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Massenproteste in TunesienKampf um ein verlorenes Paradies

Die Oasenstadt Gabes war einst Tourismusmagnet. Doch eine uralte Phosphatfabrik vergiftet die Umwelt. Dagegen gehen nun Zehntausende auf die Straße.

Belastete Böden, Krebserkrankungen, erkauftes Schweigen: In Gabes kocht der Protest der tunesischen Bevölkerung hoch Foto: Bassem Aouini/AP Photo
Mirco Keilberth

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Mirco Keilberth aus Tunis

Die tunesische Zivilgesellschaft ist wieder auf den Straßen. Sie fordert die Schließung einer Phosphatfabrik in der 400 Kilometer von Tunis gelegenen Oasenstadt Gabes. Bei der dortigen Düngemittelproduktion waren giftige Gase ausgetreten, Dutzende Schü­le­r:in­nen und An­woh­ne­r:in­nen wurden mit Atembeschwerden und Ohnmachtsanfällen in Kliniken eingeliefert.

Daraufhin versammelten sich in der vergangenen Woche zunächst rund 40.000 Menschen vor der Fabrik, die zum staatlichen Konzern Groupe Chimique Tunisien (GCT) gehört. Der Protest schwappte anschließend bis in die Hauptstadt. Es ist der bisher größte Straßenprotest gegen Umweltverschmutzung im ehemaligen Vorzeigeland des Arabischen Frühlings.

Die GCT produziert seit Ende der 1970er Jahre den Kunstdünger, DAP18/46, dessen Export nach Frankreich und Italien und möglicherweise auch Deutschland die drittgrößte Einnahmequelle des Landes ist. DAP18/46 wird in der EU vor allem beim Anbau von Mais und Futtermitteln eingesetzt. Wer genau die Käufer sind, macht GCT wie viele Staatsbetriebe nicht öffentlich – und auch nicht, wie hoch der eigene Gewinn ausfällt.

Bis GCT den bei der Produktion anfallenden Phosphatgips bei Gabes in das Mittelmeer kippte, war die Oase ein Tourismusmagnet. Nach den Bildern Tausender Tonnen toter Fische, die in den letzten Wochen durch die sozialen Medien geisterten, posteten viele Tu­ne­sie­r:in­nen Fotos ihrer Sommerurlaube in ihrer Kindheit am Golf.

Zu wichtig für die Wirtschaft

Die Ursache des Gasaustritts ist bislang ungeklärt – und auch noch nicht abgestellt. „Solche Ereignisse sind Teil eines strukturellen Problems der 54 Jahre alten Anlage, die technisch veraltet ist und kaum gewartet wird. Dies war kein singuläres Unglück“, sagt Khairedeen Debaya von der Initiative Stop Pollution Gabes. Zusammen mit anderen Initiativen macht diese seit Jahren auf die vielen chronischen Erkrankungen und die Vergiftung des Meeres im Golf von Gabes aufmerksam.

Um die Proteste zu stoppen, schafft der Staatskonzern neue Arbeitsplätze – für die Anführer

Schon eine Untersuchung der EU im Jahr 2018 zeigte im Boden rund um die Fabrik zigfach erhöhte Konzentrationen von Arsen, auch die Cadmium-Grenzwerte wurden um das Mehrhundertfache überschritten. Weil es auch eine „überdurchschnittlich hohe Zahl an Krebserkrankungen“ gebe, sei die „Schließung der veralteten Produktionsanlage die einzige Lösung“, sagt Debaya. Offizielle Zahlen fehlen aber bislang, ein Krebsregister ist erst in Planung.

Schon während des Arabischen Frühlings 2010/11 forderte Debaya ein Ende der Phosphatproduktion. Zehn verschiedene Regierungskoalitionen gab es danach bis zur Wahl des aktuellen Präsidenten Kais Said im Jahr 2019. In dieser Zeit ließ eine Welle von Terroranschlägen den Tourismus massiv einbrechen. Die Phosphatproduktion wurde neben den Überweisungen von ins Ausland emigrierten Tunesiern zu der wichtigsten Einnahmequelle des Landes – ohne dass Geld für die Wartung der Anlagen vorhanden war.

Mit neuen Jobs erkauftes Schweigen

Ein 2017 beschlossener Modernisierungsplan für die Phosphatproduktion wurde nie umgesetzt. Auch in der Region Gafsa, wo das Phosphorgestein für die Verarbeitung in Gabes im offenen Tagebau aus dem Boden geholt wird, haben An­woh­ne­r:in­nen die Produktion mit Sitzstreiks immer wieder gestoppt. Die Sprengungen und riesige Bagger schufen eine Mondlandschaft. Durch den Abbau dringt in den Städten des Phosphatminen-Beckens feiner Staub bis in die Wohnungen. Auch hier leiden überdurchschnittlich viele Menschen an Atemwegserkrankungen.

Die oft nur wenige Monate im Amt verbliebenen Wirtschaftsminister der wechselnden Regierungen haben die Proteste der lokalen Bevölkerung durch die immergleiche Maßnahme gestoppt: Sie haben in dem staatlichen Konzern neue Arbeitsplätze geschaffen. Viele der Anführer von Sitzstreiks sitzen nun in einem der vielen Umweltbüros der GCT. Die Zahl der Angestellten stieg binnen weniger Jahre von 6.000 auf 30.000. Auch in der vergangenen Woche sollen 1.600 neue Stellen entstanden sein. Dabei ist die Phosphatproduktion wegen der Streiks und immer maroderen Transportwegen seit 2011 von jährlich 10 Millionen auf weniger als 3 Millionen Tonnen gesunken.

„Mir ist allerdings keine einzige Maßnahme bekannt, die seitdem den Schadstoff- oder Staubausstoß reduziert hätte. Im Gegenteil, es gibt mehr Lecks, aus denen Ammonium und Sulfur austritt, als 2011“, sagt Debaya.

Präsident Kais Said hat sich auf die Seite der De­mons­tran­t:in­nen geschlagen und will mit Hilfe chinesischer Expertise eine technische Lösung finden. Auch in EU-Kreisen wird über ein milliardenschweres Hilfspaket nachgedacht. 110 Millionen Euro davon sollen bereits von der Europäischen Investitionsbank genehmigt worden sein – allerdings für einen anderen Zweck: Das Geld soll investiert werden, um den Wasserverbrauch bei der Phosphatproduktion zu reduzieren und den Ausstoß zu verdoppeln.

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