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„Und pass ich hier rein?“, fragt Ibrahim Arslan in Möllns Fachwerkidylle. 1992 ermordeten Neonazis drei seiner Familienmitglieder Foto: Daniel Chatard

MigrationsdebattenDeutschland, dein Stadtbild

Mit einem Satz entfacht Kanzler Merz eine Debatte. Und erinnert Ibrahim Arslan an düstere Zeiten, die nie wirklich vorbei waren. Was er dagegen hält.

Derya Türkmen

Von

Derya Türkmen aus Mölln und Potsdam

E s ist ein grauer Vormittag in Mölln. Das Kopfsteinpflaster glänzt nass vom Regen, der Wind pfeift durch die Mühlenstraße. Sonst ist es still. Alles wirkt friedlich. Eine kleine Stadt, saubere Fassaden. Vor einem Fenster hängt eine durchnässte Deutschlandfahne. Nur einige Meter entfernt brannte in der Nacht vom 23. November 1992 ein Haus. Ibrahim Arslan war sieben Jahre alt, als zwei Neonazis Molotowcocktails durch das Fenster warfen. Seine Großmutter Bahide Arslan, seine Cousine Yeliz, seine Schwester Ayşe – sie starben im Feuer. Er selbst überlebte, auch weitere Familienmitglieder.

Nach dem Anschlag wollte Mölln schnell weitermachen: keine Schlagzeilen mehr, kein Streit, keine Schuld. Doch für Familie Arslan war ein Weiterleben hier unmöglich. „Wir wurden angesehen wie Schandflecke, nicht wie Betroffene“, sagt er. Nach der Tat habe man sie gemieden. Auf der Straße blieben Blicke aus, in der Schule wurde geschwiegen, Nachbarn wechselten die Straßenseite. „Wir waren immer nur die aus dem brennenden Haus“, sagt er. Für die Familie gab es kaum eine Wahl: Entweder zurück in die Türkei oder fort aus Mölln. Im Jahr 2000 zogen sie in eine deutsche Großstadt. Dort lebt Arslan bis heute.

Der Wind wird stärker in Mölln. Arslan blickt auf die nasse Straße, als suche er nach Spuren, die längst verschwunden sind. „Alle sagen, die Neunziger sind zurück“, sagt er schließlich. „Aber sie haben nie aufgehört, sich nur verändert. Und heute ist es gefährlicher.“

Seit Mitte Oktober läuft die Debatte darum wieder heiß, wer zu Deutschland gehört und wer nicht. Wer hier willkommen ist und wer nicht. Und wer sich hier sicher fühlen darf, oder eben nicht. Erneut entfacht hatte sie Bundeskanzler Friedrich Merz bei einem Termin am 14. Oktober in Potsdam, als er sagte: „Aber wir haben natürlich immer im Stadtbild noch dieses Problem, und deswegen ist der Bundesinnenminister ja auch dabei, jetzt in sehr großem Umfang Rückführungen zu ermöglichen und durchzuführen“. Was mit einem vagen Satz des Kanzlers begann, ist in wenigen Tagen zu einem wirkmächtigen Schlagwort geworden. „Das Stadtbild“: zwei Worte, die durch Talkshows und Kommentarspalten geistern, als wären sie neu erfunden.

In dem hellgelben Haus lebte Familie Arslan 1992, als Neonanzis es mit zwei Molotowcocktails in Brand setzten Foto: Daniel Chatard

„Das ist dieselbe Sprache wie damals“, sagt Arslan. Der Spiegel titelte Anfang der 1990er: „Das Boot ist voll“ – eine Schlagzeile, die zur Mentalität wurde. „Und kurz darauf brannten Häuser.“ Merz’ Stadtbild-Aussage sei kein Versprecher, sagt er, sondern ein gerichtetes Signal. „Das ist eine Information. Eine an die weiße Mehrheitsgesellschaft, wer wieder das Problem ist.“

Arslan spricht ruhig, fast sachlich, während er die Ratzeburger Straße hinuntergeht. Auch hier wurde 1992 ein Haus angezündet – in derselben Nacht wie das der Arslans, ebenfalls bewohnt von einer Migrant:innenfamilie. Niemand starb. Die Tat verschwand aus den Schlagzeilen als wäre sie nie geschehen. „Schließlich gab’s ja keine Toten“, sagt Arslan sarkastisch. Er bleibt kurz stehen, schaut auf den grauen Parkplatz, der heute an dieser Stelle liegt – leer, und ohne jeden Hinweis darauf, welches Unrecht hier einst geschah. Dann sagt er leise: „Auch das ist Teil des problematischen Stadtbilds – nur spricht keiner darüber.“

Wenn Arslan von den Neunzigern spricht, meint er die Jahre, in denen auch Asylbewerberheime in Rostock-Lichtenhagen und Hoyerswerda brannten – eine Zeit, in der rechte Gewalt Alltag war und viele wegschauten. Er läuft durch den Kurpark, der direkt hinter seinem Elternhaus beginnt. Ein großer, stiller Grünstreifen, den Möll­ne­r:in­nen zum Spazieren nutzen. Die Steine des geschotterten Weges knirschen unter seinen Schuhen. Der Wind rauscht durch die kahlen Bäume. „Typisch Mölln“, sagt er und lacht. „Hier ist nie gutes Wetter.“ Doch schnell wird er wieder ernst.

Mölln in Schleswig-Holstein: eine ruhige, normale kleinstadt – auf den ersten Blick Foto: Daniel Chatard

Er sagt, die Gewalt der Neunziger habe nie aufgehört – sie sei kein Kapitel, das Deutschland wirklich hinter sich lassen konnte. „Die Haltung ist geblieben“, sagt er, nur äußere sie sich immer wieder „in neuen Worten, neuen Gesichtern“. Nach Mölln kam Solingen. Nach Solingen Hanau, Halle, der Mord an Walter Lübcke, Anschläge auf Dönerläden, Synagogen und Shisha-Bars.

Bundeskanzler Merz erklärte kurz nach seiner Stadtbild-Aussage bei einem Termin in London, er habe „nicht alle Migrant:innen“ gemeint, sondern nur jene, die „keinen dauerhaften Aufenthaltsstatus haben und sich nicht an unsere Regeln halten“.

Arslan blickt die Straße hinunter, auf die Häuserzeilen, die Regenrinnen, die vertraute Fassade. „Ich soll nicht das Stadtbild sein?“, fragt er schließlich. Merz’ Rechtfertigung klingt für Arslan wie eine altbekannte Unterscheidung – zwischen den „guten“ und den „anderen“. Für ihn aber ist die Frage nach dem „Stadtbild“ eng mit seiner Familiengeschichte verbunden.

Meine Großmutter war Teil dieses Ortes, bevor jemand von Integration gesprochen hat

Ibrahim Arslan

Seine ermordete Großmutter, Bahide Arslan, kam 1967 als sogenannte Gast­ar­bei­te­r:in nach Deutschland – nicht nur, um zu arbeiten. Sie wollte bleiben, ein Zuhause finden, ihre Kinder hier großziehen. In Mölln eröffnete Sie den ersten türkischen Lebensmittelladen, später einen deutschen Imbiss – Frikadellen, Kartoffelsalat, Bratwurst. Die Nachbarn kamen zum Essen, zum Reden, zum Kaffee. „Sie war Teil dieses Ortes, lange bevor jemand von Integration gesprochen hat“, sagt Ibrahim Arslan.

Er geht ein paar Schritte die Straße hinunter, entlang einiger Fachwerkhäuser. Eine Frau im Regenponcho und mit Einkaufstasche huscht vorbei, senkt den Blick, nickt flüchtig. „Das Stadtbild, das Merz meint, sind wir“, sagt er. „Nur sieht er uns nicht als Teil davon, sondern als Störung.“ Arslan lacht kurz, trocken. „Meine Großmutter, meine Familie, all die, die hierher kamen, um zu hier zu leben und nicht nur zu schuften. Ohne sie gäbe es diese Straßen, diese Läden, dieses Land in dieser Form gar nicht.“

Er spricht von den Menschen, die in den 1960er und 1970er Jahren aus allen möglichen Ländern, vor allem aber aus der Türkei und Italien nach Deutschland gerufen wurden – die Häuser bauten, in Werkhallen schufteten, das Land am Laufen hielten und blieben, obwohl sie nie wirklich willkommen waren. Leute, die das deutsche Stadtbild über Jahrzehnte geprägt haben, über das heute so so feindselig diskutiert wird.

Arslan glaubt, dass die Bedrohung heute tiefer sitzt, breiter wirkt als in den Neunzigern. „Heute ist es gefährlicher – nicht, weil mehr Häuser brennen, sondern weil der Hass leiser geworden ist, aber intensiver und alltäglicher.“

1992 zählten die Behörden mehrere tausend rechtsextreme Gewalttaten. Laut Verfassungsschutz wurden seit 1990 über 80 Menschen durch rechte Gewalt getötet. 2024 registrierten die Behörden 37.835 rechtsextremistische Straftaten – fast 50 Prozent mehr als im Jahr davor. Auch die Zahl derer, die dem rechtsextremen Spektrum zugerechnet werden, steigt: über 50.000 Menschen bundesweit.

Heute verlaufen die Linien quer durch die Gesellschaft – und manchmal auch durch die Minderheiten selbst.

Zudem sei früher klarer gewesen, „wer Täter war und wer Opfer“ ist, sagt Arslan. „Damals hieß es: Kanake oder Nazi. Heute ist es komplexer und undurchsichtiger“, sagt er. Früher haben sich Neonazis und Menschen mit internationaler Familiengeschichte gegenüber gestanden. Heute verlaufen die Linien quer durch die Gesellschaft – und manchmal auch durch die Minderheiten selbst.

Gefährlich sei zudem, dass Menschen mit internationaler Familiengeschichte, die aufgestiegen sind – ins Bildungssystem, in die Politik, in die Redaktionen – sich in rassistisch gefärbten Debatten nicht mehr gemeint fühlten. „Sie sagen: ‚Merz redet ja nur über die arbeitslosen Flüchtlinge.‘ Und solange sie selbst in Sicherheit leben, sagen sie nichts.“

Arslan arbeitet im öffentlichen Dienst – auch ein sicherer Job, wie er sagt. Den Rest seiner Zeit widmet er der Bildungsarbeit. Mit seiner Initiative „Reclaim and Remember“ geht er in Schulen, spricht mit Jugendlichen über Rassismus, Gewalt, Erinnerung um Empowerment. Aufklärungsarbeit – ganz ohne Fördergelder, selten finanziell honoriert, meist ehrenamtlich. „Wir mussten die Gedenkkultur selbst in die Hand nehmen“, sagt er.

Jahrelang fanden die offiziellen Reden in Gedenken an die Brandanschläge in Mölln ohne seine Familie statt. Die Stadt erinnerte – aber ohne den Betroffenen ein Rederecht zu geben. Also gründeten sie ihre eigene Initiative: ein Gedenken aus der Perspektive der Überlebenden, nicht der Verwaltenden.

„Wir haben wohl das Stadtbild gestört“, sagt Arslan und lacht. „Die harmonische Gedenkkultur der weißen Mehrheitsgesellschaft unterbrochen und dadurch durchbrochen.“ Heute gilt Mölln als Synonym für partizipatives Erinnern – weil die Familie Arslan es erkämpft hat. Dabei störe eigentlich genau das im Stadtbild: „Dass wir Betroffenen bis heute die Bildungsarbeit übernehmen müssen“, sagt Arslan.

In seinen Workshops spricht er über Vorurteile, Gewalt und Verantwortung. Nach dem Kölner Silvester 2015, als tagelang über „arabische Männer“ und Geflüchtete diskutiert wurde, erklärte er immer wieder, dass das Problem nicht „der syrische oder muslimische Mann“ sei, „sondern das Patriarchat – in jeder Kultur“.

Hat mit seiner Initiative „Reclaim and Remember“ das Möllner Stadtbild verändert: Ibrahim Arslan Foto: Daniel Chatard

Und auch um Angst dreht sich Arslans Bildungsarbeit – seiner eigenen: der Angst um seine Kinder. Ob sie allein zur Schule gehen können, ob sie auf dem Spielplatz beleidigt oder bedroht werden, ob ein falsches Wort wieder etwas auslöst. Es ist die alltägliche Angst, über die kaum jemand Spricht, obwohl sie so viele Menschen mit internationaler Familiengeschichte in Deutschland bedrückt – während die Angst vor dem „fremden Flüchtling“, vor „den Migranten“ politisch aufgebauscht und ausgeschlachtet wird. Merz’ Worte zum Stadtbild treffen deshalb doppelt: Sie verschweigen eine Bedrohung, während sie eine andere heraufbeschwören.

In Potsdam dominiert Ende Oktober ebenfalls der Regen das Stadtbild. In der Fußgängerzone spritzen die Pfützen, Touristen hasten mit Regenschirmen Richtung Schloss Sanssouci. Englische und spanische Wortfetzen mischen sich mit dem Klang der Straßenbahn. Dass Friedrich Merz seine Aussage über das „Stadtbild“ ausgerechnet hier machte, ist kein Zufall. Brandenburg gilt seit Jahren als politisches Pulverfass: In aktuellen Umfragen liegt die AfD mit rund dreißig Prozent vorn, die SPD folgt knapp dahinter, die liegt CDU auf Platz drei. Die Stimmung ist aufgeheizt. In vielen Orten wächst das Misstrauen, die Gespräche werden härter, die Grenzen zwischen konservativ und rechts verschwimmen. Merz’ Worte fielen hier auf fruchtbaren Boden. Seitdem ist „das Stadtbild“ zum Schlagwort geworden – nicht mehr nur in der Politik, sondern in Alltagsgesprächen, auf Marktplätzen und Schulhöfen.

Eine Gruppe Jugendlicher steht unter einem Vordach, lacht laut, klatscht sich ab. Als sie gefragt werden, was sie von der Aussage des Kanzlers halten, werden sie plötzlich still. Einer zuckt mit den Schultern, eine andere verdreht die Augen. „Einfach nur nichts“, sagt einer aus der Gruppe, erklären möchte er das nicht und auch anonym bleiben, das sei wichtig für ihn. „Wir würden uns sicherer fühlen ohne den Merz“, sagt schließlich die 17-jährige Steph. Sie ist noch Schülerin und sie will ihren echten Namen nicht in der Zeitung lesen. Aus Angst, die Eltern könnten Ärger machen. Denn zu Hause sei diese Debatte ein Thema: ihre Mutter habe Angst, sie könnte „von einem dieser arbeitslosen Flüchtlinge“ angegriffen werden. Steph schüttelt den Kopf. „Das ist doch eine dumme Aussage“, sagt sie. „Und von einem arbeitslosen Deutschen werde ich dann nicht vergewaltigt, oder was?“

Eine Sprache, die verunsichert

Nicht alle denken so. Am Straßenrand bleibt Petra S., 65, stehen, den Regenschirm fest in der Hand. Sie sagt, sie fühle sich „bedroht“, weil sie in der Stadt „so viele Migranten“ sehe und höre. „Man versteht ja gar nicht, was die reden“, sagt sie. „Als Deutsche sollte man sich doch sicher fühlen, oder?“ Auf die Frage, wo genau sie diese Migranten sehe, schaut sie sich suchend um, deutet auf die leere Straße und sagt schließlich: „Heute sieht man sie nicht.“ Für sie sei das, sagt sie, kein AfD-Narrativ, sondern „eine reale Veränderung im deutschen Stadtbild“.

Merz’ Worte wirken weit über Potsdam hinaus. Sie markieren eine Linie, entlang derer sich das politische Klima verschiebt – weg vom Versuch, zu beruhigen, hin zu einer Sprache, die verunsichert. Blickt man auf die Laufbahn des Bundeskanzlers, wird klar, dass solche Töne kein Zufall sind. Ob in den Debatten um die „deutsche Leitkultur“ in den 1990er Jahren, um Abtreibungsrechte in den 2000ern oder mit seinen Aussagen über „kleine Paschas“: die Grenze zum rechten Rand hat Merz immer wieder überschritten – nicht aus Versehen, sondern mit Kalkül.

Für Ibrahim Arslan ist das keine akademische Debatte, sondern eine Frage seines Alltags. In Mölln, sagt er, habe die Stadt seiner Familie nach dem Anschlag keine Perspektive geboten; die Gewalt sei nicht nur Geschichte, sie wirke weiter in ihren Beziehungen, im Vertrauen, in der Art, wie Nachbarn einander begegnen – oder nicht begegnen.

Was, wenn die Millionen Menschen mit Migrationsgeschichte, die das Land am Laufen halten, für einen Tag die Arbeit niederlegten?

Sie wirkt auf Beziehungen, das gegenseitige Vertrauen, die Art, wie Nachbarn sich einander begegnen – oder eben nicht. „Ob AfD oder CDU – beide nutzen die gleiche rassistische Rhetorik“, sagt er, kurz, wie ein Urteil.

Seine Wut mündet in eine Idee. Er stellt sich vor, was passieren würde, wenn die Millionen Menschen mit Migrationsgeschichte, die das Land am Laufen halten, für einen Tag die Arbeit niederlegten: Kitas blieben zu, Busse fuhren nicht, Kliniken würden knapper besetzt sein. „Vielleicht schaffen wir es, dass alle 25 Millionen die Arbeit liegen lassen“, sagt er. „So wie wir das aufgebaut haben, so können wir es auch zerstören.“

Was erst mal klingt wie eine Drohung, ist für Arslan eine Forderung nach Solidarität: kein Aufruf zum Chaos, sondern ein Versuch, sichtbar zu machen, was sonst unsichtbar bleibt – wer die Arbeit leistet und wer davon profitiert. Es ist eine taktische Idee, ein Hebel: Macht demonstrieren, damit Anerkennung nicht länger nur ein Wort bleibt. Und doch ist da auch der Zorn, die klare Botschaft an jene, die mit Ausschlussrhetorik Wahlkampf betreiben: Vergesst nicht, wer dieses Land trägt.

Wir wollen zeigen, auf wessen Schultern dieses Land ruht

Jennifer Follmann, Gründerin des Instagram-Kanals „Töchter gegen Merz“

Diese Vorstellung greift Jennifer Follmann auf. Als Merz in die Kameras sagte, man solle „mal die Töchter fragen“, musste sie etwas dagegen tun, denn auch sie war ja schließlich als Tochter gemeint. „Ich wollte mich eigentlich weiter verstecken“, nicht aus Angst wie sie sagt, sondern auch um ihre Kinder zu schützen. „Aber irgendwann war klar: Es gibt keinen Raum mehr, um unsichtbar zu sein.“ Follmann ist 38 Jahre alt, geboren in Luxemburg. Ihre Eltern kamen nach Deutschland als sie vier Jahre alt war. Später floh sie aus einem streng jüdisch-orthodoxen Elternhaus. Heute lebt sie in Chemnitz – einer Stadt, die sich gern weltoffen nennt und doch immer wieder wegen rechter Gewalt Schlagzeilen macht. Dort gründete sie Safe Space Chemnitz, eine Initiative für Betroffene von Rassismus, Antisemitismus und rechter Gewalt.

Sie hat hellblondes Haar, wache, grüne Augen, ein Gesicht, das Ruhe ausstrahlt, selbst wenn sie über Angst spricht. Wer sie sieht, erkennt keine Aktivistin auf einer Bühne, sondern eine Frau, die gelernt hat, Haltung zu bewahren. Follmann kennt die Erfahrung von Hass auch persönlich – als Jüdin, als Frau. Seit Jahren engagiert sie sich in der Flüchtlingshilfe und in der politischen Bildung, spricht an Schulen, organisiert Workshops. Nach mehreren Angriffen steht sie unter Personenschutz. Trotzdem entschied sie sich, sichtbar zu bleiben. „Ich wollte nicht, dass Angst das letzte Wort hat“, sagt sie. In einer Stadt wie Chemnitz ist das mehr als Haltung – es ist Mut.

In jener Nacht von Merz’ Töchter-These gründet sie den Instagram-Account „Töchter gegen Merz“. Sie schreibt den ersten Post, wählt den Namen, entwickelt die Inhalte, formuliert den Aufruf. Binnen Stunden folgen Tausende, heute sind es rund 30.000. „Ich wollte eine Plattform schaffen für die, über die sonst nur gesprochen wird“, sagt sie. Aus ihrem Impuls wird eine Bewegung – kein Verein, keine Kampagne, sondern ein Aufschrei. Der Hashtag #TöchtergegenMerz wurde tausendfach geteilt: Schwarze, Jüdinnen, Muslimas, alleinerziehende Mütter, Transfrauen – Frauen, die von Gewalt und Ausgrenzung erzählten, aber nicht von den Männern, über die Merz sprach.

Einen Tag später fragt sie Selda Kaya, ob sie mitmachen möchte. Kaya, 49, Schauspielerin und Aktivistin aus Berlin-Schöneber,g stimmt sofort zu. Sie wuchs auf zwischen Hausbesetzer:innen, Gastarbeiterfamilien und queeren Communities – ein Viertel, laut, solidarisch, politisch. Sie nennt es ihre Schule des Widerstands. Selda Kaya hat dunkle Locken, eine klare Stimme und eine Körperhaltung, die keine Zweifel vermuten lässt. Seit den Neunzigern steht sie auf Bühnen und Straßen, kämpft gegen Sexismus und gegen das, was sie „verkleideten Rassismus im Anzug“ nennt.

Mölln: Das Idyll bleibt stehen, als wäre nie etwas passiert Foto: Daniel Chatard

Anfang November veröffentlichten Follmann und Kaya auf dem Account einen Aufruf: Am 9. März 2026, dem Montag nach dem Frauentag, soll das Land für einen Tag innehalten. Kein verbotener Generalstreik, sondern ein freiwilliger, bundesweiter Aktionstag – ein Tag des Protests, der Solidarität, der Unterbrechung. Ein Frauenstreik, so wie es Follmann nennt. „Wir wollen zeigen, auf wessen Schultern dieses Land ruht“, postet sie.

Politische Arbeitsniederlegungen sind in Deutschland rechtlich heikel; erlaubt sind nur Streiks, die sich auf tarifliche Ziele beziehen. Follmann weiß das, betont die Freiwilligkeit – legale Formen des Protests, stille Pausen, kollektive Auszeiten, Absprache mit Gewerkschaften, gegenseitigen Schutz.

Im Gespräch mit ihnen wird klar, wie sehr die Wut der Betroffenen eine andere Tonlage hat als die Empörung der Mehrheitsgesellschaft. Follmann spricht leise, aber mit einer Schärfe, die hängen bleibt: „Wenn Menschen wie wir nicht mehr sprechen, übernehmen wieder andere das Wort.“ Gemeint sind jene, die ohnehin das Wort haben – Politiker, Männer, die seit Jahrzehnten den Diskurs bestimmen. Es geht ihr nicht um Kontrolle, sondern um Stimme. Darum, wer sprechen darf – und wer immer nur Thema bleibt. Kaya nickt. „Wir haben genug von dieser symbolischen Solidarität. Heute gegen rechts, morgen wieder still. Wir brauchen Strukturen, keine Statements.“ Sie spricht von Frauenhäusern, die längst am Limit arbeiten – überfüllt, unterfinanziert, übersehen. Nur ein Beispiel von vielen.

Zurück in Mölln hat der Regen endlich aufgehört. Arslan steht an der Promenade, der Himmel noch grau, ein Boot zieht langsam über den Kanal. Hinter ihm die Kirche, davor Fachwerkhäuser – das Idyll bleibt stehen, als wäre nie etwas passiert. Arslan zeigt hinter sich, lacht kurz. „Und pass ich da rein?“, fragt er scherzend. Dann wird er ernst: „Heute passt der Flüchtling nicht ins Bild, morgen die Queeren, dann die Frauen – und irgendwann kommt jeder dran.“

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