Neues Album von „Tortoise“: Komplexe Grooves, komplett relaxt
Die US-Postrockband Tortoise veröffentlicht nach langer Pause das neue Album „Touch“. Wie zeitgemäß ist dieser Sound?
Die Musik von Tortoise trägt viele Welten in sich. Man kann die Pluralisierung, die die Band aus Chicago ab Mitte der neunziger Jahre ermöglichte, kaum überschätzen. Es ging in dieser wortlosen Musik nicht mehr um einen unmittelbaren Ausdruck, um Authentizität und so weiter, sondern um Sounds, die für sich stehen und nicht unbedingt etwas bedeuten oder ausdrücken sollen. Außer vielleicht das Wissen um alle Verästelungen von Pop-, Rock-, Jazz-, Dancefloor-Geschichte und der experimentellen Musik. Was den Postrock, so nannte man den Sound von Tortoise, bisweilen etwas akademisch erscheinen ließ.
Alles floss hier zusammen: Krautrock, Jazz, Post-Hardcore, Techno, Minimal Music. Tortoise trugen wesentlich dazu bei, dass „Rock“, möglichst weit definiert, damals ins große Offene ausscheren konnte. Und diese Idee, alles zusammenfließen zu lassen, ließ sich nach dem Tod von Kurt Cobain auch verstehen als Reaktion auf die kommerzielle Ausschlachtung von Grunge und seiner hohlen rockistischen Versprechen. Tortoise boten ein Zurück zum Sound an, weg von allen machistischen Rockmythen.
Ihr neues Album „Touch“ ist das erste Lebenszeichen seit „The Catastrophist“ (2016), und es ist nicht negativ gemeint, wenn man sagt, dass es in ähnlicher Form genauso vor 15 Jahren hätte erscheinen können. Zeitlose Musik. Das Zusammenspiel der fünf Musiker wirkt fast körperlos traumwandlerisch, keine Hektik oder Dringlichkeit, nichts Forciertes. Tortoise gelingt es fast durchweg, ästhetisch-schöne Oberflächen und hintergründige Details zusammen zu strukturieren.
Man kann das Album im Sinne von Erik Satie als Tapete oder als Kopfhörermusik hören. Einmal atmosphärisch, einmal als Komposition. Nach all den Jahren wird es allerdings manchmal langweilig: Dann, wenn Tortoise sich allzu sehr auf einen stoisch-endlos-repetitiven Neu!-Beat verlassen.
Tortoise: „Touch“ (International Anthem/Indigo)
Stücke wie „Axial Seamount“ mäandern doch etwas. Was schade ist, gerade weil die Band, die ursprünglich in Chicago begann (und deren Mitglieder heute in drei US-Regionen verstreut leben), mit ähnlichen Mitteln 1996 mit dem zwanzigminütigen „Djed“ einen zeitlosen Monolithen geschaffen hat.
Zerstäuben in alle Richtungen
Bei allen Verbeugungen vor der Musik von Ennio Morricone, This Heat und eben Neu!: Es gab 1994 nichts, was so sphärisch und zugleich konzeptuell-streng und weggedriftet klang. Das potenzielle Problem von Tortoise jedenfalls ist heute das hin und wieder allzu Gefällige. Eine der vielen Klangwelten, die diese Musik in sich trägt, ist ein – allerdings kunstvolles – Spraypaint-Bild. Ein Zerstäuben in alle Richtungen.
Und es ist konsequent, dass sich auch dieses Bild auf dem Album findet, einfach weil die Band sich in den Kompositionen von „Touch“ durch die eigene Geschichte spielt. Im glücklicherweise häufigeren Fall driftet die Musik dabei mitsamt den Hörerinnen ins Tiefenentspannte und Abgeklärte. „Promenade à deux“ etwa, mit unerwartet romantischer Anmutung im Titel, gehört zu den schönsten Instrumentalballaden der Bandgeschichte. „A Title Comes“ basiert auf einem statisch pulsierenden Bass, über den Jeff Parker eine smoothe Jazz-Gitarre legt, bevor dann eine schillernde Synthie-Melodie das ganze Gebilde ins Flauschige schubst.
Jeff Parker ist auch das Bindeglied zur überbordenden Chicagoer Jazzszene, die sich um das Label International Anthem gebildet hat. „Touch“ ist das erste Tortoise-Album, das hier veröffentlicht wird. Die Labelwahl wirkt stimmig, auch weil der immense Einfluss von Tortoise auf jüngere Labelkolleg:Innen wie Makaya McCraven, Carlos Niño und SML unüberhörbar ist.
Damit begeben sich Tortoise in das Umfeld einer dezidiert widerständigen Jazztradition und -gegenwart, in die Nähe von Irreversible Entanglements und, über Bande, auch zum Art Ensemble of Chicago. Die forcierte Informationsverweigerung, das Kryptische, Undeutbare von Tortoise wirken in Zeiten der totalitären Umgestaltung der USA ernst und erstaunlich wenig eskapistisch.
„Touch“ endet mit den zwei stärksten Momenten des Albums, „Oganesson“ und „Night Gang“. Das Erste ist ein komplex groovender und dabei komplett relaxter Lounge-Track, in dem Tortoise fast alle ihre Signaturesounds zum Schweben gebracht haben. Das elegische „Night Gang“ zeigt, wie fein die Ohren dieser Band für minimalistisch strukturierte Melodien sind. „Touch“ ist trotz einiger Schwächen eine vitale Rückmeldung, ein Album, das im guten Sinne wirkt wie eine Best-of-Compilation.
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