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Drogenmafia in MarseilleMorden, um den Widerstand zu brechen

Rudolf Balmer

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Rudolf Balmer

In Marseille tötet die Mafia den Bruder eines Anti-Drogen-Aktivisten, um Gegner einzuschüchtern. Trotzdem kommen am Samstag Tausende zur Demo.

Kundgebung in Marseille: Die Mutter des ermordeten Mehdi Kessaci trägt das Bild ihres Sohnes auf der Brust Foto: Gilles Bader

M ehdi Kessaci heißt das letzte Opfer eines Mordanschlags in Marseille: ein Toter zu viel in dieser Stadt, die seit Jahren mit einer immer brutaleren Gewalt des „organisierten Verbrechens“ – die Drogenmafia im administrativen Jargon – leben muss. Der Mord am 20-jährigen Mehdi Kessaci stellt eine neue Stufe im Kampf der Narco-Bosse um die Macht dar.

Mehdi selbst hatte nichts mit den Dealern zu tun, war in keiner Weise in das Drogenmilieu involviert. Das Attentat galt seinem zwei Jahre älteren Bruder Amine. Der hatte den Kriminellen im Quartier und auf politischem Terrain den Kampf angesagt, seitdem vor 5 Jahren der älteste Sohn der algerischen Familie Kessaci getötet worden war: Auch Brahim wurde von den Drogenbanden der Nordquartiere ermordet.

Mehdi Kessaci hatte beschlossen, sich zum Polizeibeamten ausbilden zu lassen. Dazu kam es nicht. Am 13. November wurde er von zwei mit Motorradhelmen Vermummten erschossen. Die verwendete 9-mm-Munition ist ein Bekennerschreiben: Es ist das Kaliber der bezahlten Killer der Drogenmafia. Mit der Strafaktion gegen einen Unbeteiligten wollen sie die ganze Bevölkerung einschüchtern und ihre politischen Gegner wie Amine zum Schweigen bringen.

Demonstration gegen die Macht der Mafia

Amine versprach bei der Beisetzung seines Bruders am Dienstag, dass es ihnen nicht gelingen werde. Seinem Aufruf zu Protestversammlungen folgten am Samstag in Marseille Tausende, trotz der Angst vor Repressalien der Gangsterbosse. Es war kein Schweigemarsch, sondern eine Demonstration gegen die Macht der Drogenmafia.

Sie schlagen uns, um uns zu brechen, zu unterwerfen und dienstbar zu machen

Amine Kessaci, Aktivist und Kämpfer gegen die Narcos

Der bei den Grünen (Les Écologistes) politisch engagierte Amine Kessaci ist zu seinem eigenen Leid über Marseille hinaus zu einer Leitfigur im Kampf gegen die „Narcos“ geworden. Und er hat nicht die Absicht, zu kapitulieren. In seinem von Le Monde publizierten Aufruf zu den Kundgebungen gegen die Mafia schreibt er: „Sie schlagen uns, um uns zu brechen, zu unterwerfen und dienstbar zu machen. Das wollen die Dealer: Sie versuchen, jeglichen Widerstand zunichtezumachen.“ Aus Solidarität fanden auch in 20 anderen Städten Kundgebungen oder Mahnwachen statt. Denn Marseille ist längst kein Einzelfall mehr. Die Drogenbanden weiten ihr Geschäft und ihre Herrschaft bis in Kleinstädte und Dörfer aus und schrecken vor nichts zurück.

Die Familie Kessaci wohnt im Viertel Frais-Vallon. Es ist eines der Außenquartiere von Marseille, wo „bis zur Verzweiflung alle Übel konzentriert sind, die den Drogenhandel begünstigen“. So beschreibt Libération ein Foto, auf dem eines der hässlichen Wohnsilos zu sehen ist, die das Bild der mittlerweile berüchtigten Siedlungen im Norden von Marseille prägen.

In den Hochhaussiedlungen im Norden und Nordwesten, wo die zuletzt zugewanderten Familien einquartiert wurden, hat das illegale Business einen neuen Nährboden gefunden. Bei den arbeitslosen Jugendlichen, die sich wirtschaftlich, sozial und kulturell ausgeschlossen fühlen, rekrutieren Dealer mit dem Angebot, auf die Schnelle Geld zu verdienen, problemlos Helfer und Komplizen, sogar Auftragsmörder.

Direkt mit dem Staat anlegen

Nichts wird sich ändern, solange die Jugendlichen in diesen lange Zeit vernachlässigten Vierteln keine echte Aussicht auf Chancengleichheit und sozialen Aufstieg bekommen. Und auch nicht, solange die Zahl der Käufer nicht sinkt. Die Mafia lebt davon, dass der Cannabisverkauf und -konsum in Frankreich in den illegalen Untergrund verdrängt wird.

Blutige Abrechnungen unter rivalisierenden Banden, die sich einen rücksichtslosen Krieg um Reviere liefern, sind in Marseille an der tristen Tagesordnung. Die Mordstatistik führt 49 Tote für 2023 auf, 24 für 2024, „bloß“ 14 seit Jahresbeginn. Der zahlenmäßige Rückgang könnte als Erfolg der polizeilichen Repression ausgelegt werden. Die Realität ist eher, dass die rücksichtsloseste der Gangs, die sich selbst „DZ Mafia“ nennt, ihre Vorherrschaft konsolidiert hat. „Wir stehen heute nicht mehr einfachen Dealern gegenüber, sondern Leuten, die sich direkt mit dem Staat anlegen“, sagt in Le Monde Fathi Bouaroua, ein langjähriges Mitglied einer Vereinigung für Obdachlose.

Oberbürgermeister Benoît Payan, der seit 2020 an der Spitze der rot-grünen Stadtregierung steht, hat versprochen, zusammen mit der Zentralregierung die Herausforderung anzunehmen. In vier Monaten sind Kommunalwahlen, und Payan kämpft um seine Wiederwahl. Im Quartier Frais-Vallon und den anderen Vierteln, die von den „Narcos“ kontrolliert werden, möchte man hoffen, dass die markigen Worte mehr als Wahlslogans sind.

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Rudolf Balmer
Auslandskorrespondent Frankreich
Frankreich-Korrespondent der taz seit 2009, schreibt aus Paris über Politik, Wirtschaft, Umweltfragen und Gesellschaft. Gelegentlich auch für „Die Presse“ (Wien) und die „Neue Zürcher Zeitung“.
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