Georgiens Härte: Eine Ohrfeige, zwei Jahre Haft
Seit der Wahl wehrt sich Georgiens Bevölkerung gegen den totalitären, prorussischen Staatsapparat. Sie hat immer mehr Gründe, zu demonstrieren.
Als Zviad Ratiani im Gerichtssaal von Tbilissi, der Hauptstadt von Georgien, im Oktober sein Abschlussstatement vorträgt, spricht er lange über ein Ereignis, das nur wenige Millisekunden dauerte.
So berichten es Weggefährten, die bei der Verhandlung dabei waren. Ratiani, einer der bekanntesten Dichter und Oppositionellen Georgiens, hat im Juni bei einer Demonstration in Tbilissi einen Polizisten geohrfeigt. Deshalb steht er vor Gericht. „Ich sehe diese Ohrfeige weder als etwas an, worauf man stolz sein sollte, noch betrachte ich sie als etwas Schändliches oder Kriminelles“, erklärt der 54-Jährige vor der Urteilsverkündung im Tbilisi City Court.
„Wir erleben hier eher die Absurdität, dass das Opfer wie der Täter behandelt wird und der Täter Zeuge, Ankläger und alles andere zugleich ist.“ Eine symbolische Geste sei seine Ohrfeige gewesen, die man im Kontext des absurden Staats betrachten müsse, in dem er lebe.
Zviad Ratiani ist eine Art Public Intellectual in seinem Heimatland. Seit vielen Jahren setzt sich der Autor gegen die vom Oligarchen Bidsina Iwanischwili gesteuerte prorussische Regierung ein. Seine Gedichte handeln nicht selten von der Repression in Georgien.
Polizisten prügelten ihn krankenhausreif
Ratiani ist mehrmals Opfer von Polizeigewalt geworden, erstmals wird er bereits 2017 verhaftet und misshandelt. Im Jahr darauf geht er ins Exil nach Österreich, 2022 kehrt er zurück, Ende November 2024 nimmt er an den proeuropäischen Demonstrationen nach den Parlamentswahlen in Georgien in Tbilissi teil.
Polizisten prügeln ihn da krankenhausreif, er kommt kurzzeitig in Haft und wieder frei. Für die Ohrfeige verurteilt das Gericht in Tbilissi ihn schließlich im Oktober zu zwei Jahren Haft. Straftatbestand: „Widerstand, Drohung oder Gewalt gegen einen Ordnungshüter“ nach Artikel 353 des georgischen Strafgesetzbuchs.
Die zwei wohl prominentesten politischen Gefangenen Georgiens sind wegen des gleichen Delikts verurteilt worden. Neben Ratiani ist das Mzia Amaghlobeli, Journalistin und Betreiberin der beiden oppositionellen Nachrichtenwebsites Batumelebi und Netgazeti. Auch sie hat an Protesten teilgenommen, auch sie hat – im Januar in der Stadt Batumi – einen Polizisten geohrfeigt, auch sie hat zwei Jahre Haft bekommen.
Proteste seit über einem Jahr
In der vergangenen Woche ist das Urteil vom Berufungsgericht Kutaissi bestätigt worden. „An Zviad Ratiani und Mzia Amaghlobeli soll ein Exempel statuiert werden“, sagt Nestan Tsetskhladze, Ko-Chefredakteurin bei Netgazeti, im Videochat mit der taz. „Ein Staatsanwalt hat bei der Anhörung zu Mzias Fall gesagt, von dem Urteil gegen sie solle eine abschreckende Wirkung ausgehen.“ Georgische Schauprozesse also.
Die beiden Strafverfahren passen jedenfalls zur Entwicklung Georgiens vom jetzt schon autoritären hin zu einem totalitären Staat nach belarussischem Vorbild. Seit nun genau einem Jahr protestiert der prodemokratische Teil der georgischen Zivilgesellschaft gegen diese Politik.
Zur Erinnerung: Zunächst verabschiedete die Regierung 2024 ein „Ausländische-Agenten-Gesetz“ nach russischem Vorbild, das NGOs und Oppositionsmedien als westliche Feinde markiert. Bei den Parlamentswahlen 2024 dann hat sich die zuvor schon regierende Partei Georgischer Traum von Strippenzieher Iwanischwili zum Sieger erklärt.
Die OSZE, die weltweit größte regionale Sicherheitsorganisation, erklärte, es sei im Zusammenhang mit der Wahl unter anderem zu Gewalt gegen Beobachter:innen, Stimmenkauf sowie Mehrfachabstimmungen gekommen. Als die alte und neue Regierung kurz darauf erklärte, die Beitrittsverhandlungen mit der EU bis 2028 auszusetzen, begannen am 28. November 2024 die Proteste auf den Straßen Georgiens. Und halten bis heute an.
Attacken auf die Opposition gehen weiter
Die Gründe zu demonstrieren wurden seitdem eher mehr als weniger. Der Georgische Traum installierte Ende 2024 den Ex-Profifußballer Micheil Kawelaschwili als Marionettenpräsidenten. Der vorherigen Präsidentin Salome Surabischwili, die für eine Annäherung an die EU stand, blieb nur der Rückzug. Die Attacken auf die Opposition gehen bis heute weiter: Erst in dieser Woche hat die Regierung angekündigt, den mehrheitlich proeuropäischen, im Ausland lebenden Georgier:innen das Wahlrecht entziehen zu wollen.
Gvantsa Jobava kennt den Schriftsteller Zviad Ratiani sehr gut, sie ist seine Verlegerin und Präsidentin der International Publishers Association. Gesundheitlich gehe es ihm gut, erzählt sie im Videochat, er werde im Gefängnis einigermaßen okay behandelt. „Anfangs haben sie ihm nicht erlaubt, einen Stift in der Zelle zu haben. Das war eine Qual für ihn, denn er will in Haft schreiben.“
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Deshalb habe er auch beantragt, in eine Einzelzelle zu kommen – mit Erfolg. „Jetzt arbeitet er an Gedichten, lässt uns seine Werke zukommen. Wir haben einige davon in einer georgischen Literaturzeitschrift veröffentlicht.“
Der Wille der georgischen Protestierenden ist bemerkenswert. Viele Demonstrant:innen wurden misshandelt und geschlagen, das Menschenrechtszentrum der University of Georgia dokumentiert diese Fälle. Im Zusammenhang mit den Protesten zählt das Portal Civil Georgia 40 politische Gefangene. Gegen zahlreiche NGOs und Oppositionsmedien wird ermittelt, Büros werden untersucht.
„Die EU sollte geschlossen Sanktionen gegen georgische Regierungsmitglieder erlassen“, fordert Gvantsa Jobava. In Deutschland gibt es bereits Einreisesperren gegen insgesamt zwölf georgische Beamte. Die EU hat diese Woche neue Regeln zur Visafreiheit für Menschen mit georgischem Pass beschlossen, die es ermöglichen sollen, georgischen Diplomaten den Zutritt zum Schengen-Raum zu verwehren und zugleich die einfachen Bürger nicht betreffen soll.
Ein Zeichen der Stärke
Mzia Amaghlobeli erhält in diesem Jahr für ihre Verdienste um die Meinungsfreiheit und die Menschenrechte den Sacharow-Preis des Europäischen Parlaments. Zur Verleihung erscheinen kann sie natürlich nicht, seit dem 12. Januar ist sie in Haft. Amaghlobeli überlebte einen 38-tägigen Hungerstreik zu Beginn ihrer Haftzeit.
Sie hat eine Augenkrankheit, bekommt in Haft bis heute nicht die notwendige medizinische Behandlung und droht zu erblinden. Bei der abschließenden Verhandlung des Berufungsverfahrens in dieser Woche war Nestan Tsetskhladze dabei, sie hat ihre Kollegin vor Gericht gesehen.
„Bei der Urteilsverkündung hat sie gelächelt“, sagt sie und interpretiert dies als Zeichen der Stärke. Einmal pro Woche könne sie mit ihr telefonieren. „Sie sagt immer, wir sollen uns keine Sorgen um sie machen“, erzählt Tsetskhladze. „Aber die Gespräche sind kompliziert für uns beide, weil wir ja wissen, dass sie von den Behörden überwacht werden.“
Vor dem Tbilisi City Court spricht Zviad Ratiani Mitte Oktober auch noch über sein Gewissen. Es hätte sich gemeldet, als er die Bilder von den Demonstrationen und der Gewalt der Staatsbediensteten gesehen habe. „Dieses Gewissen hat mich wirklich geplagt, als ich zu Hause in meinem eigenen Bett lag und an meinen Texten arbeitete, die niemand brauchte.“ Für Zviad Ratiani war dies ein Anstoß hinauszugehen – und zu kämpfen.
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