Selenskyj unter Druck: In die Ecke getrieben
Der ukrainische Präsident Selenskyj steckt in einer tiefen politischen Krise. Der nun vorgestellte „Friedensplan“ könnte für ihn und die Ukraine kaum ungünstiger sein.
Es ist der größte Korruptionsskandal seit Beginn des russischen Angriffskriegs, der die Ukraine derzeit erschüttert. Die Antikorruptionsbehörden haben ausgerechnet einen Betrug in einem der wichtigsten strategischen Bereiche des Landes aufgedeckt: beim staatlichen Unternehmen Energoatom. Das ist zuständig für die Kernenergie und soll dafür sorgen, dass mehr als die Hälfte des Strombedarfs des Landes gedeckt ist.
Laut den Ermittlungen des Nationalen Antikorruptionsbüros konnten sich die Mitglieder der kriminellen Gruppe um etwa 100 Millionen Dollar bereichern, indem sie 10 bis 15 Prozent von jedem Lieferantenvertrag, die die Aufträge von Energoatom erfüllten, für sich behielten.
Der Kopf der Gruppe ist offenbar der Geschäftsmann Timur Mindich. Und dieser wiederum ist ein enger Freund und ehemaliger Showbusiness-Partner von Wolodymyr Selenskyj, dem ukrainischen Präsidenten. Alle Mitglieder des Korruptionsnetzwerks wurden festgenommen und es wird gegen sie ermittelt.
Mindich konnte jedoch am Tag vor den Durchsuchungen legal das Land verlassen. Nach den Enthüllungen wurde nicht nur die Chefetage von Energoatom entlassen, sondern es traten auch zwei Minister zurück, die ebenfalls im Beweismaterial auftauchen.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Druck von allen Seiten
Das Ausmaß der Korruption im Energiesektor, der unter den russischen Angriffen am stärksten leidet, ist enorm. Immer mehr Stimmen fordern von Präsident Selenskyj nicht nur den Rücktritt aller Verantwortlichen und ihre gerechte Bestrafung, sondern auch einen Neustart der gesamten Regierung. Auch Abgeordnete aus der Präsidentenpartei „Diener des Volkes“ sind empört. Zum ersten Mal seit ihrer Wahl 2019 in die Werchowna Rada – das ukrainische Parlament – wollen etliche Abgeordnete der Partei, dass es umfassende Veränderungen in der Staatsführung gibt. Einige von ihnen fordern sogar den Rücktritt des Leiters des Präsidialamtes, Andrij Jermak. Jermak gilt als Schlüsselfigur der ukrainischen Staatsführung und soll derzeit die Prozesse im Land kontrollieren.
Auch sein Name soll in den noch nicht veröffentlichten Korruptionsbeweisen auftauchen. Die Behörden bestätigen oder dementieren diese Information derzeit nicht. Die Abgeordneten der Partei „Diener des Volkes“, die gemeinsam mit der Opposition einen Neustart der Regierung fordern, schließen einen Austritt aus der Fraktion nicht aus, sollte der Präsident nicht schnell und ausreichend auf den Skandal reagieren. Treten vier Abgeordnete aus der Fraktion aus, würde dies das Ende der absoluten Mehrheit bedeuten.
Politische Gegner machen Druck, die eigene Partei, die Medien und die Zivilgesellschaft – und fordern Jermaks Rücktritt. Doch Selenskyj wird den Leiter des Präsidialamtes nicht abberufen. Nun werden alle Anstrengungen unternommen, um die Abgeordneten in der Fraktion zu halten, die gegen diese Entscheidung sind. Solche Situationen kennt Selenskyj. Im Sommer gingen Tausende auf die Straße, als er per Gesetz der Generalstaatsanwaltschaft mehr Einfluss auf die Antikorruptionsbehörden ermöglichen wollte. Erst nach den Protesten lenkte er ein.
Was heißt der „Friedensplan“ für die Ukraine?
Selenskyjs innenpolitische Krise ist ein Problem. Sie schwächt auch seine Position im Kampf für einen gerechten Frieden für die Ukraine auf internationaler Ebene. Seit Monaten arbeiteten die USA und Russland an einem gemeinsamen „Friedensplan“ für die Ukraine und haben diesen nun an Kyjiw übermittelt. Der 28-Punkte-Plan enthält nahezu alle Maximalforderungen, die der russische Präsident Wladimir Putin wiederholt geäußert hat. Für die Ukraine bedeutet die Liste eher die Kapitulation als einen dauerhaften und gerechten Frieden.
Darüber hinaus enthält der Plan zahlreiche Punkte, die die wirtschaftliche und politische Zusammenarbeit mit Russland betreffen – auf Kosten der Ukraine und Europas. US-Präsident Trump hat Selenskyj offenbar eine Frist bis zum 27. November gesetzt, um die Vereinbarung zu akzeptieren. Und Europa? Kanzler Merz, Frankreichs Präsident Macron und der britische Premier Starmer stehen Selenskyj immerhin beratend zur Seite.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert