Psychotherapeutin über Integration: „Angst lähmt nur“
Mit Migration kennt sich Saher Khanaqa-Kükelhahn aus. Sie kam als Jugendliche aus dem Irak nach Deutschland, jetzt hilft sie anderen beim Ankommen.
taz: Was ist das für ein Bällchen, Frau Khanaqa-Kükelhahn?
Saher Khanaqa-Kükelhahn: Ach, ich brauche immer was zum Spielen, wenn ich nachdenke. Deshalb habe ich diesen Ball, um ihn von der einen in die andere Hand zu werfen. Und dann ist es auch toll, wenn jemand reinkommt, dem schmeiße ich den Ball zu und schon ist man miteinander im Gespräch.
taz: In dem man sich gegenseitig die Bälle zuwirft?
Khanaqa-Kükelhahn: Ja, aber das ist gar nicht so psychologisch gedacht. Es macht einfach viel Spaß! Also das Kind in mir ist nicht tot. Gott sei Dank.
Der Mensch
Saher Khanaqa-Kükelhahn, 1968 in Kirkuk, Irak, geboren, ist Psychotherapeutin mit eigener Praxis in Bremen. Seit 30 Jahren macht sie ehrenamtliche Integrationsarbeit und entwickelt Konzepte zur Demokratiebildung. Ihr Buch „Mein Ich – Mein Zuhause“ ist 2025 im Kellner Verlag erschienen.
Das Engagement
Khanaqa-Kükelhahn ist unter anderem Initiatorin und Vorsitzende des gemeinnützigen Vereins Lichtgrenze, der Bildungs- und Qualifizierungsmaßnahmen für Menschen mit Fluchterfahrung organisiert und durchführt. Auf der Bühne kann man sie bei Improtheaterabenden wie „Let’s talk about Sex, Fatma“ oder auf der Suche nach dem Supermigranten erleben – auch im Rahmen des Lichtgrenze Kulturfestivals „Un.Mute“, das derzeit und noch bis Mitte Dezember im Bremer Lagerhaus und in der Theaterkantine läuft.
taz: Das Nicht-psychologisch betonen Sie auch, weil Sie neben der Firma Face2Face hier eine Praxis als Psychotherapeutin führen …
Khanaqa-Kükelhahn: Ja, meine eigene Praxis habe ich seit 1994 und ich liebe diesen Job, auch wenn ich ihn nicht mehr komplett ausüben kann, weil ich so viel anderes zu tun habe: Ich finde es total schön, präventiv zu arbeiten, rauszugehen und Sachen aufzufangen, bevor die Leute eine Therapie brauchen. Dafür entwickle ich Konzepte und trage sie durch Projekte mit Einrichtungen, Schulen und dem Gesundheitssystem in die Gesellschaft rein, um Räume für Demokratieverständnis zu schaffen.
taz: Eben dafür haben Sie 2024 die Firma Face2Face gegründet …
Khanaqa-Kükelhahn: Ja, und den Lichtgrenze-Verein. Den brauchen wir, um Projektgelder für die gemeinnützige Arbeit einzuwerben, und die GmbH war nötig, um unsere Weiterbildungsmaßnahmen zertifizieren zu lassen. Vorher war rund 14 Jahre das Bürgerzentrum Vahr unser Träger. Aber wir waren dann am Ende einfach zu groß geworden: Wir hatten als Abteilung über 100 Beschäftigte, gegenüber 9 Verwaltungsmitarbeitern des Bürgerzentrums, das ist ja ein ziemliches Ungleichgewicht.
taz: In dem Bremer Stadtteil Vahr sind Sie aber weiter aktiv?
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Khanaqa-Kükelhahn: Ja, wir betreiben hier die pädagogische Mensa der Oberschule an der Kurt-Schumacher-Allee, dafür haben wir einen Fünfjahresvertrag. Da kochen Frauen, die vorher arbeitslos waren und super glücklich sind, wieder am Leben teilnehmen zu können. Und Kochen lernen ist in der neunten Klasse im Curriculum verankert: Die Kids lernen bei uns also kochen, mit frischen Biozutaten.
taz: Die Vahr ist zwar ein bekannter Stadtteil, aber einer mit Armutsproblem?
Khanaqa-Kükelhahn: Ja. Also wir haben da viel Kinderarmut. Es gibt einen sehr großen Anteil an Familien, bei denen das Geld einfach nur bis zum 20. vom Monat reicht. Da gibt es dann kein vernünftiges Essen mehr zu Hause, und das in der Pubertät! In dem Alter essen die ja wie Scheunendrescher! Wir haben deshalb im ersten Jahr versucht, das komplett kostenlos anzubieten. Jetzt im zweiten Jahr hatten wir nicht mehr so viel Geld und mussten überlegen, wie kriegen wir das denn hin? Wir dürfen ja auch kein Minus machen.
taz: Sie hatten aber Ideen, wie Sie das Problem lösen?
Khanaqa-Kükelhahn: Ideen und Leute, die uns unterstützen. Zum Beispiel den Spitzenkoch Philipp Probst aus Bremerhaven. Der ist total nett. Den haben wir gefragt, ob er mal für uns kochen könnte. „Klar, mach ich“, hat der gesagt. „Ich komme mit dem gesamten Küchenteam.“ Mit dem veranstalten wir also ein Charity-Essen: Dafür stellt uns das Theater Bremen die Bühne zur Verfügung und dann kocht Philipp da ein veganes Drei-Gänge-Menü. Wir kochen selbst in der Theaterkantine ja auch möglichst vegan. Wenn dazu so 200 Leute kommen und jeder zahlt 100 Euro, können wir damit wieder ein Halbjahr das Essen umsonst abgeben. Und für danach haben wir in unserer Upcycling-Werkstatt so viele Taschen genäht, dass …
taz: Die Upcyclingwerkstatt im Einkaufszentrum neben dem Bürgerzentrum?
Khanaqa-Kükelhahn: Da haben wir unseren Laden, direkt neben dem Eiscafé. Und außer Kleidung, die wir im Shop anbieten, nähen wir da aus alten Bannern Kulturbeutel und andere Taschen. Da habe ich mit Firmen gesprochen. Die würden die als Geschenk für ihre Mitarbeiter abnehmen, und mit dem Erlös sponsern wir wieder ein Jahr lang das Schulessen.
taz: Also Projekt und Projekt und Projekt sind bei Ihnen alle miteinander verzahnt?
Khanaqa-Kükelhahn: Ja, alle. Ich glaube, wir haben mehr als 30 Projekte, die miteinander verzahnt sind.
taz: Auch die erwähnte Theaterkantine …
Khanaqa-Kükelhahn: Genau.
taz: Da arbeiten Geflüchtete in der Küche?
Khanaqa-Kükelhahn: Die bekommen da eine Gastronomieausbildung, und außerdem haben wir dort montags und freitags das Global Café. Da kommen Bremer*innen, die meisten sind Rentner, die trinken zusammen mit Geflüchteten Kaffee und schnacken mit denen und helfen ihnen vielleicht auch, Formulare auszufüllen. In den Sprachkursen an der Volkshochschule sind die Migrant*innen ja meistens unter sich, und es fehlt die Möglichkeit, ein Alltagsgespräch zu führen. Oft trauen die sich halt nicht, rauszugehen und anzuwenden, was sie gelernt haben. Die Barrieren und die Angst sind einfach zu groß.
taz: Sie dagegen erlebe ich als eine angstfreie Person. Oder täusche ich mich?
Khanaqa-Kükelhahn: Nein, das stimmt schon. Ich bete natürlich dafür, dass meine Kinder gesund bleiben oder so. Aber Angst, nein, das lasse ich nicht zu. Angst lähmt nur, und ich will ja gestalten. Eigentlich müsste mir die politische Entwicklung in Deutschland Angst machen, weil ich aus einer Diktatur komme und ja nun auch hier als Migrantin gelesen werde. Viele meiner Freunde wollen deshalb mittlerweile raus aus Deutschland. Aber da sage ich: Nein, jetzt erst recht nicht. Ich bleibe hier! Ich werde doch mein Deutschland und mein Bremen davor schützen, dass es total abdriftet. Also Angst auf keinen Fall. Ich habe null Angst.
taz: Wie kommt das?
Khanaqa-Kükelhahn: Ich glaube, das hat mit meiner Erziehung und meiner Familie zu tun. Wir sind alle so sehr durch Gefahren durchgegangen für unsere Gesinnung oder das Ziel, kurdische Politik zu betreiben. Ich glaube, dass wir einfach von Anfang an die Angst abgelegt haben.
taz: Die Diktatur, aus der Sie kommen, war die von Saddam Hussein im Irak: Welche Vorstellung von Deutschland hatten Sie, als Sie damals in den Achtzigern hier ankamen?
Khanaqa-Kükelhahn: Na ja, wir kannten das schon. Mein Vater hatte in Deutschland in den 1970ern seine Doktorarbeit geschrieben und wir haben ihn da auch einmal besucht. Lustiger war die Vorstellung der Deutschen vom Irak. Das war für die eine einzige Wüste. Ich bin damals allen Ernstes gefragt worden, ob ich einen Kulturschock bekommen hätte, als ich einen Kühlschrank gesehen habe!
taz: Bei uns kam der Irak damals nur als Kriegsschauplatz vor.
Khanaqa-Kükelhahn: Das war der Iran-Irak-Krieg, ja: Wir sind 1983 hier angekommen. Meine Eltern konnten einfach nicht aufhören, politisch zu arbeiten, dabei war mein Vater deswegen gerade erst wieder in Haft gewesen. Es gab alle paar Stunden Fliegeralarm, das heißt, alle mussten in den Bunker, man konnte sich also auch nicht gut verstecken. Dass wir weggehen, hatten unsere Eltern heimlich organisiert. Eines Tages war mein Vater nach Hause gekommen und er sah total gestresst aus: Wir mussten ganz schnell ein paar Sachen packen, dann hat uns ein Auto abgeholt und ist mit uns von Kirkuk nach Bagdad gefahren, zum Flughafen. Da hat uns dann jemand durch eine Seitentür reingeschmuggelt.
taz: Und dann?
Khanaqa-Kükelhahn: Mein Vater hatte alles verkauft, was wir hatten, und hat den Männern am Flughafen Geld gegeben, und die immer nur so: „Schnell!, schnell!“, so haben die uns da durchgeschleust, bis ins Flugzeug rein, alle mit Herzklopfen. Und dann sind wir in Frankfurt gelandet. Als wir ausgestiegen sind, hat meine Mama echt Panik bekommen. Vorher nicht, aber dieses Gefühl, es geschafft zu haben, und das alles wieder verlieren zu können, da ist sie regelrecht panisch geworden, hat bei allen schwarzhaarigen Personen auf dem Flughafen gedacht, das sind jetzt Leute von Saddam, die uns doch noch schnappen.
taz: Das hat Sie damals stark beschäftigt?
Khanaqa-Kükelhahn: Diese Angst der Erwachsenen, die werde ich nie vergessen. Das war schon etwas Besonderes. Ich habe nie wieder so viele verängstigte Erwachsene gesehen wie damals im Irak. Für uns Kinder war das anders. Für uns war es oft fast aufregend: Ich weiß noch, einmal kamen wir nicht nach Hause, weil wir über eine Brücke mussten und die war gesperrt. Und da standen wir bei irgendwelchen Idioten von Soldaten, die mit ihren Kalaschnikows gegen Hubschrauber geschossen haben, völlig plemplem. Wir haben dann die Patronenhülsen gesammelt, weil wir es cool fanden. Später haben wir uns vom Automechaniker im Dorf Löcher reinstanzen lassen in die Hülsen und uns Ketten daraus gemacht. Als Kind machst du halt immer das Beste daraus. Ich glaube, es war eine ganz normale Kindheit, nur, dass sie halt mit Krieg behaftet war. Vermutlich kann der Mensch Extremsituationen gar nicht so lange aushalten. Also muss er sich dran gewöhnen und trotzdem seinen Alltag leben, als wäre es normal.
taz: Aber geprägt hat Sie die Situation doch?
Khanaqa-Kükelhahn: Sicher. Später, als ich Psychologie studiert habe, habe ich darüber nachgedacht. Wir haben uns zum Beispiel morgens alle voneinander so verabschiedet, egal, ob wir zur Schule oder einkaufen gegangen sind, als ob es ein Abschied für immer wäre, von der Oma, von den Tanten, von Mama, vom Papa, von den Geschwistern. Und zugleich, wenn man in so einer Situation gelebt hat, ist das Vertrauen Müll. Du vertraust niemandem mehr, keinem Nachbarn, auch den Freundinnen nicht, weil du ja weißt, die Leute werden eingeschüchtert und erpresst oder bestochen, um andere zu verraten. Es kam ja auch vor, dass ein Klassenkamerad und die ganze Familie auf einmal weg waren und keiner wusste, sind sie nach Süden deportiert oder gleich umgebracht worden. Das ist ja vielen kurdischen Familien so ergangen. Später hat man dann die Massengräber gefunden.
taz: Die Lehrkräfte boten auch keinen Halt?
Khanaqa-Kükelhahn: Die waren total verängstigt: Einmal, nach den Sommerferien, war auf einmal die kurdische Sprache komplett verboten und man hatte unsere Lehrer durch arabische Leute aus dem Süden ersetzt. Die hatten keinerlei Ausbildung. Die bekamen einfach ein Auto, ein Haus und 30.000 Dinar Prämie für den Umzug und sollten uns dann unterrichten, auf Arabisch, obwohl wir alle kein Arabisch sprachen.
taz: Wie war denn dann hier in Deutschland der Sprachunterricht organisiert?
Khanaqa-Kükelhahn: Es gab doch keinen Sprachunterricht! Gar nichts gab es! Friss oder stirb, das war das Motto. Aber letztlich war das nicht so schlimm. Ich habe mich ziemlich gut integriert.
taz: Und drei Jahre später Abi gemacht?!
Khanaqa-Kükelhahn: Ich bin keinmal sitzengeblieben oder so! Es war sehr schwer. Also diese Sprache zu lernen und dann in einem Schulsystem zu existieren, wo die Sprache einerseits so präsent ist, aber andererseits jede Unterstützung fehlte: Es gab ja noch nicht mal ein Kurdisch-Deutsches-Wörterbuch. Es gab nur Arabisch-Deutsch, also musste ich Deutsch über eine Fremdsprache lernen. Der größte Clou war aber: Ab der elften Klasse musste ich auch noch Französisch lernen, weil ohne zweite Fremdsprache konnte man kein Abi machen.
taz: Arabisch galt nicht?
Khanaqa-Kükelhahn: Nein, damals in den 1980ern sowieso nicht. Ich kann auch noch Türkisch.
taz: … galt aber auch nicht?
Khanaqa-Kükelhahn: Nein. Ich habe jedenfalls mein Abi geschafft. Ich glaube, ich hatte sogar eine 2,7, obwohl mir bei der Kurvendiskussion 2,5 Punkte abgezogen worden waren wegen Rechtschreibfehlern. Das fand ich voll gemein. Aber egal. Ich habe dann Psychologie studiert. Das war schon im Irak mein Wunsch gewesen.
taz: Das ist ein Beruf, in dem es immer um Lebensgeschichten geht. Ist Erzählen Ihnen wichtig?
Khanaqa-Kükelhahn: Ja, absolut. Wir Kurden haben nur überlebt, weil wir uns Geschichten erzählen. Die schlimmsten Nächte, die schlimmsten Verfolgungen, die Zeiten, in denen man am meisten hätte Angst haben müssen, haben wir durchgestanden, weil unsere Leute einander Geschichten erzählt haben, von früher, von diesem oder jenem, Mythen und Erlebnisse. Ich glaube, das ist allgemein ein starkes Bedürfnis: Die Menschen wollen erzählen, von sich und von dem, was sie erlebt haben.
taz: Ermutigen Sie in Ihrer Präventionsarbeit Geflüchtete auch aus diesem Grund, ihre Geschichten zu erzählen?
Khanaqa-Kükelhahn: Es geht darüber hinaus. Die meisten Menschen mit Fluchterfahrung, gerade Frauen und Kinder, haben auf ihrem Weg emotionale Desaster erlebt, Erniedrigungen, man hat sie in Kofferräume gesperrt über Stunden, sie sind in diese Boote gesteckt worden, ohne Schutz. Diese Menschen müssen das erzählen.
taz: Wenn man das nicht erzählt, wird man krank?
Khanaqa-Kükelhahn: Ja, psychosomatisch, oder man verbittert. Ich kann mir nur ein neues Zuhause aufbauen, wenn ich gelernt habe, gnädig mit mir und meiner Geschichte zu sein. Wer das alles in sich drin behalten muss, stellt irgendwann in Frage, was er auf sich genommen hat, um hierherzukommen. Weil er den Lohn dafür nicht bekommt. Was man bekommt, ist weitere Unsicherheit, es dauert ewig, bis man aus den Heimen in eine Wohnung kommt und die Kinder richtig in die Schule gehen können. Die fangen hier alle von null an. Die sind gesellschaftlich, finanziell, überall ganz unten. Das ist total bitter. Deshalb ist es wichtig, dass sie die Möglichkeit haben, das loszuwerden, zu erzählen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert