Missbrauch in SOS-Kinderdörfern: Den Schützern hilflos ausgeliefert
Missbrauch, systematische Gewalt und ein pädophiler Großspender, dem Kinder zugeführt wurden: SOS-Kinderdorf Österreich vertuschte Erkenntnisse über Jahre.
 
Die Bronzestatue von Hermann Gmeiner ist verschwunden. Bis vor Kurzem stand die lebensgroße Figur des SOS-Kinderdorf-Gründers noch prominent vor der Kirche im tirolerischen Imst. Mehrere metallene Kinder suchen unter seinem weit geöffneten Mantel Schutz. Heute weckt diese Darstellung andere Assoziationen, weswegen sie nun abgetragen wurde – ein Symbol für den tiefen Fall einer der bekanntesten Hilfsorganisationen Österreichs, die auf der ganzen Welt tätig ist.
Was die Wiener Wochenzeitung Falter seit September in einer Serie von Enthüllungen aufdeckt, erschüttert Österreich: Gmeiner (1919–1986), der SOS-Kinderdorf nach dem Zweiten Weltkrieg gegründet hatte und vielfach für den Friedensnobelpreis nominiert wurde, soll mindestens acht Jungen in seinen Einrichtungen sexuell missbraucht haben.
Die Organisation wusste bereits seit 2013 von den Vorwürfen, schwieg aber zwölf Jahre lang und warb weiter mit dem Namen des Gründers um Spenden. Erst als der „Falter“ im September mehrere Missbrauchsfälle in den Kinderdörfern Moosburg (Kärnten) und Imst (Tirol) publik machte, kam die sorgfältig gehütete Wahrheit ans Licht.
Geld gegen Zugang
Schwer wiegen auch die inzwischen bekannt gewordenen Vorwürfe gegen den früheren Präsidenten Helmut Kutin, der 2024 verstarb, sowie gegen Geschäftsführer Christian Moser, der kürzlich dienstfrei gestellt wurde. Sie werden durch an den Falter zugespielte interne Dokumente schwer belastet. Beide sollen einem vermögenden Großspender wissentlich Zugang zu Kindern verschafft haben, obwohl sie von dessen pädophilen Neigungen und konkreten Übergriffen wussten.
Der Mann hatte demnach der Organisation über Jahre hohe Spendengelder zukommen lassen – allein 2010 flossen fast eine Million Euro nach Nepal –, wofür er im Gegenzug Kontakt zu Jungen forderte, den SOS-Kinderdorf ihm auch bereitwillig gewährte. Immer wieder hatte der Mann in nepalesischen Kinderdörfern logiert und übernachtet, wie bekannt gewordene E-Mails belegen.
Eigentlich ist es Spendern laut eigenen Statuten verboten, in den Kinderdörfern zu nächtigen, dies wurde jedoch missachtet. Schlimmer noch: Die Organisation flog laut Falter 2013 sogar einen 17-jährigen Nepali nach Österreich ein, damit er im Privathaus des pädophilen Großspenders übernachten konnte.
Als eine Betreuerin dokumentierte, wie der Spender einem Achtjährigen „in den Schritt“ fasste, reagierte die Organisation nicht mit Anzeige oder Hausverbot, weil man den lukrativen Geldgeber nicht vergraulen wollte. Selbst als SOS-Kinderdorf Nepal 2015 wegen der Vorfälle ein Besuchsverbot aussprach, blieb die österreichische Organisation passiv. Erst Ende 2021, nach massivem Druck durch eine Whistleblowerin, erstattete die Organisation Anzeige. Als die Polizei im Sommer 2022 zur Hausdurchsuchung anrückte, lag der 93-jährige Spender bereits im Sterben und entkam so der Justiz.
Parallel dazu enthüllen zwei von der Geschäftsführung jahrelang unterdrückte Studien ein „Missbrauchssystem“ in den Kinderdörfern Moosburg und Imst. Dort wurden zwischen 2003 und 2020 Kinder systematisch geschlagen, eingesperrt und mit Essens- und Wasserentzug bestraft. Die damalige Geschäftsführung unter Moser wusste seit mindestens 2016 von den Zuständen, schwieg jedoch.
Auch die zur Kontrolle verpflichteten Aufsichtsbehörden in Kärnten und Tirol versagten offenkundig, weswegen nun auch gegen sie wegen Amtsmissbrauch und Gefährdung des Kindeswohls ermittelt wird. Letzte Woche hat zudem der Internationale Dachverband von SOS-Kinderdorf, ebenfalls in Innsbruck ansässig, die österreichische Organisation suspendiert.
Moser selbst wurde angesichts der Enthüllungen Anfang Oktober dienstfrei gestellt. Er hatte 30 Jahre lang bei SOS-Kinderdorf Österreich gearbeitet, die letzten 17 Jahre an der Spitze.
„Keine andere Wahl, als wirklich alles offenzulegen“
Eine kürzlich einberufene „Reformkommission“ unter Vorsitz der früheren Höchstrichterin Irmgard Griss untersucht die Vorwürfe. „In dieser Situation hat SOS-Kinderdorf überhaupt keine andere Wahl, als wirklich alles offenzulegen“, sagte Griss dem Radiosender Ö1.
Fast wöchentlich kommt es zudem zu neuen Verdachtsfällen. SOS-Kinderdorf Österreich gibt an, alle „lückenlos“ aufklären zu wollen. Es verweist auf die einberufene Kommission, zudem werde intern geprüft. Auch habe es bereits personelle Konsequenzen – die Abberufung Mosers – gegeben.
Wie aber konnte der Missbrauch in diesem Ausmaß und über so viele Jahre passieren? „Rückblickend gab es über Jahre strukturelle und kulturelle Muster, die Transparenz erschwert und konsequentes Handeln verzögert haben“, heißt es auf taz-Anfrage. Und weiter: Diese Einsicht sei Teil einer Neuaufstellung mit dem Ziel, systematische Schwächen zu benennen und überkommene Muster zu brechen.
Laut aktuellem Jahresbericht (2024) finden bei SOS-Kinderdorf 1.768 Kinder „ein liebevolles und stabiles Zuhause“. Davon ist ein Großteil in Wohngruppen untergebracht, nur noch 171 in den klassischen Kinderdorf-Familien. Etwa zwei Drittel der 188 Millionen Euro Jahreseinnahmen stammen aus der öffentlichen Hand, der Rest sind überwiegend private und betriebliche Spenden. Weltweit ist die Organisation in 137 Ländern tätig und hat 2024 65.000 Kinder und Jugendliche in seinen Einrichtungen untergebracht.
Ob nun wirklich alles lückenlos aufgeklärt wird, bleibt abzuwarten. Klar ist schon jetzt: Ohne den Druck von außen, allen voran durch mutige Whistleblower und mediale Berichterstattung, wären die Fälle wohl nie ans Licht der Öffentlichkeit gelangt. Offenkundig haben alle internen und externen Kontrollen versagt.
Übrigens nicht nur in Österreich: Auch in deutschen SOS-Kinderdörfern kam es zu schweren Misshandlungen, zumindest 2007 bis 2015. Auch dort waren die Vorwürfe lang bekannt, auch dort hatten Kontrollmechanismen und Behörden versagt.
In Österreich brechen die Spenden bereits ein, das Vertrauen in die einst so ehrwürdige Institution ist erschüttert. Geschäftsführerin Annemarie Schlack verspricht zwar, dass man „Dynamiken ändern“ müsse, doch der Mythos vom liebevollen Kinderdorf ist unwiederbringlich zerbrochen.
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