Ukraine sitzen in den Bussen fast nur Frauen, auch in den Geschäften und in den Cafés sind vorwiegend Frauen zu sehen. Viele Männer haben seit dem Beginn des russischen Überfalls ihre Wohnungen nicht mehr verlassen, aus Angst vor der TZK.

Ungefähr 1,5 Millionen Männer geben gesetzwidrig ihre Daten nicht an die Wehrbehörde weiter, entziehen sich somit der Musterung. Kurz gesagt: Wer von einem heldenhaften Kampf der UkrainerInnen gegen Putin spricht, sollte der Ehrlichkeit halber auch sagen, dass sich ein sehr großer Teil der männlichen Bevölkerung diesem Kampf entzieht. Eine Abstimmung mit den Füßen. In die Entscheidungsfindung sollte diese Meinungsäußerung einbezogen werden.

Ein sehr großer Teil der männlichen Ukrainer entzieht sich dem angeblich heldenhaften Kampf

Ich habe den russischen Überfall auf die Ukraine am 24. Februar 2022 erlebt. Die russischen Truppen waren von meiner Wohnung gerade mal 20 Autominuten entfernt. Ich bin kein Pazifist. Wenn die Russen vor meinem Haus gestanden hätten, hätte ich auch geschossen, wenn man mir eine Waffe gegeben hätte. Doch Selbstverteidigung war gestern. Heute werden bei den Angriffen auf Russland auch mit „unseren“ Waffen Kinder und andere Zivilisten getötet, Chemiewerke und Anlagen der Petrochemie zerstört, wird der zivile Flugverkehr mit Drohnen behindert, wird ein Staudamm, wie in Belgorod geschehen, angegriffen. Und es gibt Dinge – wie Kinder und andere Zivilisten töten –, die trage ich auch dann nicht mit, wenn sie für einen guten Zweck sind. Und all das passiert unter dem Narrativ „gegen Putin kämpfen“.

Es ist richtig, dass Russland für seinen Angriffskrieg sanktioniert wird, russische Aktiva eingefroren werden. Wir sollten noch aktiver Sand im Getriebe des russischen Angriffskrieges sein. Aber auch Verhandlungen sind im Interesse der Ukraine – und zwar direkt mit Putin, dem Herrn über Leben und Tod. Je länger die Ukraine mit dem Verhandeln wartet, umso schlechter ist ihre Verhandlungsposition.

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Doch ist Putin überhaupt bereit zu Verhandlungen? Aktueller Stand ist: Die Ukraine ist bereit zu einem sofortigen Waffenstillstand ohne Vorbedingungen, was de facto den Verlust von großen Teilen der Gebiete Donezk und Luhansk zementieren würde. Russland will aktuell keinen Waffenstillstand ohne Vorbedingungen. Was Russland wirklich will, ist aber so klar nicht. Während sich Putins Sonderbeauftragter Kirill Dmitriew jüngst zu Verhandlungen in die USA wagte, lehnt Ex-Präsident Dmitri Medwedjew auf Telegram „sinnlose Verhandlungen“ ab. Die Bandbreite von Positionen zu weiteren Verhandlungen in Putins Umfeld ist also groß.

Während lange Zeit die Meinung vorherrschte, mit Putin könne man ja nicht reden, Präsident Selenskyj sogar per Dekret Verhandlungen mit Putin verboten hatte, wirft man nun Putin mangelnde Verhandlungsbereitschaft vor – ein Widerspruch. Die Ukraine und ihre europäischen Verbündeten haben noch nicht alle Möglichkeiten ausgeschöpft, Putin zum Verhandeln zu bewegen. Einseitige Schritte, wie ein von Selenskyj Anfang Oktober ins Spiel gebrachter einseitiger Waffenstillstand in der Luft, wären ein guter Anfang.

Wie ein roter Faden zieht sich Russenhass durch das Narrativ in der Ukraine und anderswo. Auf einer öffentlichen Grünanlage in der Straße Protassiv Jar in Kyjiw findet sich der Spruch: „Je mehr Russen wir heute töten, desto weniger müssen unsere Kinder töten.“ Es wäre friedensfördernd, wenn man in der Ukraine etwas gegen derartigen Hatespeech unternehmen würde. Es wäre friedensfördernd, wenn die Ukraine zumindest in den Gebieten, in denen vorwiegend Russisch gesprochen wird, Russisch auch respektieren würde – wie es in Demokratien eigentlich üblich sein sollte.

Es ist eine Illusion, an einen Frieden zwischen der Ukraine und Russland zu glauben. Das maximal Mögliche ist aktuell ein Waffenstillstand. Und wenn auch dieser nicht erzielt werden kann, gilt es kleine Brötchen zu backen, so etwa mit einem von Selenskyj ins Spiel gebrachten einseitigen Waffenstillstand in der Luft, einem weiteren Gefangenenaustausch oder einer Fortsetzung der russisch-ukrainischen Verhandlungen auf der Ebene der Menschenrechtsbeauftragten.

Immer wieder wird als Gegenargument angeführt, dass ein Waffenstillstand wenig bringe, könne man doch sicher sein, dass es in zwei Jahren wieder zu einem Krieg kommen werde. Gleichwohl: Zwei Jahre Waffenstillstand sind besser als null Jahre Waffenstillstand. In zwei Jahren kann die Welt eine ganz andere sein. Und sicher ist: Auch dieser Winter wird hart in der Ukraine.

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Bernhard Clasen
Journalist
Jahrgang 1957 Ukraine-Korrespondent von taz und nd. 1980-1986 Russisch-Studium an der Universität Heidelberg. Gute Ukrainisch-Kenntnisse. Schreibt seit 1993 für die taz.
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8 Kommentare

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  • „Gleichwohl: Zwei Jahre Waffenstillstand sind besser als null Jahre Waffenstillstand. In zwei Jahren kann die Welt eine ganz andere sein.“

    Dieser Satz fasst es ganz gut zusammen. In zwei, drei Jahren könnten die aktuellen Protagonisten des Weltwahnsinns (Putin, Xi, Trump) den Weg alles Irdischen gegangen sein.

    Danach könnten noch beklopptere Epigonen noch schlimmer sein. Es könnte aber auch anders kommen. Man weiss es nicht. Mit den alten Betonköpfen wird sich aber nichts ändern. Der krampfhafte Wunsche des „Namens in der Geschichte“ als Ausdruck der Angst vor dem Tode, -können die nicht einfach anständig ableben wie andere Menschen auch?

    Leider wohl nicht. Gegen diese Krankheit hat die Menschheit in Jahrtausenden noch kein Mittel gefunden. Eher besiegt man den Krebs.

  • ""Russland will aktuell keinen Waffenstillstand ohne Vorbedingungen. Was Russland wirklich will, ist aber so klar nicht.""



    ===



    Der Kindermörder und sein Assistent Lawrow fordern laut ""Financial Times"" das was zwangsweise aufgrund der russischen Forderungen auf kurz oder lang zur Zerstörung und Vernichtung der gesamten Ukraine führen würde:

    In einem zugeschickten Memorandum während der Vorbereitungen für das geplatzte Ungarn-Treffen hat Moskau auf seinen wiederholt vorgetragenen Maximalforderungen beharrt schreiben die „FT“-Journalisten:



    1.. territoriale Zugeständnisse



    2.. drastische Reduzierung der ukrainischen Streitkräfte



    3.. eine Garantie, dass die Ukraine niemals Nato-Mitglied wird – also die bekannten russische Forderungen die lediglich dazu führen würden die Vernichtung der Ukraine nicht zu stoppen sondern in die Länge zu ziehen.

  • Danke für diesen nüchternen sachlichen Artikel, der nicht in das klassische "schwarz-weiß" Denken verfällt und die allgemeine Hysterie weiter anheizt.



    Auch wenn Putin ein Verbrecher ist, hilft es nicht die Ukraine unpassenderweise zu heroisieren. Es handelt sich schließlich nicht um einen Krieg zwischen Gut und Böse.



    Es ist wichtig die russischen Verbrechen klar zu benennen, jedoch trotzdem sich mit der Realität zu beschäftigen und Realismus walten zu lassen und sich nicht mit irgendwelchen Träumereien zu beschäftigen, die die schlimme Situation noch weiter verschlimmern.

  • „Heute werden bei den Angriffen auf Russland auch mit „unseren“ Waffen Kinder und andere Zivilisten getötet,.... "

    Im Gegensatz zu Russland aber nicht gezielt.



    Es ist Krieg, was erwarten Sie?

    • @Thomas Böttcher:

      Herr Clasen wohnt in Kiew. Ihn muss man bestimmt nicht belehren, was Krieg ist.

  • Danke für die realistische Einschätzung des Istzustandes.

    Leider ist aber ein Waffenstillstand ohne weitreichende Absprachen mit Russland nicht machbar. Die Vorstellungen, die auch viele westliche "Unterstützer" der Ukraine zum Besten gegeben haben, sind mit Russland nicht machbar. Die Idee ist ja, dass die Ukraine bis zu 800000 Mann unter Waffen hält und diese vom Westen mit allem, was er zu bieten hat in großen Mengen ausgerüstet werden. Man muss kein Genie sein, um zu sehen, dass eine solche Streitmacht antreten wird, um (mindestens) die verlorenen Gebiete zurückzuerobern. Darauf lässt sich niemand in Moskau ein, ohne dazu gezwungen zu sein.



    Die russische Seite wird also weiter so lange kämpfen, bis die Ukraine entweder die russischen Bedingungen akzeptiert (oder wenigstens einen großen Teil) oder der Ukraine die Soldaten ausgehen.

  • Die Ukraine wartet nicht mit dem Verhandeln. Putin verhandelt nicht minder Ukraine. Er verhandelt mit niemandem.

    Was ist daran so schwer zu verstehen? Putin besteht darauf, dass die Ukraine aufhört als Staat zu existieren. Das ist kein Verhandlungsangebot.

    Warum hört eigentlich niemand Putin zu? Einfach zuhören und ihm glauben was er sagt. Dann kann man sich solche Artikel sparen.

    Entweder die Ukraine ergibt sich und lässt zu, dass die ukrainische Kultur ausgelöscht wird, oder sie kämpft weiter.

  • Guter Artikel!

    Aber bei aller Liebe: Ich kann mir nicht vorstellen, daß ein Land wie die Ukraine, nach all dem was zuletzt Putin und zuvor Stalin mit dem Holodomor an Greueltaten an ihr angerichtet hat, keine Russophobie entwickelt. Das von den Ukrainern, auch der Regierung zu erwarten, erinnert mich an die nicht nachvolllziehbare andere Wange die man als wahrer Christ hinhalten soll. Diese Empfehlung hat noch nie Sinn gemacht und ist m.E. auch nicht christlich sondern selbstverletztend.

    Ich bin bis Heute völlig fasziniert davon dass die Ukraine, als ich etwa ein Jahr vor dem Krieg als Tontechniker für eine Recherchedoku meine Partnerin dort war, den Holodomor scheinbar vergessen zu haben schien.