Brief an den Nachbarn: Michael, wir haben ein Problem
Unsere Autorin, 28, ist von ihrem Nachbarn angesprochen worden, weil er sie durchs Fenster sehen kann. Ein Wutbrief.
L ieber Michael,
ich schreibe dir hier in der Zeitung, damit wir Zeug*innen haben. Ich will, dass mehr Menschen lesen, was ich dir zu sagen habe. Weil du in einem linksgrünen Viertel von Hamburg wohnst und aussiehst, wie ein netter, weißer Mittelschichtsdaddy, könnte es sein, dass du taz liest und dich das hier erreicht.
Du hast mich vor einigen Monaten angesprochen als ich morgens den gelben Sack in die Mülltonne vor meiner Haustür knallte. Du warst winkend von der anderen Straßenseite herüber gerannt. Ich hatte dich vorher noch nie gesehen. Du sagtest, es sei gut, dass wir uns endlich mal träfen. Du sprachst schnell, locker und freundlich. Du sagtest, dass du für ein paar Wochen vereisen würdest, was öfter im Jahr vorkäme. Du hättest dir überlegt, dann ab jetzt immer ein Fähnchen in dein Fenster zu hängen, damit ich Bescheid wüsste.
Ich wusste nicht, wovon du sprachst und wollte zur Arbeit. Du erklärtest, dass deine Wohnung sich auf Höhe meiner Fenster befände und du nicht anders könntest als hinaus zu schauen, quasi gezwungenermaßen schauen müsstest. Du hättest gesehen, dass ich meine Vorhänge zumachen würde und würdest nur wollen, dass ich mir nicht mehr so einen Stress machen müsste, wenn du ohnehin nicht da wärst, deswegen das Fähnchen. Du sagtest „Ich bin übrigens Michael“ und dass es doch nett sei, dass wir uns jetzt einfach mal kennengelernt hätten.
Das Problem
Ich begriff. Ich ließ dich stehen. Auf dem Fahrrad überkam mich Scham, weil ich gerne nackt durch mein Zimmer renne und nachlässig bin beim Zuziehen meiner halb-transparenten Vorhänge. Ich habe drei Fenster, eins davon ist ein großes Dachfenster, das gar keinen Vorhang hat, damit ich den Himmel sehen kann.
Michael, vielleicht fragst du dich, warum ich dir das schreibe. Die Antwort ist einfach. Du hast mir durch die Blume gesagt, dass du mich siehst. Doch es gibt etwas, was du nicht siehst: Ein Problem.
Am Abend nachdem du mich angesprochen hast, kam ich nach Hause, es war ein Fähnchen in deinem Fenster. Egal, was deine Intention war und ob du wirklich verreist warst. Fakt ist, ich fühle mich seither in meinem Zimmer nicht mehr gut, ich fühle mich beobachtet.
Warum?
Michael, warum hast du das gemacht? Gehen wir von der Möglichkeit aus, dass du willst, dass deine Nachbarin, eine junge Frau, entspannt ihre Vorhänge auflassen kann, wenn du nicht da bist. Hinter dieser netten Intention können verschiedene Annahmen liegen. Meine Auswahl:
1. Michael glaubt, dass ich meine Vorhänge nur zumache, damit er mich nicht sieht.
2. Michael glaubt, dass ich meine Vorhänge nur nicht zumache, damit er mich sieht.
3. Michael glaubt, dass ich nicht weiß, dass er mich sehen könnte.
4. Michael glaubt, dass ich mich vor seinem Blick verhüllen will/sollte/muss.
5. Michael glaubt, dass es besser ist, wenn er mir nicht ins Gesicht sagt, dass er mich sehen kann, und lieber, dass er ein Fähnchen in sein Fenster hängt.
Oder, andere Möglichkeit, Michael:
Du glaubst, dass ich dir glaube, dass du nicht da bist, wenn dein Fähnchen draußen hängt, obwohl du da bist. Du hoffst, dass ich dann meinen Vorhang offen lassen werde, sodass du mich besser sehen kannst.
Mindfuck.
Die wichtigste Frage, Michael: Warum hast du den Mitbewohner, der vor mir in dem Zimmer wohnte, nie angesprochen? ER HATTE GAR KEINE VORHÄNGE! Was glaubst du, Michael, was GLAUBST DU?????
Wütend und gelähmt
Drehen wir die Sache mal um. Hast du mal darüber nachgedacht, was ich von meinem Zimmer aus sehe? Hast du darüber nachgedacht, dass ich deshalb kein Rollo am Dachfenster habe, um den Himmel sehen zu können, nicht um von dir gesehen zu werden? Glaubst du, es wäre wichtiger, dass ich nicht gesehen werde als dass ich den Himmel sehe? Wenn du mich nicht sehen willst, wieso machst du nicht einfach deine Vorhänge zu?
Seit du mich angesprochen hast, bin ich wütend und gleichzeitig gelähmt. Wenn ich etwas an meinen Fenstern verändern würde (die Vorhänge auflassen, wenn dein Fähnchen da ist oder sie zu machen, wenn es nicht da ist oder mir dickere Vorhänge anschaffen oder, oder … ) wäre es eine Reaktion darauf, dass du mich angesprochen hast. Ich will mich dir aber nicht beugen. Außerdem will ich weiterhin rausschauen.
Deswegen verändere ich fast nichts. Nur am Abend, beim Lüften, halte ich seither den Mittelfinger aus dem Fenster in deine Richtung, vielleicht hast du es schon mal gesehen. Dabei habe ich durchaus mehr Ideen. Ich könnte ein Rollo für mein Dachfenster bedrucken lassen mit einer Frau im Airbrushstyle, deren Brüste Augen haben, und der Überschrift „Wir sehen dich“, um dir Angst zu machen. Ich könnte ganz pragmatisch Spiegelfolie an meine Fenster kleben, durch die ich von innen sehen kann, aber du von außen nicht.
Boah Michael, ich hasse, dass ich überhaupt deinen Namen weiß. Ich habe nicht darum gebeten. Ich will überhaupt keine Beziehung mit dir haben. Eigentlich will ich überhaupt keine Sekunde damit verbringen, mir Gedanken zu machen über dich, weil ich andere Sachen zu tun habe. Ironisch, das zu tippen, während ich diesen Brief schreibe, ich weiß.
Sehen ohne beobachtet zu werden
Michael, du hast das Versprechen der Großstadt auf Anonymität gebrochen. Wusstest, du dass diese Anonymität auf der Straße nur für bestimmte Subjekte existiert? Es sind vor allem weiße Männer mit genug Geld. Die meisten von ihnen können umherlaufen und beobachten ohne angestarrt zu werden. Anonymität ist ein Privileg, genauso wie das Sehen ohne beobachtet zu werden.
Kannst du dir vorstellen, was für alle, die es nicht genießen, ein eigenes Zimmer, in dem sie sein können, ohne dass ihnen jemand erzählt, dass man sie sieht, bedeutet?
Michael, falls du dich immer noch fragst, was das hier soll, du bist nicht allein. Ich habe Freund*innen von dir erzählt und sie haben gesagt, dass ihnen leid tut, was passiert ist. Ich habe Männern von dir erzählt und sie haben mein Problem nicht verstanden.
Ach Michael, ehrlich gesagt, juckst du mich im Alltag weniger als es dieser Brief vermuten lässt. Es gibt größere Probleme als dich. Es tat trotzdem gut, dir zu schreiben. Ich hoffe, du fühlst dich GESEHEN.
Ps. Meine Freund*innen und ich beobachten dich.
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