: Ein großes Trainingslager der Geschichte
Je weiter der Diskurs sich von der Realität entfernt, desto stärker weckt er Assoziationen an die letzten Jahre der DDR. Solange man dranbleibt, ist nichts aussichtslos
Von Aljoscha Begrich und Christian Tschirner
Vor ein paar Jahren saßen wir in einer Diskursveranstaltung in der Berliner Schaubühne. Ein westdeutscher Fernsehsoziologe sprach mit einer Autorin aus Brandenburg über den Aufstieg der AfD, die zu diesem Zeitpunkt im Osten auf einen Wähleranteil von gut zehn Prozent kam. Die Autorin berichtete von ihrer Kindheit in den 1990er-Jahren, den Schock der Massenarbeitslosigkeit in ihrer Heimatstadt, die seither ein Drittel ihrer Einwohner verloren hat. Sie sprach über schmerzhafte Brüche und Kontinuitäten autoritärer Einstellungen. Und sie äußerte die Ahnung, dass der Aufstieg der Rechten im Osten das Vorzeichen einer Entwicklung sein könnte, die bald ganz Deutschland betreffe. Das zum großen Teil Westberliner Publikum hörte befremdet, ungläubig, zum Teil erkennbar verärgert zu: Mein Gott, diese Ossis mit ihren Befindlichkeiten! Was haben wir damit zu tun? Es war Dezember, auf dem Ku’damm fiel Schnee. Der Fernsehsoziologe verabschiedete sich nach anderthalb Stunden und wünschte allerseits schöne Feiertage. Im Übrigen, so beruhigte er das Publikum, geschähen derartige Veränderungen aus soziologischer Sicht immer sehr, sehr langsam.
Diese Mitteilung aus dem Reich soziologischer Wissenschaft oder westdeutscher Selbstgewissheit kam so unerwartet, war so ohne jedes Verständnis für das eben Geschilderte, dass wir verblüfft losprusteten. Während der Großteil des Publikums applaudierte, starrten wir Ostdeutschen uns ungläubig an. Auch die Autorin war sichtlich verblüfft. Welche sehr langsamen Veränderungen waren gemeint? Der Zusammenbruch der DDR, der wirtschaftliche Anschluss an die Bundesrepublik mit all seinen Verwerfungen, auch der Aufstieg der AfD passierten doch rasend schnell. War so etwas für den Westen auszuschließen? Waren wir Ossis ein soziologischer Sonderfall?
Heute, keine fünf Jahre später, liegt die AfD deutschlandweit bei über 20 Prozent. Vermutlich gehört sogar ein Teil des damaligen Publikums inzwischen zu ihrer Klientel. Die politische Mitte rückt in atemberaubendem Tempo nach rechts und beschwört gleichzeitig – in einem Akt kollektiver Autosuggestion – unsere demokratischen Werte. Man muss nicht Äpfel mit Birnen vergleichen, aber die Ablösung des offiziellen politischen Diskurses von bedeutenden Teilen der Realität erinnert inzwischen stark an die Spätphase der DDR. Es ist kein Zufall, dass inzwischen auch ähnliche Witze im Umlauf sind. Die vier größten Probleme der Deutschen Bahn: Frühling, Sommer, Herbst und Winter. Die politische Lage muss nicht, kann aber bei Menschen mit DDR-Sozialisation durchaus Heiterkeit auslösen. Ja, Sie haben richtig gelesen: Heiterkeit.
Als wir (die Autoren) vor einem Jahr einen nüchternen, tagebuchartigen Artikel über die Dominanz rechter Diskurse im Osten und das mutlose Agieren der Politik vor Ort veröffentlichten, war die breite Reaktion darauf: „Mutig, sehr mutig!“ Offenbar ist das Aussprechen des Offensichtlichen alles andere als normal. Aber was genau erfordert hier Mut? Warum fällt es so schwer, über den drohenden Kollaps unseres Systems zu sprechen? Warum wird in großen Teilen der Öffentlichkeit so getan, als könne man den Abschied sehr vieler Menschen von demokratischen Werten und Menschenrechten ignorieren?
Vermutlich ist die Idee, die Entwicklung der westlichen Demokratien sei tatsächlich das Ende der Geschichte, immer noch tief im öffentlichen Bewusstsein verwurzelt. Obwohl nicht nur Schwurbler, sondern längst auch politische Mandatsträger mit obskuren alternativen Wahrheiten hantieren, ist der Glaube an eine gemeinsame, staatlich vermittelte Realitätsvorstellung fast unausrottbar und bildet gewissermaßen die Kehrseite zu den immer schrilleren Verschwörungstheorien. Vielleicht ist es aber auch die Fantasielosigkeit einer gesellschaftlichen Schicht, die soziale Brüche nur vom Hörensagen kennt; die sich einfach nicht vorstellen kann, dass die Dinge auch prinzipiell anders sein können als gewohnt.
In seinem Essay „Versuch in der Wahrheit zu leben“ schrieb der tschechische Dissident und spätere Präsident Václav Havel 1978, jenseits von ideologischen Ritualen hätten sich in Osteuropa längst dieselben Lebenswerte durchgesetzt wie in allen westlichen Ländern. Im Grunde habe es sich also nur um eine Spezialform der Konsum- und Industriegesellschaft gehandelt. Äußerlich im Rückstand, sei der real existierende Sozialismus in Wirklichkeit eine Art Erinnerungsort, der dem Westen die eigenen latenten Richtungstendenzen enthülle. Sollte Havels Prognose stimmen, war unsere Jugend im real existierenden Sozialismus also ein privilegierter Blick in die Zukunft, eine Art Trainingslager für das 21. Jahrhundert.
Was können wir nun aus diesem Trainingslager berichten? Was haben wir gelernt, was uns heute, da das Ende der westlichen Demokratien unmittelbar droht, hilfreich sein könnte? Wir wurden zwar unter besonderen Umständen trainiert, begriffen uns aber als Teil der Welt. Wir lasen alles, was uns über die Welt da draußen in die Finger kam, sei es über den antikolonialen Befreiungskampf, über die Umweltbewegung, über die Studentenbewegung oder den Feminismus. Die evangelischen Kirchen in der DDR, in deren Umfeld unser Trainingslager stattfand, hatten sich in den 1980er-Jahren dem Konziliaren Prozess verschrieben, also eine gegenseitige, globale Verpflichtung auf Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung. Wir wussten sehr wohl, dass der Kapitalismus in dieser Hinsicht nicht das Gelbe vom Ei war. Klar war uns aber auch, welche Rechte und Freiheiten er der Mehrheit seiner Bewohner*innen gewährte. Wir hatten ein Gefühl dafür, dass der Kapitalismus eine Reihe von Problemen nicht nur nicht gelöst, sondern im Grunde radikal verschärft hatte.
Auch in der späten DDR waren die multiplen Probleme nicht zu übersehen. In der Öffentlichkeit spielten sie trotzdem kaum eine Rolle – und nicht nur in der direkt gelenkten medialen Öffentlichkeit. Der Versuch der kirchlichen Umweltbewegung, bei ihren Protesten gegen die groteske Verschmutzung im Raum Bitterfeld-Wolfen eine breitere Unterstützung der lokalen Bevölkerung zu mobilisieren, scheiterte beispielsweise kläglich. Das Bemühen der zahllosen gesellschaftlichen Einrichtungen vom Kindergarten bis zum Altersheim, vom Fernsehballett bis zum Stadttheater kreiste um die Aufrechterhaltung ideologischer Rituale. Wirklichkeit hatte darin keinen Platz. Eine kritische Medienrezeption, also die Fähigkeit, zwischen den Zeilen zu lesen, ideologische Phrasen gerade daraufhin zu überprüfen, was sie verschweigen oder umdeuten sollten, wurde ausgiebig trainiert. Lügen offenbaren den Verblendungsgrad einer Gesellschaft dort am grellsten, wo sie freiwillig und in aller Naivität wiederholt werden. Es war eine besondere Form des Trainings, in der Schule oder am Arbeitsplatz auf die vielen Widersprüche in den offiziellen Verlautbarungen oder auf die vielen Widersprüche in der marxistischen Literatur hinzuweisen. Mehr Anstrengung und Disziplin erforderte es, auch Nachbarn und Kommilitonen immer und immer wieder auf den verinnerlichten Unsinn hinzuweisen.
Offene Räume für Austausch und Vernetzung waren eine Grundbedingung für unser Trainingslager: In den Gemeinderäumen der evangelischen Kirchen trafen sich damals Hippies und Punks mit Tramperschuhen, Jesus-Latschen oder Schnürstiefeln. Daneben oder dazwischen sammelten Umweltaktivisten Daten und kopierten Drucksachen, Feministinnen gaben Sex-Workshops, Schwule und Lesben diskutierten das Patriarchat, Bausoldaten tauschten Erfahrungen aus oder berieten Kriegsdienstverweigerer. Nicht alle hier waren einer Meinung, aber sie stritten miteinander um eine gemeinsame Zukunft. Es ging nicht darum, wer von diesen Gruppen am stärksten von Repressionen betroffen war und wer weniger, es ging um gegenseitiges Verständnis und Solidarität. Hätten wir das Wort schon gekannt, wir hätten von intersektionalem Widerstand gesprochen. Das Bilden schmutziger Allianzen, also von Bündnissen, die nicht in allen Punkten inhaltlich übereinstimmen mussten, war überlebenswichtig.
Trainiert wurde auch das Aushalten von Ambivalenzen: Einige von uns waren, das wussten wir, eingebunden in staatliche Machtstrukturen. Von niemandem hier wurde der Nachweis einer weißen Weste verlangt. Auch die Sitzungen an den runden Tischen der Wendezeit wurden meist von kirchlichen Akteuren initiiert. Sie wussten, wie die unterschiedlichsten Akteure produktiv miteinander streiten können. Heute ist eine Diskussionskultur, die derart unterschiedliche gesellschaftliche Akteure einzubinden versteht, fast so utopisch wie ein Champions-League-Sieg des FC Magdeburg.
Natürlich wussten wir damals, dass die unterschiedlichen Gruppen unseres Trainingslagers, auch alle zusammengenommen, nur eine winzige Minderheit bildeten. Trotzdem: Auch ohne demokratische Legitimation glaubten wir an ein demokratisches, gleichberechtigtes Miteinander. Und wir glaubten daran, dass auch kleine Gruppen gesellschaftsverändernde Kräfte mobilisieren können.
Den rasanten Zusammenbruch der DDR, das Ende des real existierenden Sozialismus, sah niemand voraus. Wir wussten um die Möglichkeiten des Machtapparats, jeden Protest im Keim zu ersticken. Wir hatten, was eine Verbesserung unserer Lage betraf, also wenig Grund zu Optimismus. Und waren zuversichtlich. Und das ist vielleicht die wichtigste aller Lektionen. Denn nicht nur, was den Aufstieg rechter oder faschistischer Kräfte betrifft, das System, dass wir vor ihnen zu schützen versuchen, steuert geradewegs und offenbar mit der Zustimmung auch der politischen Mitte in eine ökologische Katastrophe. Was wir aus dem Trainingslager unserer Jugend lernen können, ist, ohne die geringste Hoffnung auf Erfolg, sozusagen gegen jede historische Notwendigkeit, weiter das zu tun, was wir aus ethischer Überzeugung für richtig halten. Einfach um unserer selbst willen. Havel nannte diese Haltung Zuversicht. Und aus dieser Zuversicht heraus kann sogar angesichts drohender Katastrophen so etwas wie Heiterkeit erwachsen.
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