Zukunft der Arbeit: Abstiegskampf am Fließband
Warum dominiert die Sorge vor dem Abstieg die Arbeiterschicht? Unser Autor hat die Kolleg:innen seiner Eltern gefragt.
M ein Vater hat eine Arbeitskollegin, Annika. Seit 16 Jahren arbeiten sie zusammen in einer Fabrik für Kleidungsstücke. Einige Jahre lang sogar direkt nebeneinander, an benachbarten Maschinen. Wenn jemand ausgefallen sei, habe man nur Annika anrufen müssen und sie sei eingesprungen, sagt mein Vater. „Auf sie kann man sich verlassen.“ Annika, die wie alle meine Gesprächspartner:innen in diesem Text in Wirklichkeit anders heißt, und mein Vater verdienen mit ihren Fabrikjobs ähnlich viel. Ein ordentliches Gehalt, aber weniger als das Medianeinkommen in Deutschland.
Trotzdem gibt es einen riesigen Unterschied zwischen den beiden. Wenn ich meinen Vater nach der Zukunft frage, sagt er: „Das kriegen wir schon hin.“ Meine Mutter sieht das ähnlich. Annika dagegen stellt sich die Zukunft anders vor, sie sagt mir: „Ich fürchte, dass es nur schlechter wird.“
Wie kann das sein? Warum blicken meine vietnamesischen Eltern, die vor 35 Jahren nach Deutschland geflüchtet sind und sich hier ohne Netzwerk und Ressourcen hocharbeiten mussten, so viel zuversichtlicher nach vorne als Annika, die in Deutschland doch ein recht stabiles Leben führt? Und was lässt sich aus ihren Geschichten lernen darüber, wie man mit Arbeiter:innen wieder progressive Politik machen könnte?
Meine Eltern kamen zur Zeit der Wende nach Westdeutschland. In der Tschechoslowakei hatten sie als vietnamesische Vertragsarbeiter:innen gearbeitet. Als die Mauer fiel, erzählten ihnen vorausgegangene Freund:innen von den Chancen des Westens. Dort könne man sich ein gutes Leben aufbauen. Also entschieden sie zu fliehen.
Ein Land, in dem man sich unterhakt
In Westdeutschland trafen sie auf hilfsbereite Nachbar:innen und wohlwollende Mitarbeiter:innen auf den Ämtern. Ein Glücksfall, andere wurden von Behörden schikaniert und rassistisch angefeindet. Doch meine Eltern stießen auf Menschen, die für sie in Hotels oder Restaurants anriefen und nach Aushilfsjobs fragten. Und dann ist da noch der Betreuer meiner Eltern in der Ausländerbehörde. Zehn Jahre lang mussten sie bei ihm alle sechs Monate ihre Aufenthaltstitel verlängern. Er hörte sich ihre Anliegen an, fand mit ihnen Lösungen. Einmal drohte ein befreundetes Ehepaar, abgeschoben zu werden, meine Eltern sprachen für sie vor. Die Abschiebung wurde nie vollzogen.
In dieser Zeit entwickelten meine Eltern ein Grundvertrauen in die Leute und Strukturen. Deutschland ist für sie ein Land, in dem man sich unterhakt und hilft.
Heute wohnen meine Eltern in einem Dorf in Rheinland-Pfalz. Es ist eine ländliche Gegend, mit einem Werk des Traktorkonzerns John Deere und kleinen Handwerksbetrieben. Die meisten jungen Leute bleiben und finden einen Ausbildungsplatz. Früher kam ich hier ohne Auto nicht weg, heute fährt der Bus immerhin einmal stündlich in die nächste Kleinstadt. Meine Eltern haben sich hier eine Existenz aufgebaut. Meine Mutter als Küchenhilfe, mein Vater als Produktionsarbeiter.
Ob ihre Arbeit sie erfüllt? Nein, sagen sie. Aber es sei der einzige Weg gewesen, sich Wohlstand zu erarbeiten und meiner Schwester und mir eine bessere Zukunft zu ermöglichen.
Viele sind verdammt unzufrieden
Die deutschen Nachbar:innen und Bekannten meiner Eltern arbeiten in ähnlichen Berufen, häufig sogar in denselben Betrieben. Die meisten haben abbezahlte Einfamilienhäuser. An ihren Kühlschränken hängen Familienfotos oder Postkarten, auf dem Küchentisch liegen die aktuellen Angebotsprospekte. Sie verdienen genug, um im Winterurlaub auch mal pauschal auf die Kanaren zu fliegen. Ein gutes Leben, könnte man meinen.
Doch wenn mir meine Eltern von der Stimmung auf der Arbeit berichten, fällt mir auf: Ihre Kolleg:innen sind verdammt unzufrieden. Sie klagen über neue Prozesse im Betrieb, dass beim Einkaufen alles teurer werde. Sie schimpfen auf „die da oben“ und meinen damit Politiker:innen, denen sie wenig zutrauen und die keine Vorstellung davon hätten, wie der Alltag von Arbeiter:innen ausschaut. Je mehr ich meinen Eltern zuhörte, desto mehr hatte ich den Eindruck: Von ihren Kolleg:innen glaubt niemand mehr daran, dass die Dinge nochmal besser werden. Sie stellen das System, in dem wir leben, grundsätzlich infrage.
Mein Leben ist mittlerweile ein anderes als das meiner Eltern. Ich habe Volkswirtschaftslehre studiert, eine NGO mitgegründet, die sich für eine progressivere Finanzpolitik einsetzt, und einen Master in London gemacht. Aber trotz alledem: wirklich verstehen, warum das Umfeld meiner Eltern sich von dem System abwendet, welches sie bis hierhin gebracht hat, konnte ich nicht. Also habe ich beschlossen, sie zu fragen. Im Sommer fuhr ich von Dorf zu Dorf und habe elf von ihnen getroffen. Kurz vor oder kurz nach ihrer Schicht, in ihren Küchen, Wohnzimmern oder Gärten.
In der Küche von Annika steht ein Sekretär mit Kassetten voller Filzstifte, an dem sie zeichnet und malt. Sie ist 46 Jahre alt, stammt aus der Region, hat eine Ausbildung als Schneiderin gemacht. Trotzdem arbeitete sie als Zeitarbeiterin in der Fabrik und macht einen Job, der wenig mit ihrer Ausbildung zu tun hat.
In den Ferien habe ich früher in derselben Fabrik gejobbt, kenne die Maschinen, von denen sie mir erzählt. Aber der Druck sei gestiegen, sagt Annika. Ständig würden Arbeitsschritte geändert, ohne dass die Arbeiter:innen gefragt würden. Die Änderungen sollen für mehr Effizienz sorgen, aber das funktioniere nur selten. Die Stückzahlen erreiche man dann nur, indem man sich selbst mehr Druck mache. Wie lange sie noch durchhält, kann Annika nicht sagen. „Wir müssen als Land wieder mehr arbeiten“, hatte Bundeskanzler Friedrich Merz im Mai gesagt. Im Grunde gibt Annika ihm recht. „Man hat doch keine andere Wahl, das ist eben der Lauf der Dinge“, sagt sie.
Warum wehrt sie sich nicht, frage ich mich. Aber Annika ist sich sicher, dass die deutsche Gesellschaft absteigen wird. In diesem Punkt sind sich alle, mit denen ich gesprochen habe, einig. „Absteigen“, das ist für sie das Gefühl, dass Tugenden wie Fleiß und Solidarität weniger wert sind. Es sind Geldsorgen. Aber auch ein Gefühl von Ohnmacht angesichts rasender Veränderung. Mein Eindruck: Es geht nicht nur darum, wer morgen weniger hat als heute – sondern auch, wer weniger gehört, respektiert oder gebraucht wird.
Gewerkschaften misstraut man
Auch der 40-Jährige Marco hat das Gefühl, dass es bergab geht. Der Arbeitskollege meines Vaters wurde in seinem Leben schon zweimal gefeuert. An seinem letzten Job in einem Logistikunternehmen hing er. Er war zum Schichtleiter aufgestiegen, aber dann wollte der Betrieb jemand günstigeren einstellen. Trotzdem spricht Marco positiv über seine Jobwechsel: „Beruflich hatte ich wenig von ihnen, aber ich habe viel gesehen und fand es interessant.“ Diesen festen Glauben an die eigene Widerstandskraft, den Willen durchzuhalten, habe ich immer wieder gehört.
Aber meine Eltern meinen etwas anderes, wenn sie sagen: „Wir werden das schon hinbekommen.“ Sie haben das Vertrauen, dass man gemeinsam etwas bewegen kann. Ich glaube, dass ihre Zuversicht aus dem Gefühl hervorgeht, sich auf die Menschen in ihrem Umfeld und die soziale Infrastruktur in Deutschland verlassen zu können.
Die meisten Kolleg:innen meines Vaters dagegen übersetzen die eigene Stärke nicht in den Willen, gemeinsam etwas zu verändern. Tobias, 25, der vor Kurzem von der Zeitarbeit in eine Festanstellung gewechselt ist, sagt mir: „Wenn ich will, werde ich immer einen Job finden. Aber so was wie Betriebsräte oder Gewerkschaften, die reden viel und am Ende kommt wenig bei rum.“
Nach und nach begann ich dieses Misstrauen besser zu verstehen. Meine Eltern haben in Deutschland erlebt, dass persönlicher Einsatz einen Unterschied machen kann. Als ihnen geholfen wurde. Als sie selbst das befreundete Paar vor einer Abschiebung schützen konnten. Sie haben erlebt, wie vietnamesische Migrant:innen füreinander Wohnungsumzüge oder die Kinderbetreuung organisierten.
Den Kolleg:innen meines Vaters fehlt offenbar diese Erfahrung. Sie erlebten gemeinschaftliche Momente vor allem im Betrieb, und dort als Misserfolge. Die Forderung nach einer Klimaanlage in der Produktionshalle für Hitzetage – verpuffte ohne Erfolg. Der Betriebsrat strebte ein Lohnplus von 10 bis 15 Prozent an – am Ende wurde eine bereits geplante Lohnerhöhung als Erfolg präsentiert. Zugleich ist seit der Pandemie die Inflation höher als die Gehaltssteigerungen.
Ich erkläre mir diese Erfahrungen auch mit der schwachen Präsenz von Gewerkschaften im Betrieb. Bis heute wird ihr Einfluss vom Arbeitgeber zurückgedrängt. Kaum jemand ist Gewerkschaftsmitglied. Und ohne genügend Mitglieder bleiben die Lohnverhandlungen ein freiwilliges Zugeständnis des Arbeitgebers. Dazu kommt, dass Leute ständig kommen, um dann gehen zu müssen. Die vielen Jobwechsel und wenigen Festanstellungen verringern das Bewusstsein, Teil einer Gruppe zu sein, die füreinander kämpft.
Manche wählen die AfD
Wovon Annika, Marco und Tobias berichten, erinnert mich an den Begriff der „demobilisierten Klassengesellschaft“. In ihr gibt es die Arbeiterklasse zwar weiterhin, die Arbeiter:innen verfolgen ihre Interessen aber nicht mehr kollektiv. Ohne gemeinsame Strukturen kämpft jede:r für sich. Es ist eine Entwicklung, die seit Langem läuft: Die Zahl der Gewerkschaftsmitglieder sinkt in Deutschland seit den 1980ern.
An einzelne Parteien fühlen sich Arbeiter:innen immer weniger gebunden. Sei es Migration oder Wirtschaft: es dominiert das Gefühl, dass Politiker:innen nur das sagen, was gerade vielen gefällt. Ein Kollege von meinem Vater bringt auf den Punkt, was viele denken: „Die Politik verspricht viel. Bezahlung, Pflege, Bürokratieabbau – immer dasselbe.“ Manche Kolleg:innen von meinem Vater wählen die AfD. Wenn ich sie frage, warum, sagen sie: „Die sehen uns. Die haben eine klare Vorstellung.“ Es ist das Versprechen der neuen Rechten, mit den Arbeiter:innen eine angebliche glorreiche Vergangenheit zurückzuholen.
Viele meiner Gesprächspartner:innen grenzen sich von der Gesellschaft ab, berufen sich auf ihre Leistung. Sie sagen Sätze wie: „Ich habe nie einen Cent an Sozialleistungen genommen. Ich arbeite, ich liefere, das ist, was zählt.“ Als müssten sie ihren Platz in der Gesellschaft moralisch verteidigen. Denn wer fleißig ist, hat seinen Platz verdient, wer sich drückt, nicht.
Dieser Arbeiter:innenstolz ist kein neues Phänomen, sondern zeigte sich bereits in Studien aus den USA oder Frankreich der 1990er. Das Problem ist nur: Dieser Stolz mag sich gut anfühlen, während man selber noch Arbeit hat und sich mit ihm abgrenzt von jenen Gruppen, die nicht arbeiten können oder wollen. Aber letztlich führt er nicht aus der Vereinzelung, der Konkurrenz untereinander. Eine gemeinsame Zukunftsvision ist er nicht.
Für die politische Theoretikerin Hannah Arendt beruhen Demokratien auf dem Verständnis, dass die Zukunft offen ist und wir durch kollektives Handeln gemeinsam das Morgen gestalten können. Die Zukunftsbilder der Arbeiter:innen, mit denen ich gesprochen habe, zeigen das fatale Gegenteil: Sie glauben nicht, dass sie in Zukunft noch einen guten Platz in dieser Gesellschaft haben werden. Die Zukunft wirkt auf sie festgeschrieben – zu ihren Ungunsten. Niemand von ihnen rechnet damit, dass kollektive und politische Strukturen ihnen helfen werden. Der eigene Stolz ist ihr letzter Zufluchtsort, doch es ist fraglich, ob er sie vor Automatisierung, Überreichtum und wachsender Konzentration von Produktionsmitteln schützen wird.
Die Kolleg:innen meines Vaters blicken anders in die Zukunft als meine Eltern, ja. Aber das liegt für mich nicht an ihrer grundverschiedenen Mentalität. Sondern daran, dass sie in ihren Leben weniger kollektive Selbstwirksamkeit erfahren haben. Und das lässt sich ändern.
Die Arbeiter:innen, mit denen ich gesprochen habe, sagten mir: „Man hat immer mehr das Gefühl, man ist allein und bewirkt einfach nichts.“ Ich höre daraus den lange unterdrückten Wunsch, die Gesellschaft wieder kollektiv zu gestalten. Durch Gewerkschaften und Betriebsräte, von unten. Aber auch durch mehr Arbeiter:innen im Bundestag. Derzeit sind sie dort stark unterrepräsentiert.
Anpacken gegen die Unsicherheit
Gleichzeitig muss Politik den Mut aufbringen, die Kräfteverhältnisse in der Arbeitswelt und in den Kommunen neu zu ordnen. Niedriglöhne und Leiharbeit sollten eingedämmt, demokratische Betriebsstrukturen gefördert werden. Politik kann vor Ort Räume schaffen, in denen Menschen sich einbringen können, zum Beispiel über Beteiligungsbudgets im eigenen Dorf. Und sie sollte öffentliche Daseinsvorsorge als Mittel verstehen, um Zeit für Teilhabe freizuräumen. Wer auf verlässliche Infrastruktur bei öffentlichem Nahverkehr, Pflege und Kinderbetreuung zurückgreifen kann, hat die Möglichkeit, sich am öffentlichen Leben zu beteiligen.
Am Ende meiner Recherche habe ich mich gefragt: Wie kommen solche Ideen eigentlich bei jenen an, denen sie helfen sollen? Also habe ich noch einmal Annika angerufen. „Das hört sich erst mal nicht schlecht an“, sagt sie. Ja, man sollte mehr auf Arbeiter:innen hören.
Annikas erste Reaktion stimmt mich hoffnungsvoll. Denn nach meinen Gesprächen mit Marco, Tobias und Annika glaube ich: Hätten Arbeiter:innen die Räume und Ressourcen, um ihre Betriebe und den öffentlichen Raum mitzugestalten, würden sie anders auf die Zukunft blicken. Offener, optimistischer.
Annika weiß, dass sie die Zukunft auch mit diesen Maßnahmen nicht komplett in der eigenen Hand hätte. Aber sie sagt: „Ich könnte mir vorstellen, mitzumachen.“ Anzupacken, das würde ihr helfen gegen das Gefühl der Unsicherheit.
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