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Brief an den NachbarnMichael, wir haben ein Problem

Kommentar von

Zora Neuhaus

Unsere Autorin, 28, ist von ihrem Nachbarn angesprochen worden, weil er sie durchs Fenster sehen kann. Ein Wutbrief.

„Michael – Warum hast du das gemacht?“ Foto: Daniel K Schweitzer/plainpicture

L ieber Michael,

ich schreibe dir hier in der Zeitung, damit wir Zeu­g*in­nen haben. Ich will, dass mehr Menschen lesen, was ich dir zu sagen habe. Weil du in einem linksgrünen Viertel von Hamburg wohnst und aussiehst, wie ein netter, weißer Mittelschichtsdaddy, könnte es sein, dass du taz liest und dich das hier erreicht.

Du hast mich vor einigen Monaten angesprochen als ich morgens den gelben Sack in die Mülltonne vor meiner Haustür knallte. Du warst winkend von der anderen Straßenseite herüber gerannt. Ich hatte dich vorher noch nie gesehen. Du sagtest, es sei gut, dass wir uns endlich mal träfen. Du sprachst schnell, locker und freundlich. Du sagtest, dass du für ein paar Wochen vereisen würdest, was öfter im Jahr vorkäme. Du hättest dir überlegt, dann ab jetzt immer ein Fähnchen in dein Fenster zu hängen, damit ich Bescheid wüsste.

Ich wusste nicht, wovon du sprachst und wollte zur Arbeit. Du erklärtest, dass deine Wohnung sich auf Höhe meiner Fenster befände und du nicht anders könntest als hinaus zu schauen, quasi gezwungenermaßen schauen müsstest. Du hättest gesehen, dass ich meine Vorhänge zumachen würde und würdest nur wollen, dass ich mir nicht mehr so einen Stress machen müsste, wenn du ohnehin nicht da wärst, deswegen das Fähnchen. Du sagtest „Ich bin übrigens Michael“ und dass es doch nett sei, dass wir uns jetzt einfach mal kennengelernt hätten.

Das Problem

Ich begriff. Ich ließ dich stehen. Auf dem Fahrrad überkam mich Scham, weil ich gerne nackt durch mein Zimmer renne und nachlässig bin beim Zuziehen meiner halb-transparenten Vorhänge. Ich habe drei Fenster, eins davon ist ein großes Dachfenster, das gar keinen Vorhang hat, damit ich den Himmel sehen kann.

Michael, vielleicht fragst du dich, warum ich dir das schreibe. Die Antwort ist einfach. Du hast mir durch die Blume gesagt, dass du mich siehst. Doch es gibt etwas, was du nicht siehst: Ein Problem.

Am Abend nachdem du mich angesprochen hast, kam ich nach Hause, es war ein Fähnchen in deinem Fenster. Egal, was deine Intention war und ob du wirklich verreist warst. Fakt ist, ich fühle mich seither in meinem Zimmer nicht mehr gut, ich fühle mich beobachtet.

Warum?

Michael, warum hast du das gemacht? Gehen wir von der Möglichkeit aus, dass du willst, dass deine Nachbarin, eine junge Frau, entspannt ihre Vorhänge auflassen kann, wenn du nicht da bist. Hinter dieser netten Intention können verschiedene Annahmen liegen. Meine Auswahl:

1. Michael glaubt, dass ich meine Vorhänge nur zumache, damit er mich nicht sieht.

2. Michael glaubt, dass ich meine Vorhänge nur nicht zumache, damit er mich sieht.

3. Michael glaubt, dass ich nicht weiß, dass er mich sehen könnte.

4. Michael glaubt, dass ich mich vor seinem Blick verhüllen will/sollte/muss.

5. Michael glaubt, dass es besser ist, wenn er mir nicht ins Gesicht sagt, dass er mich sehen kann, und lieber, dass er ein Fähnchen in sein Fenster hängt.

Oder, andere Möglichkeit, Michael:

Du glaubst, dass ich dir glaube, dass du nicht da bist, wenn dein Fähnchen draußen hängt, obwohl du da bist. Du hoffst, dass ich dann meinen Vorhang offen lassen werde, sodass du mich besser sehen kannst.

Mindfuck.

Die wichtigste Frage, Michael: Warum hast du den Mitbewohner, der vor mir in dem Zimmer wohnte, nie angesprochen? ER HATTE GAR KEINE VORHÄNGE! Was glaubst du, Michael, was GLAUBST DU?????

Wütend und gelähmt

Drehen wir die Sache mal um. Hast du mal darüber nachgedacht, was ich von meinem Zimmer aus sehe? Hast du darüber nachgedacht, dass ich deshalb kein Rollo am Dachfenster habe, um den Himmel sehen zu können, nicht um von dir gesehen zu werden? Glaubst du, es wäre wichtiger, dass ich nicht gesehen werde als dass ich den Himmel sehe? Wenn du mich nicht sehen willst, wieso machst du nicht einfach deine Vorhänge zu?

Seit du mich angesprochen hast, bin ich wütend und gleichzeitig gelähmt. Wenn ich etwas an meinen Fenstern verändern würde (die Vorhänge auflassen, wenn dein Fähnchen da ist oder sie zu machen, wenn es nicht da ist oder mir dickere Vorhänge anschaffen oder, oder … ) wäre es eine Reaktion darauf, dass du mich angesprochen hast. Ich will mich dir aber nicht beugen. Außerdem will ich weiterhin rausschauen.

Deswegen verändere ich fast nichts. Nur am Abend, beim Lüften, halte ich seither den Mittelfinger aus dem Fenster in deine Richtung, vielleicht hast du es schon mal gesehen. Dabei habe ich durchaus mehr Ideen. Ich könnte ein Rollo für mein Dachfenster bedrucken lassen mit einer Frau im Airbrushstyle, deren Brüste Augen haben, und der Überschrift „Wir sehen dich“, um dir Angst zu machen. Ich könnte ganz pragmatisch Spiegelfolie an meine Fenster kleben, durch die ich von innen sehen kann, aber du von außen nicht.

Boah Michael, ich hasse, dass ich überhaupt deinen Namen weiß. Ich habe nicht darum gebeten. Ich will überhaupt keine Beziehung mit dir haben. Eigentlich will ich überhaupt keine Sekunde damit verbringen, mir Gedanken zu machen über dich, weil ich andere Sachen zu tun habe. Ironisch, das zu tippen, während ich diesen Brief schreibe, ich weiß.

Sehen ohne beobachtet zu werden

Michael, du hast das Versprechen der Großstadt auf Anonymität gebrochen. Wusstest, du dass diese Anonymität auf der Straße nur für bestimmte Subjekte existiert? Es sind vor allem weiße Männer mit genug Geld. Die meisten von ihnen können umherlaufen und beobachten ohne angestarrt zu werden. Anonymität ist ein Privileg, genauso wie das Sehen ohne beobachtet zu werden.

Kannst du dir vorstellen, was für alle, die es nicht genießen, ein eigenes Zimmer, in dem sie sein können, ohne dass ihnen jemand erzählt, dass man sie sieht, bedeutet?

Michael, falls du dich immer noch fragst, was das hier soll, du bist nicht allein. Ich habe Freun­d*in­nen von dir erzählt und sie haben gesagt, dass ihnen leid tut, was passiert ist. Ich habe Männern von dir erzählt und sie haben mein Problem nicht verstanden.

Ach Michael, ehrlich gesagt, juckst du mich im Alltag weniger als es dieser Brief vermuten lässt. Es gibt größere Probleme als dich. Es tat trotzdem gut, dir zu schreiben. Ich hoffe, du fühlst dich GESEHEN.

Ps. Meine Freun­d*in­nen und ich beobachten dich.

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12 Kommentare

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  • Michael hat Sie doch auf der Straße angesprochen, vielleicht hätten Sie im dann antworten können ohne Ihn in einer überregionalen Zeitung zu diffamieren.



    Ich verstehe das Problem, aber man muss auch anerkennen das er es wohl gut gemeint hat.



    Warum seine Hautfarbe erwähnt wird erschließt sich mir nicht, oder wäre es etwas anderes wenn er asiatisch aussieht?

  • Wer in einer Großstadt lebt dicht an dicht, wird wohl damit leben müssen dass andere auch durch die Fenster sehen können. Deswegen gibt es Vorhänge.



    Immerhin weiss die Autorin das jetzt - also keine Aufregung und zieh einfach deinen Vorhang vor.



    PS: Wie stellt sich die Autorin das eigentlich vor, NICHT in ein gegenüberliegendes Fenster rein zu sehen - immer die Augen zu wenn der Blick aus dem Fenster schweift??

  • Danke 🙏 Auch ich bin so angesprochen worden. Ohne Fähnchen. Mir fehlten die Worte. Ich bin ausgezogen.

  • Liebe Autorin, schonmal darüber nachgedacht, dass er es einfach nett gemeint hat? Nicht alle Männer sind 🐷.

  • "Es sind vor allem weiße Männer mit genug Geld. Die meisten von ihnen können umherlaufen und beobachten ohne angestarrt zu werden. Anonymität ist ein Privileg, genauso wie das Sehen ohne beobachtet zu werden."

    Mein Gott, natürlich musste der Griff in diese Klischeekiste immer sein.

    Ich lebe mein Leben lang in Mehrfamilienhäusern in größeren Städten. Weil ich schambehaftet bin, achte ich darauf, dass die Rollos zu sind, wenn ich leicht bekleidet oder nackt rumlaufe - und dass die Fenster zu sind, wenn ich über Sachen rede, von denen ich nicht will, dass die Nachbarn sie erfahren. Das gehört an solchen Orten eben dazu. Und ich bin ein alter weißer Mann.

    Mir wäre das, was Sie erlebt haben, deshalb zutiefst unangenehm, und ich kann Ihren Ärger verstehen. Aber was ich wirklich nicht haben kann, ist, dass wieder dieser Unsinn reingebracht werden muss. Auch Großstädte sind nur bedingt anonym. Wenn man z.B. schon einmal eine tratschende alte Dame oder einen Falschparker aufschreibenden alten Herren als Nachbarn hatte, ist mit Anonymität nicht viel. Und entgegen Ihrer Annahme haben diese mich auch nicht in Ruhe gelassen, obwohl ich weiß und männlich bin.

  • Boah, echt jetzt? Wenn ich in der Großstadt wohne, kann ich in andere Wohnungen schauen? Und andere können in meine Wohnung schauen? Wer hätte das gedacht ...



    Und dann muss ich die Vorhänge zumachen, wenn ich das nicht will? Warum hat mir das keiner gesagt?

    Okay, Michael ist cringe, zumindest das bleibt hängen. :)

  • Ps. Meine Freun­d*in­nen und ich beobachten dich....



    ----



    Gut & mMn. treffend gekontert Zora!

    Vor allen Dingen in dem Teil:



    Grüner Mittelschichts-Daddy, der vielleicht sogar Die TAZ liest ...

    Weiter so mMn, denn viele XY brauchen diese Rückmeldung häufiger!

    Btw. Was ich aber bezweifele ist, ...



    ... "dass die vielen, auch mir bekannten "Michaels" bei uns, diese subtile virtuelle "Backpfeife" überhaupt verstehen! :-(

    Obj: Asta vor langer Zeit. Nach langem Diskurs war abgestimmt: "Studenten sind auch Teil der Arbeiterklasse, des Proletariats!"



    Bierpause!



    Danach, der 1. Satz des Vorsitzenden:



    "Wir müssen den Arbeitern beibringen...." :-(



    Der Satz erstarb im Klirren der Flasche an der Wand des einzigen mit Facharbeiterbrief in dieser Runde! :-(



    Der Rest: Geschichte!

  • Vielleicht hat jemand mal die falschen Geschichten gelesen, die falschen Filme gesehen und geht nun über die voyeuristische oder romantische Fantasie hinaus. Ich weiß es aber auch nicht.



    D.h. könnte es sein, wenn er homosexuell veranlagt gewesen wäre, dass er das eben beim männlichen Vor-Bewohner und nicht bei der Aut:in getan hätte?



    Oder er lässt sich unruhig machen. Oder das ist eine eher verquere Art, anzunehmen, die Person wisse nicht, dass sie zu sehen ist. Vielleicht auch ein hergebrachtes, ihm noch beigebrachtes: Das macht mensch aber nicht, komplett nackt rumlaufen, wenn das andere sehen. Diese Auffassung, ob für Männer oder für Frauen, wäre jetzt nicht so selten, hierzulande, oder?



    Ich vermute bei allem Nichtwissen, dass direkte Ansprache von Michael, mit Beobachtung, Frage, Wunsch auch eine Option wäre. Ob jemand Bestimmtes taz liest, wäre auch in Öko-Ghettos nicht so wahrscheinlich, oder? Kurz dieser Hinweis, es soll ja eben nichts an übermäßigem Kontakt entstehen.



    Ansonsten: warum nicht ein "Big sister is watching you", "Guck woanders hin, der Himmel ist noch schöner" "Häng Dein Fähnchen sonstwohin" o.ä. ein, zwei Wochen lang zur Not?



    PS: Das _war arg daneben von dem.

  • Verstehe ich das richtig?: Die Autorin will, daß die Bewohner aller umliegenden Häuser die Vorhänge/Rollos schließen (und dann nicht mehr aus den Fenstern schauen können), damit sie bei ihrerseits geöffneten Vorhängen (damit sie rausschauen kann) nackt in ihrer Wohnung rumlaufen kann?

  • ... der gute Michael scheint ein formidabler Softie zu sein und leider gleichzeitig ein verklemmter Voyeur mit 50 Prozent "Frauenversteher"-Anteil. In Summe irgendwie "schmierig".

  • Ich habe den Artikel mit Interesse gelesen und brauche einen Rat. Bei mir gegenüber ist eine neue Bewohnerin eingezogen, ohne Vorhänge. Von meinem Küchenfenster aus kann ich ihr bis auf die Kloschüssel gucken. Ich (auch weiblich) finde das unangenehm und überlege die ganze Zeit, ob ich die Nachbarin informiere. Erstmal habe ich bei mir jetzt einen blickdichten Vorhang aufgehängt, den ich eigentlich nicht möchte. Sobald ich mein Küchenfenster öffne oder vor die Tür gehe, ist der Blick eh wieder frei. Gibt's Tipps?

  • OMfG fühl ich so hart 😂 danke, danke, danke für diesen süßen Artikel und tatsächlich kenne ich und auch meine weiblichen Bekannten das Problem derweil männliche Bekannte nicht nachvollziehen können, wo da überhaupt ein Problem ist. Aktuell sind die schmerbäuchigen (Gast ?) Arbeiter die sommers (halb-) nackt (?) auf ihrem Balkon stehen – gesegnet sei die hohe Balkonbrüstung 🙏 – und mir Schmutz rüberbrabbeln sobald ich die Fenster öffne, wieder verschwunden aber die nächste Saison kommt, wo das MorgenGRAUEN entsteht, sobald ich früh lüfte und die Vorhänge aufziehe…