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Soziologin über Merz' Stadtbild-Äußerung„Das ist eindeutig rassistisch“

Kanzler Merz zeichne ein Bild von einer weißen Gesellschaft als Norm, sagt die Stadtsoziologin Barwick-Gross. Die wahren Probleme in Städten seien andere.

Löste mit seiner Äußerung eine Debatte aus: Bundeskanzler Friedrich Merz Foto: Marijan Murat/dpa
Jasmin Kalarickal

Interview von

Jasmin Kalarickal

taz: Frau Barwick-Gross, Sie forschen als Stadtsoziologin zu Migration und urbaner Diversität. Was, würden Sie sagen, sind die größten Probleme im Stadtbild?

Christine Barwick-Gross: Vielleicht zu viel Polizei, zu viel Kontrollinstanzen, extreme Armut, extremer Reichtum und zu viel Rechtsextremismus. Zugegeben, das ist auch eine provokative Antwort auf die Aussage von Friedrich Merz.

Bild: Katarzyna Mazur
Im Interview: Christine Barwick-Gross

Christine Barwick-Gross, ist Soziologin und lehrt an der Humboldt-Universität zu Berlin. Sie forscht unter anderem zu urbaner Diversität und sozialen Ungleichheiten, insbesondere durch Prozesse der Rassifizierung und Migrantisierung.

taz: Bundeskanzler Merz hat vor Kurzem von Problemen im Stadtbild gesprochen und das inhaltlich mit Abschiebungen verknüpft. Wie schauen Sie als Soziologin darauf?

Barwick-Gross: Das ist erst mal eindeutig rassistisch. Merz stellt Personen, die als nicht-weiß oder migrantisch gelesen werden, als kriminell dar – deshalb verknüpft er das mit Rückführungen. Er zeichnet damit ein Bild von einer weißen deutschen Gesellschaft als Norm – und ignoriert die sehr lange Migrationsgeschichte des Landes. Deutschland hat eine koloniale Vergangenheit, wir hatten vor Jahrzehnten die Einwanderung von Gastarbeiter*innen. Zur deutschen Gesellschaft gehören Menschen, die als nicht-weiß gelesen werden – und das ignoriert und missachtet Merz mit seiner Aussage.

taz: Verwenden Sie in der Soziologie den Begriff Stadtbild?

Barwick-Gross: Nicht direkt. Aber wir gucken uns zum Beispiel Stadtteile oder Stadtquartiere an. Und es gibt viel Forschung zum Thema Super-Diversität. Da geht es um das Zusammenleben in Stadtteilen, die von Diversität geprägt sind. Zum Beispiel: Wie identifizieren sich Personen mit dem Stadtteil? Aber es wird auch untersucht, wie bestimmte Quartiere im politischen Diskurs konstruiert werden. Das sieht man in Berlin am Beispiel der Sonnenallee in Berlin-Neukölln.

taz: Wie meinen Sie das?

Barwick-Gros: Die Sonnenallee wird oft als Arabische Straße bezeichnet, sie wurde aber auch mal die Türkische Straße genannt. Neukölln als Bezirk wird oft als Ghetto dargestellt – und das stigmatisiert sehr viele Menschen, die dort wohnen, arbeiten oder zur Schule gehen.

taz: Sie hatten zu Beginn gesagt, zu viel Polizei und zu viele Kontrollen seien ein Problem. Wie haben Sie das gemeint?

Barwick-Gross: Wenn wir beim Beispiel Sonnenallee bleiben, die wird viel mit Kriminalität in Verbindung gebracht. Deshalb gibt es dort auch viel Polizeipräsenz und Kontrollen, auch vom Ordnungsamt. Diese Kontrollen basieren im Prinzip oft auf einem Verdacht aufgrund des Aussehens und aufgrund des Ortes, an dem man sich aufhält.

taz: Bundesbildungsministerin Karin Prien, auch CDU, hat in etwa gesagt, über die Wortwahl von Merz könne man diskutieren, aber die Kritik an seiner Äußerung sei überzogen.

Barwick-Gross: Ich finde diese Aussage ähnlich problematisch. Sie suggeriert ja trotzdem, dass Migration das Problem sei. Wenn wir uns aber städtische Probleme anschauen, dann geht es um ganz andere Fragen – um fehlende Wohnungen, um Bildungschancen, um Infrastruktur und Zugang zu Ressourcen in der Stadt. Das alles hat mit Migration erst mal nicht so viel zu tun, sondern eher mit sozialer Schicht und Bildung. Genau daran wird aber in vielen Städten gespart.

taz: Und wie wirkt sich das aus?

Barwick-Gross: In der Stadtforschung untersuchen wir zum Beispiel, wie und wo unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen wohnen. Es gibt ja Mi­gran­t*in­nen im klassischen Sinne, die selbst eingewandert sind. Dann gibt es Menschen, die schon seit Generationen in Deutschland leben, aber trotzdem noch migrantisiert werden. Beide Gruppen sind von Rassismus betroffen. Es ist viel schwieriger für sie, eine Wohnung zu finden, der Zugang zu Arbeit ist erschwert. Und das ist ein Riesenproblem.

taz: Insbesondere Geflüchtete sind anfangs in sehr beengten Gemeinschaftunterkünften untergebracht. Sie haben oft wenig andere Möglichkeiten, als sich draußen im öffentlichen Raum aufzuhalten.

Barwick-Gross: Geflüchtete und Asylbewerberinnen können sich vieles nicht aussuchen. Wie lange sie von Familienmitgliedern getrennt oder wie lange sie wo untergebracht werden. Es kann ja sehr lange dauern, bis über einen Asylantrag entschieden wird.

taz: Sie werden aber häufig als Bedrohung dargestellt – das hat auch Merz getan, als er sagte, man müsse nur mal die Töchter fragen.

Barwick-Gross: Erneut bedient er diese rassistischen Stereotype und spielt Gruppen gegeneinander aus. Es gibt natürlich ein großes Problem mit Gewalt gegen Frauen, aber das passiert vor allem in den eigenen vier Wänden und auch das hat wenig mit Migration zu tun. Die CDU und Merz sagen zwar, sie wollen sich von der AfD abgrenzen, aber sie übernehmen genau den gleichen Diskurs.

taz: In Dänemark hat genau so ein Diskurs auch reale Auswirkungen. Dort werden Menschen zwangsumgesiedelt, wenn zu viele Personen mit nicht-westlicher Migrationsgeschichte und deren Nachkommen in einem Stadtviertel leben.

Barwick-Gross: So eine Art Quotenregelung gab es auch mal in Berlin, das nannte sich Zuzugssperre, sie galt von 1975 bis 1990 und bezog sich auf die Bezirke Kreuzberg, Wedding und Tiergarten.

taz: Ach ja?

Barwick-Gross: Es wurde festgelegt, dass zum Beispiel türkische Gast­ar­bei­te­r*in­nen nicht mehr in diese Bezirke ziehen dürfen. Zuerst wurden sie dort bewusst einquartiert, weil die Häuser runtergekommen waren. Aber dann war es plötzlich zu viel und es gab eine Zuzugsssperre. Die wurde allerdings nie richtig durchgesetzt.

taz: Ein weiterer Unterschied zu Dänemark ist ja, dass dort Menschen real gezwungen werden, ihr Viertel zu verlassen, in dem sie bereits wohnen.

Barwick-Gross: Das ist wirklich sehr problematisch. Es geht ganz zentral um die Frage: Wer gehört zur Gesellschaft dazu und woran will man das festmachen? Es kommt ja auch niemand auf Idee, es als Problem darzustellen, wenn sehr reiche Bezirke sehr homogen sind.

taz: Können Sie Friedrich Merz einen Tipp geben?

Barwick-Gross: Er sollte sich bei all den Bürger*innen, die sich von dieser Aussage getroffen und angesprochen fühlen, entschuldigen. Und er sollte sich mit dem Thema Rassismus und genauer mit der Geschichte Deutschlands beschäftigen. Vielleicht sieht er dann, wie divers unsere Gesellschaft tatsächlich ist.

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