Friedrich Merz besucht die Türkei: Balanceakt bei Erdoğan
Die Türkei gilt in vielen Feldern als wichtiger Partner. Trotzdem oder gerade deshalb dürfte es für den Kanzler ein schwieriger Antrittsbesuch werden.
dpa/afp/taz | Unter dem Eindruck der neuen Eskalation im Gaza-Konflikt reist Bundeskanzler Friedrich Merz heute zu seinem Antrittsbesuch in die Türkei. Den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan hatte er zuletzt vor gut zwei Wochen bei der historischen Friedenszeremonie von US-Präsident Donald Trump in Ägypten gesehen.
Die Lage in Nahost dürfte das dominierende Thema bei dem Gespräch zwischen Merz und Erdoğan am Donnerstag in der Hauptstadt Ankara sein. Daneben wird es um den Ukraine-Krieg, Migration und Rüstungskooperation gehen. Für Merz wird die Visite angesichts des zunehmend autokratischen Regierungsstils Erdoğan aber ein schwieriger Balanceakt.
So ist es unklar, ob der neue Haftbefehl gegen den türkischen Oppositionsführer Ekrem İmamoğlu eine Rolle spielen wird. Dieser sitzt seit März ohne Anklage in Untersuchungshaft. SPD-Chef Lars Klingbeil hatte die Inhaftierung damals als „schweren Angriff“ auf die Demokratie in der Türkei bezeichnet.
„Die Sicherheitsfrage dürfte bei dem Besuch für beide Seiten am wichtigsten sein“, sagt die Türkei-Expertin Sinem Adar von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) im AFP-Gespräch. Bei internationalen Themen dürfte der Ukraine-Krieg, wo sich Ankara immer wieder als Vermittler anbietet, zentraler Teil der Gespräche in Erdoğans 1.000-Zimmer-Palast in Ankara sein.
Türkei hofft auf Rüstungsgeschäfte
Für Erdoğan stehe bei dem Merz-Besuch allerdings wahrscheinlich eine „Kooperation der Rüstungsindustrie an erster Stelle“, sagt Adar. Hier sieht die Türkei in Zeiten massiver Aufrüstung ein großes Potenzial für den Ausbau der Geschäfte mit europäischen Partnern.
Als EU-Beitrittskandidat würde Ankara deshalb gerne an dem jüngst aufgelegten EU-Rüstungsprogramm Safe teilnehmen, das bis zu 150 Milliarden Euro für die gemeinsame Rüstungsbeschaffung bereitstellt. Doch das EU-Mitglied Griechenland, das seit Jahrzehnten mit Ankara wegen widerstreitender Gebietsansprüche in der Ägäis im Konflikt steht, blockiert dies bisher. Merz könnte hier als Vermittler auftreten. Die Bundesregierung signalisierte im Vorfeld bereits Unterstützung.
Bei seinem Besuch in Ankara dürfte es nun darum gehen, was sonst noch alles möglich ist. Außenminister Johannes Wadephul (CDU) hat während seiner Türkei-Reise vor knapp zwei Wochen von „etlichen Projekten“ gesprochen, die vor der Finalisierung stünden. Es sei „selbstverständlich, dass unsere Rüstungsindustrien auf das Engste miteinander kooperieren“, sagte er.
Schon im Juli hatte die Bundesregierung grünes Licht für den Export von 40 Eurofightern an den Nato-Partner Türkei gegeben. Dieser war im April von der scheidenden rot-grünen Vorgängerregierung noch blockiert worden. Grund dafür war die Verhaftung des prominenten türkischen Oppositionspolitikers Ekrem İmamoğlu im März wegen umstrittener Korruptionsvorwürfe. Er will bei der Präsidentenwahl 2028 gegen Erdoğan antreten.
Bundesregierung zurückhaltend mit Kritik
Dass gegen İmamoğlu seit vergangener Woche nun auch wegen Spionage ermittelt wird, kommentierte die Bundesregierung vor der Reise des Kanzlers nur zurückhaltend. Demokratische Grundsätze und Menschenrechte würden bei solchen Besuchen immer angesprochen, sagte ein Regierungssprecher.
Die außenpolitische Sprecherin der Linksfraktion, Cansu Özdemir, forderte Merz am Mittwoch dazu auf, "dass er seine Reise in die Türkei nutzt, um die schweren Menschenrechtsverletzungen des türkischen Staates offen anzusprechen". Der Kanzler müsse "deutlich machen, dass politische Verfolgung, Repressionen gegen Oppositionelle, Journalist:innen und Aktivist:innen in einem Rechtsstaat keinen Platz haben dürfen", sagte sie. Um ein solches Signal auszusenden, müsse sich Merz allerdings auch mit Vertreter:innen der Opposition treffen, so die Linken-Politikerin.
Nach einem Treffen des Kanzlers mit Oppositionsvertretern in Ankara sieht es jedoch erst einmal nicht aus. Der Plan sei, „dass das bilaterale Gespräch mit Herrn Erdoğan im Mittelpunkt steht. Über weitere Gespräche ist mir nichts bekannt“, sagte der stellvertretende Regierungssprecher Steffen Meyer.
„Merz wird es höchstwahrscheinlich vermeiden, die innenpolitische Lage in der Türkei von sich aus anzusprechen“, vermutet SWP-Expertin Adar. „Angesichts der Verschiebung der sicherheitspolitischen Prioritäten stehen innenpolitische Fragen nicht an erster Stelle.“
Deutschland will mehr Abschiebungen in die Türkei
Das dürfte auch für das Thema Migration gelten. Bis Ende September wurden laut Bundesinnenministerium dieses Jahr bereits 1.614 türkische Staatsbürger in die Türkei abgeschoben. Nach jahrelanger Weigerung Ankaras sind sie damit inzwischen die größte Gruppe bei Abschiebungen.
Hier kamen aus Berlin vor dem Besuch klare Erwartungen: Nach ersten Fortschritten müssten nun „weitere konkrete Schritte folgen“, hieß es aus Regierungskreisen. Denn die Türkei sei derzeit „das Herkunftsland mit der höchsten Zahl Ausreisepflichtiger in Deutschland“ – laut dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) waren es Ende September noch 22.560.
Auch bei den von der Bundesregierung geplanten Abschiebungen nach Syrien könnte die Türkei womöglich helfen. Dies sei „ein Thema, das uns im Verhältnis mit der Türkei beschäftigt“, sagte ein Regierungssprecher bei der Ankündigung des Merz-Besuchs. Denn nach dem Sturz von Machthaber Baschar al-Assad pflegt Ankara mit der neuen Regierung in Damaskus gute Kontakte und könnte den deutschen Wünschen womöglich Nachdruck verleihen.
Vor Erdoğan wird Merz auch Wirtschaftsvertreter in Ankara treffen. Mit einem Handelsvolumen von 51,8 Milliarden Euro stand die Türkei 2024 auf Platz 14 der wichtigsten deutschen Handelspartner – noch vor Ländern wie Schweden oder Japan. Im Vergleich zu Deutschland verzeichnet die Türkei weiter deutliche, wenn auch niedrigere Wachstumsraten als noch vor ein paar Jahren. Problem für die türkische Wirtschaft ist vor allem die hohe Inflation, die auch die internationale Wettbewerbsfähigkeit beeinträchtigt.
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