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Klimakrise in BrüsselIndustrie und Länder greifen EU-Klima-Architektur an

Die Welt tut deutlich zu wenig für den Klimaschutz, warnt ein Bericht. Derweil wollen einige Unternehmen und EU-Länder noch stärker bremsen.

Der Weg zur Klimaneutralität ist noch weit, auch weil zu viel auf Gaskraftwerke gesetzt wird, anstatt endlich richtig zu handeln Foto: Jochen Tack/imago
Jonas Waack

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Jonas Waack aus Berlin

taz | Während ein Bericht die weltweiten Klimaschutzanstrengungen als vollkommen unzureichend beschreibt, greifen Teile der Industrie und einige EU-Mitgliedsländer die Klimaschutz-Architektur der Europäischen Union an.

Der State of Climate Action Report zeigt, dass der Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft hin zur Klimaneutralität deutlich zu langsam vorangeht. Weltweit müsste die Stromerzeugung aus Gas zum Beispiel siebenmal schneller zurückgehen, Menschen in reichen Ländern müssten fünfmal schneller ihren Rindfleisch-Verzehr reduzieren, und die Mangrovenwälder der Erde müssten mehr als zehnmal so schnell wiederhergestellt werden wie derzeit.

In fünf Bereichen geht die Entwicklung noch nicht einmal in die richtige Richtung, sondern muss eine Kehrtwende hinlegen. Dazu gehören unter anderem die anhaltenden staatlichen Gelder für fossile Unternehmen, die trotz der zunehmenden Eskalation der Erderhitzung zunehmen. Auch die Stahlherstellung wird weltweit immer klimaschädlicher, müsste aber zunehmend mit Strom und Wasserstoff erfolgen.

Industrie greift Klima-Architektur der EU an

In der EU soll der Emissionshandel 1 (ETS) den CO₂-Ausstoß der Stahlindustrie und anderer Industriebranchen sowie der Stromerzeugung senken. Im ETS wird eine begrenzte Zahl von CO₂-Zertifikaten versteigert, die jeweils den Ausstoß einer Tonne CO₂ erlauben. So sollen die CO₂-Emissionen der Industrie nach und nach begrenzt werden, weil die Zertifikate immer seltener und deshalb teurer werden. Das System ist die Grundlage der europäischen Klimaschutz-Architektur – und mächtige Konzerne laufen dagegen nun Sturm.

Bislang erhält die Industrie noch viele kostenlose Zertifikate, um mit internationalen Wettbewerbern mithalten zu können, die keinen CO₂-Preis bezahlen. 2026 tritt jedoch eine Art CO₂-Zoll in Kraft, durch den zum Beispiel importierter Stahl ebenfalls einen CO₂-Preis bekommt. Der Wettbewerbsnachteil der EU-Industrie sinkt also, und deshalb auch die Zuteilung kostenloser Zertifikate.

In einem Brief an die EU-Kommission warnten 79 Unternehmens-Vorstände, darunter der Stahlhersteller ThyssenKrupp und der Chemieriese BASF, der Wegfall der kostenlosen Zertifikate bedrohe „nicht nur einzelne Transformationsprojekte, sondern die Wettbewerbsfähigkeit der industriellen Basis in Europa insgesamt“. Ihnen zufolge gibt es noch zu viele Schlupflöcher beim CO₂-Zoll.

Auf dem Kongress der Gewerkschaft Bergbau Chemie Energie (IG BCE) kündigte Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) Anfang der Woche Entlastungen beim CO₂-Preis an.

Der Grünen-Politiker Michael Bloss hält die Debatte für „ein Ventil, aber keine Lösung“. Entscheidend für die Wettbewerbsfähigkeit sei eine strategische Industriepolitik mit „Leitmärkten für klimaneutrale Produkte, Klimaschutzverträge für Investitionen und kurzfristige Entlastung bei den Stromkosten – nicht das Aufweichen des Emissionshandels“, sagte der Europaparlamentarier der taz.

Vor allem die Chemieindustrie sorgt sich auch darum, dass ab Ende der 2030er womöglich gar keine CO₂-Zertifikate mehr versteigert werden. Das würde den Ausstoß von CO₂ deutlich verteuern, um die europäischen Klimaziele einzuhalten. Unterstützung erhält die Industrie von Klimaminister Carsten Schneider (SPD), der sich gegen ein Auslaufen der Zuteilung von Zertifikaten aussprach. Darauf hatte auch die IG BCE gedrungen.

Auch EU-Länder wollen weniger Klimaschutz

Der Angriff auf die europäische Klima-Architektur beschränkt sich aber nicht auf die Industrie. Auch einige süd- und osteuropäische Staaten wie Polen, Ungarn und Zypern wollen den europäischen Klimaschutz aushöhlen.

Sie schickten am Montag einen Brief an Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (CDU) und forderten, den Start des ETS 2 von 2027 auf 2030 zu verschieben. Der ETS 2 funktioniert so wie der ETS 1, nur dass Heizen und Tanken statt Strom und Industrie einen CO₂-Preis bekommen.

Über eine Verschiebung wird schon länger diskutiert, nicht zuletzt, weil in Frankreich 2027 Präsidentschaftswahlen anstehen. Ein neuer CO₂-Preis für Au­to­fah­re­r*in­nen und Haushalte mit fossilen Heizungen würde die Rechtsextremen stärken, fürchten einige in Brüssel und Berlin.

Merz hatte im September das EU-Klimaziel verzögert

In Deutschland gibt es bereits einen CO₂-Preis, in vielen europäischen Ländern aber nicht. Wer zum Beispiel in Ostpolen noch mit Kohle heizt, müsste 2027 plötzlich deutlich mehr zahlen, um seine Wohnung warmzuhalten. Dass der ETS 2 im Jahr 2027 startet, ist aber seit einigen Jahren klar. Die Regierungen hätten deshalb zum Beispiel Wärmepumpen oder E-Autos fördern können, um die Bür­ge­r*in­nen vor einem hohen CO₂-Preis zu schützen.

„Reformiert man das Instrument noch vor Einführung, stellt es infrage oder verschiebt es, gefährdet man nur die Glaubwürdigkeit der gesamten Klimapolitik“, sagt Niklas Illenseer von der Denkfabrik Dezernat Zukunft zum Vorstoß der Osteuropäer*innen. Im ETS 2 gehe es um langfristige, stabile Rahmenbedingungen.

Die EU-Kommission reagierte auf den Druck aus Ost- und Südeuropa und kündigte an, Einnahmen aus dem ETS 2 schon vor seinem Start über Kredite der Europäischen Investmentbank zu verteilen, um Entlastungsmaßnahmen finanzieren zu können. Das hält Illenseer für eine gute Idee. Statt den Start zu verschieben, müsse jetzt in die Dekarbonisierung der betroffenen Bereiche investiert werden, zum Beispiel in die Gebäudesanierung und Ladeinfrastruktur.

Zur Sprache kommen werden die Attacken der Industrie und Länder auf einem Treffen der EU-Regierungschef*innen am Donnerstag in Brüssel. Sie beraten außerdem über den Vorschlag der Kommission für das EU-Klimaziel, bis 2040 90 Prozent der CO₂-Emissionen einzusparen. Merz hatte eine Abstimmung im September blockiert, obwohl es dem deutschen Koalitionsvertrag entspricht. Eine Entscheidung wird am Donnerstag nicht erwartet.

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