piwik no script img

„Ichhabedie Extreme kennengelernt“

Die ungleiche Verteilung von Vermögen kennt Martyna Linartas aus ihrer Familie, inzwischen hat sie dazu promoviert. Hier spricht sie über Erben und Steuergerechtigkeit, über Wahnsinn, Neid und die AfD

„Ich spreche lieber von Rückverteilung, nicht von Umverteilung“, sagt Martyna Linartas

Von Anna Lehmann und Stefan Reinecke (Gespräch) und Miriam Klingl (Foto)

taz: Frau Linartas, Sie haben die Wirtschaftselite in Deutschland und Mexiko befragt und ein Buch über Ungleichheit geschrieben. Wissen Sie jetzt, wie die Mächtigen ticken?

Martyna Linartas: Die Wirtschaftselite ist keine homogene Gruppe. Die Mächtigen ticken unterschiedlich.

taz: Was eint sie?

Linartas: Niemand von ihnen will die Vermögenssteuer.

taz: Das war zu erwarten. Gab es auch Ergebnisse, die Sie überrascht haben?

Linartas: Ja, 80 Prozent der Akteure, mit denen ich gesprochen habe, glauben, dass die Ungleichheit von Einkommen und Vermögen zu groß ist und den Zusammenhalt der Gesellschaft gefährdet. Manche glauben, dass es die Demokratie aushöhlt, andere, dass es dem Leistungsprinzip widerspricht. Gegen die Vermögenssteuer sind alle, bei der Erbschaftssteuer ist das Bild aber anders. Ein Drittel der Befragten in Deutschland und Mexiko ist für eine progressive höhere Erbschaftssteuer.

taz: Reiche scheuen oft die Öffentlichkeit. Warum haben die überhaupt mit Ihnen geredet?

Linartas: Gute Frage. Ich hatte Glück. Und Privilegien. Ich habe 2018 als Studentische Hilfskraft im Bundestag für Annalena Baerbock gearbeitet. Joe Kae­ser, damals CEO bei Siemens, hatte einen Termin bei den Grünen im Bundestag. Auch ein DAX-Chef darf nicht alleine im Bundestag rumlaufen. Ich habe ihn abgeholt und hatte eine Minute, um ihn auf dem Weg zum Büro zu überzeugen. Kaeser hatte in einem Interview die gesellschaftliche Spaltung kritisiert. Ich habe gesagt, dass ich dazu promoviere und Stimmen aus der Wirtschaftselite in die Wissenschaft tragen will. Er hat mir ein Interview zugesagt. Das war der Türöffner. Als Mitarbeiterin im Bundestag und nach dem Interview mit Kaeser, damals einer der wichtigsten Wirtschaftsbosse in Deutschland, ging es leicht.

taz: Und warum haben die Mächtigen Mexikos mit Ihnen geredet?

Linartas: Das war für mich noch einfacher. Mein Onkel war stellvertretender Finanzminister von Mexiko gewesen. Er hat mir Kontakte zur Wirtschaftselite verschafft. Ich habe zu Beginn meiner Promotionszeit als Doktorandin viele Anfragen geschrieben. Und keine einzige Antwort bekommen. Erst als mein Onkel mir half, hat es geklappt. Dann gab es wie in Deutschland einen Schneeballeffekt. Ich habe alle Inter­view­partner immer um weitere zwei, drei Kontakte gebeten. Hat wunderbar funktioniert, war aber nicht mein Verdienst.

taz: Wie kommen Sie zu einem mächtigen Onkel in Mexiko?

Linartas: Meine Familie kommt aus Polen. Die Schwester meines Opas war in einer polnischen Musikgruppe, die nach dem Zweiten Weltkrieg international auftreten durfte. Meine Großtante hat den Enkel des ersten demokratisch gewählten Präsidenten Mexikos geheiratet und ist vor mehr als 60 Jahren nach Mexiko ausgewandert. Meine Familie ist ein Grund, warum mich Ungleichheit interessiert.

taz: Inwiefern?

Linartas: Ich habe die Extreme kennengelernt. Meine Eltern sind 1992 von Polen nach Deutschland ausgewandert. Meine Mutter war Physikerin, mein Vater studierte Philosophie, sie mussten aber in Deutschland bei null anfangen. Wir waren arm. Das erste Jahr haben wir im Obdachlosenheim gelebt. Ich erinnere mich nicht an die Zeit im Obdachlosenheim, aber daran, dass wir immer extrem gespart haben. Meine Großtante hat uns dann nach Mexiko eingeladen. Es war eine andere Welt. Ein riesiges Anwesen mit Salon, Kamin, meterhohen Räumen, Kunst an den Wänden. Ich habe mich als Achtjährige gefühlt wie eine Prinzessin in ihrem Schloss. Und ich habe die Armut auf den Straßen gesehen und mich als Kind und Jugendliche gefragt: Warum sind die einen so reich, die anderen so arm? Deshalb habe ich Politikwissenschaften studiert. Ich wollte Ungleichheit verstehen.

taz: Wissen Sie jetzt, was Reichtum ist?

Linartas: Schwierig zu sagen. Armut ist in Deutschland definiert. Wer weniger als 60 Prozent des Medianeinkommens hat, ist arm.

taz: Das Medianeinkommen teilt die Einkommen in zwei gleich große Hälften und liegt in der Mitte davon. Wer als Single weniger als 1.380 Euro netto im Monat zur Verfügung hat, gilt als arm.

Linartas: Genau. Es gibt also eine eindeutige Definition von Armut, aber keine von Reichtum. Deshalb ist es schwierig, Reichtum zu untersuchen, geschweige denn zu problematisieren. Außerdem sind die Zahlen über Reichtum in Deutschland Schätzungen. Seit die Vermögenssteuer 1997 ausgesetzt wurde, fehlen Daten. Manche Wis­sen­schaft­le­r:in­nen wünschen sich eine Vermögenssteuer von null Prozent, einfach damit wir endlich brauchbare Daten haben. Wir wissen viel über Armut und wenig über Reichtum. Die Überreichen sind im Dunkeln.

taz: Was heißt denn überreich?

Linartas: Das ist das Pendant zu superreich. Ich verwende dieses Wort nicht, weil exzessiver Reichtum nicht super ist. Superreiche assoziiert man mit Superhelden. Das Wort Überreiche erfasst besser die problematischen Seiten der extremen Ungleichheit. Papst Pius XI. hat es schon 1931 verwendet.

taz: Und ab wann ist man überreich?

Linartas: Die Grenze zu Überreichtum ist nicht klar gezogen. Manche setzten sie bei einem Vermögen von 30 Millionen an, andere bei 50 oder 100 Millionen Euro. Es gibt in Deutschland knapp 4.000 Personen, die über mehr als 100 Millionen verfügen. Die reichsten Familien in Deutschland sind Boehringer und von Baumbach, die Besitzer des Pharma-Konzerns Boehringer Ingelheim. Ihre Namen sind weniger bekannt als die anderer Überreicher, weil sie erfolgreich dagegen geklagt haben, in der Reichenliste des Manager Magazins erwähnt zu werden.

taz: Warum müssen wir wissen, wie Deutschlands reichste Familie heißt?

Linartas: Nur wenn wir ihren Reichtum kennen, wissen wir, ob sie angemessen Steuern zahlen. Steuern sind ein zentrales Instrument der Demokratie. Ohne Steuern gibt es keine gute Infrastruktur, keine gute Bildung, kein vernünftiges Gesundheitssystem. Das aber sind Voraussetzungen für eine starke Wirtschaft. Die größten Nutz­nie­ße­r:in­nen des Systems sind nicht Menschen in Armut, es sind die Reichsten unseres Landes.

taz: Die Steuerbelastung für Unternehmen ist in Deutschland höher als im OECD-Durchschnitt. Unternehmen und Reiche zahlen doch Steuern.

Linartas: Tun sie, aber immer weniger. Überreiche haben nicht nur Geld auf dem Bankkonto, ihr Vermögen bilden vor allem die Betriebe. Diese Betriebsvermögen sind nur möglich durch einen starken Steuerstaat und viele Menschen in den Betrieben. Gigantische Vermögen sind also nie das Ergebnis einer Individualleistung, es sind gesamtgesellschaftliche Ergebnisse. Die meisten Millionäre und Milliardäre gibt es im Globalen Norden in Staaten, die hohe Steuern erheben – und in In­fra­struk­tur, Bildung und Gesundheitssysteme investieren. Das Problem ist: Eigentlich sollen bei Steuern stärkere Schultern mehr stemmen. Das ist in Vergessenheit geraten.

taz: Unternehmen zahlen Körperschaftssteuer und Ertragssteuer. So viel, dass Schwarz-Rot die Körperschaftssteuer jetzt senkt.

Linartas: Die Steuerquote für Überreiche wurde in den letzten 30 Jahren mehr als halbiert, weil die Steuern auf Vermögen gesenkt wurden. Sprich, die Steuern auf ihr sogenanntes passives Einkommen gingen runter. Das Netzwerk Steuergerechtigkeit hat gezeigt, dass Susanne Klatten, die reichste Frau Deutschlands, früher eine Steuerquote von 60 Prozent hatte. Jetzt sind es weniger als 30 Prozent. Sie zahlt gemessen an ihrem Einkommen prozentual weniger als eine Mittelschichtsfamilie. Wir hatten mal ein progressives Steuersystem. Dann kam der Neoliberalismus, der suggerierte, man müsse Reiche und große Konzerne immer weniger besteuern.

taz: Viele Unternehmen klagen über zu hohe Steuern. Soll man das ignorieren?

Linartas: Ja, das sollten wir. Senkt man die Steuern für Reiche und Großkonzerne, wächst nicht die Wirtschaft, sondern die Ungleichheit. Die Unternehmen investieren das Geld ja nicht automatisch, das sie nicht mehr als Steuer abführen. Wie neuere Studien zeigen, sind vielmehr Dividendenausschüttungen und die Sparquoten von großen Familienunternehmen gestiegen. Die Nachfrage schwächelt, die Spaltung zwischen Arm und Reich wächst. Wir senken seit Jahrzehnten Steuern für Vermögende. Die Trickle-down-Idee, also dass Steuersenkungen an der Spitze nicht nur den Reichen und Konzernen, sondern der gesamten Bevölkerung nutzt, ist gescheitert. Wir aber machen immer wieder das Gleiche und erwarten andere Ergebnisse. So hat Albert Einstein Wahnsinn definiert.

taz: „Überreich“ betont das Negative. Sind Überreiche unmoralisch?

Linartas: Die Frage der Moral ist eine für Philosophen. Als Politikwissenschaftlerin betone ich, dass zu viel Ungleichheit demokratiegefährdend ist.

taz: In Deutschland gibt es eine extreme Ungleichheit bei Vermögen, aber gleichzeitig eine im Vergleich zu anderen Ländern stabile Demokratie. Ist es da nicht vorschnell zu behaupten, dass Vermögensungleichheit die Demokratie ruiniert?

Linartas: Die Umfrageergebnisse der AfD sind leider real.

taz: Die Leute wählen AfD nicht wegen Vermögensungleichheit, sondern wegen Migration.

Martyna Linartas

Die Person

Martyna Linartas, geboren 1990, zog als Kleinkind mit ihren Eltern von Polen nach Deutschland. Sie studierte Politikwissenschaften in Berlin und machte nebenbei eine Ausbildung zur Pressereferentin in der Bundesgeschäftsstelle der Grünen. Von 2018 bis 2021 arbeitete sie im Bundestagsbüro von Annalena Baerbock. 2022 gründete sie die Wissensplattform ungleichheit.info. 2023 promovierte sie.

Das Buch

Martyna Linartas hat für ihre Dissertation mit 38 CEOs, Aufsichtsratsvorsitzenden und Managern gesprochen. Das Kriterium war nicht Vermögen, sondern ob sie zur Wirtschaftselite gehören. Ihr Buch „Unverdiente Ungleichheit – Wie der Weg aus der Erbengesellschaft gelingen kann“ (Rowohlt, 320 Seiten, 24 Euro) ist im April 2025 erschienen.

Linartas: Ja und nein. Es gibt internationale Studien, die zeigen, dass relative Abstiegsängste mit Furcht vor Migration zusammenhängen. Also: Mir geht es schlecht, aber für Geflüchtete ist Geld da. Untersuchungen zeigen, dass Sparpolitik, der Verlust von Vertrauen in etablierte Parteien, Abstiegs­ängste und das Erstarken von rechtsextremistischen Parteien zusammenhängen. Vermögensungleichheit ist natürlich nicht der einzige Grund für den Erfolg der AfD, aber es ist ein wichtiger Faktor. Außerdem beeinflussen Reiche maßgeblich politische Entscheidungen. Das ist auch gefährlich für die Demokratie.

taz: In den USA sind mehr als die Hälfte der Abgeordneten im Kongress Millionäre. Geld ist im Wahlkampf wichtig. Bei uns ist das nicht so extrem. Kann man in Deutschland wirklich von einer Herrschaft des Geldes sprechen?

Linartas: Wir sind eine Erbengesellschaft. Reichtum wird nicht in erster Linie erarbeitet, sondern in steigendem Maße vererbt. In einer Demokratie sollte es auf den Beitrag zur Gesellschaft ankommen – in der Erbengesellschaft gilt die Spermalotterie. Entscheidend ist nicht, was die Einzelnen leisten, sondern in welcher Familie sie groß werden. Genauer, welchen Vater man hat. Denn meist kommen große Erbschaften und Schenkungen von dieser Seite. Das ist ein feudales, monarchisches Prinzip. Es höhlt die Demokratie aus. Unsere Gesellschaft ähnelt wieder dem Kaiserreich.

taz: Sie vergleichen ernsthaft die Bundesrepublik mit dem Kaiserreich?

Linartas: Ja, denn in dieser Hinsicht sind wir genau da, wo wir vor über 100 Jahren schon mal waren. Die Erbschaftssteuer ist ein entscheidendes Mittel, um die Demokratie zu ermöglichen. Es war kein Zufall, dass der Reichsfinanzminister 1919 als Allererstes die Erbschaftssteuer erhöhte. Es sollte in der Demokratie nicht mehr entscheidend sein, in welche Familie man geboren wird. Jetzt sind wir wieder in einer Situation, in der die Lobby des großen Geldes immer mächtiger wird. Die Finanzlobby beeinflusst effektiv Steuerpolitik. Die Stiftung Familienunternehmen, die eigentlich Stiftung der deutschen Dynastien heißen müsste, hat erfolgreich die letzten Steuerreformen mitgestaltet. Die Privilegierung von Unternehmenserben geht auf ihren Einfluss zurück. Oder wie es der Leiter der Steuerabteilung der Stiftung nannte: Es war eine „Sternstunde der Politikberatung“.

taz: Die Reichen werden immer mächtiger? Öffnen solche Sätze nicht die Tür zu Verschwörungsideologien, in denen Eliten im Geheimen alles manipulieren?

Linartas: Nicht, wenn man präzise mit Fakten argumentiert. Nötig ist dafür wissenschaftliche Elitenforschung. Die ist in vielen Ländern, etwa Mexiko und den USA, etabliert, in Deutschland nicht. Der Soziologe Michael Hartmann hatte den einzigen Lehrstuhl zu der Thematik, an der Uni Darmstadt. Seit er emeritiert ist, gibt es hierzulande keinen Lehrstuhl mehr zur Elitenforschung.

taz: Glauben Sie, dass Reiche in Deutschland Gesetze kaufen?

Linartas: Die Familie von Baumbach aus Ingelheim schreibt natürlich keine Gesetze. Es läuft anders. Viele Politiker berücksichtigen die Interessen der Reichen, die via Lobbygruppen über gute Drähte in die Politik verfügen.

taz: Manche halten die Debatte über Reichtum für neidgetrieben. Jene, die nichts haben, beneiden die, die viel haben und fordern mehr Umverteilung.

Linartas: Das ist ein rhetorischer Kniff, um Menschen, die Steuergerechtigkeit fordern, in eine charakterlich verwerfliche Ecke zu stellen. Ich selbst bin auch privilegiert. Ich werde erben und habe auch ein gutes Einkommen. Ich beneide Überreiche nicht. Wenn man auf der Ebene von Moral reden will – okay, dann lasst uns gerne über Gier sprechen.

taz: Sie haben für Ihr Buch 38 Akteure der Wirtschaftselite interviewt. Wie leben die – mit Helikopterlandeplatz und Gerhard Richter an der Wand oder unauffällig?

Die Trickle-down-Idee ist gescheitert. Wir machen immer wieder das Gleiche und erwarten andere Ergebnisse. So hat Albert Einstein Wahnsinn definiert

Linartas: Die Gespräche in Mexiko fanden in beeindruckenden Büros, auf Golfplätzen, in feinen Restaurants oder in prunkvollen Villen statt. Da hängt dann auch mal ein Rafael Coronel. Coronel ist der mexikanische Gerhard Richter. Eine Welt der Superlative. Für Deutschland kann ich es nicht sagen, die allermeisten Interviews führte ich während Corona online.

taz: In Deutschland werden pro Jahr bis zu 400 Milliarden Euro vererbt. Das Steueraufkommen beträgt aber nur rund 10 Milliarden. Warum ist es in der Bundesrepublik so schwer, Erbschaften höher zu besteuern?

Linartas: Die Erbschaftssteuer hat ein schlechtes Image, etwa weil sich der Staat beim Tod von Verwandten in Angelegenheiten der Familie einmische. Die Erbschaftssteuer ist deshalb für viele negativ konnotiert. Der Familiensinn ist in Deutschland sehr ausgeprägt.

taz: Mit welcher Erzählung könnte man die Erbschaftssteuer populär machen?

Linartas: Mit dem Blick aufs Ganze. Menschen, die für ihr Einkommen arbeiten müssen, zahlen in Deutschland hohe Steuern. Jemand, der erbt und damit ohne eigene Arbeit zu Vermögen kommt, zahlt hingegen niedrige bis keine Steuern. Es ist leicht zu verstehen, dass das nicht gerecht ist.

taz: Wenn die Steuern für Reiche steigen, so das Gegenargument, dann wandern die Reichen aus und nehmen Unternehmen und Jobs mit. Ist da was dran?

Linartas: Man kann niemand zwingen, in Deutschland zu bleiben. Aber diese Gefahr wird übertrieben, damit sich nichts ändert. Auch Milliardäre sind Menschen. Sie haben hier ihre Familie, ihre Netzwerke. Sie profitieren vom Rechtsstaat und der Infrastruktur. Ich glaube nicht, dass sie wegen ein paar Prozent mehr Steuern alles ins Ausland verlagern. Und es existiert seit 1972 in Deutschland eine starke Wegzugsteuer. Wenn Susanne Klatten, die reichste Frau Deutschlands, von jetzt auf gleich Deutschland verlassen möchte, müsste sie auf einen Schlag mehr als 6,5 Milliarden Euro auf den Tisch legen. Die Wirtschaftsministerin …

taz: … Katherina Reiche …

Linartas: … ein witziger Name in diesem Zusammenhang, hat der Stiftung Familienunternehmen deshalb empfohlen, gegen die Wegzugsteuer zu lobbyieren. Die Ministerin gibt Lobbyisten Tipps, wie sie ihre Arbeit machen sollten.

taz: Die ärmere Hälfte der Gesellschaft erbt gar nichts, die oberen 10 Prozent erben den Löwenanteil. Der damalige Ostbeauftragte Carsten Schneider (SPD) hat mal vorgeschlagen, dass alle jungen Erwachsenen 20.000 Euro bekommen sollen, finanziert aus der Erbschaftssteuer. Was halten Sie von der Idee eines Grunderbes?

Linartas: Die Idee ist viel älter. Sie stammt aus der französischen Revolution. Der Gedanke ist richtig. Ungleichheit würde ein Grunderbe merklich verringern, wenn es mindestens 20.000 Euro betragen würde. Manche Öko­no­m:in­nen sprechen sogar von 190.000 Euro.

Foto: Miriam Klingl

taz: Welches Instrument ist besser für Umverteilung geeignet – die Erbschaftssteuer oder die Vermögenssteuer?

Linartas: Ich spreche lieber von Rückverteilung, nicht von Umverteilung. Es gibt da kein Entweder-oder. Steuergerechtigkeit bedeutet, die Erbschaftssteuer zu reformieren, die Vermögenssteuer wieder einzusetzen und die Mehrwertsteuer, die Ärmere überproportional belastet, zu senken. Gerade im progressiven Lager muss all das zusammengedacht werden.

taz: Hoffen Sie da auf die SPD?

Linartas: Auf die SPD, die Steuern für Unternehmen senkt und von mafiösen Strukturen im Bürgergeld spricht, aber sich kaum darum kümmert, hinterzogenes Geld aus Cum-Ex-Geschäften zurückzuholen? Aktuell: nein. Und auch nicht auf Friedrich Merz, der mit einem geschätzten Vermögen von 12 Millionen Euro behauptet, zur oberen Mittelschicht zu gehören.

taz: Und welche Akteure können dann Druck entfalten?

Linartas: Vor zehn Jahren hat kaum jemand über Ungleichheit gesprochen. Mittlerweile gibt es viele renommierte Wis­senschaft­ler:in­nen, die zu Ungleichheit forschen und auch politische Debatten anregen. Der Druck kommt von der internationalen Ebene und in Deutschland vor allem aus der Zivilgesellschaft.

taz: Brauchen wir eine Revolution?

Linartas: Ob Reform oder Revolution – darüber stritten sich schon vor über einhundert Jahren Rosa Luxemburg und Eduard Bernstein. Auf jeden Fall muss der Wahnsinn aufhören. Wir brauchen etwas Neues.

Gemeinsam für freie Presse

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Alle Artikel stellen wir frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade in diesen Zeiten müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass kritischer, unabhängiger Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen