Ungewollt schwanger: Im Aufwachraum
Unsere Autorin entscheidet sich für eine Abtreibung. Was ein einfacher Eingriff sein könnte, ist ein politisches und gesellschaftliches Minenfeld.
A uf dem Weg zur Absaugung des Embryos, der in mir heranwächst, höre ich „Scenes From an Italian Restaurant“ von Billy Joel. Mit der Leichtigkeit des Songs versuche ich gegen das, was in mir vorgeht, anzukämpfen. Es ist ein erster sonniger Frühlingstag, lächelnde und über das Wetter erleichtert wirkende Gesichter ziehen an meinem Busfenster vorbei. Die Lichtreflexionen an den Gebäuden sind so hell, dass sie zusammen mit Billy Joel meine Sinne betäuben. Die dunkle Schwere, die ich in mir spüre, ist trotzdem stärker als alles andere. Ich fühle mich wie ein wandelnder Widerspruch, wie eine Gleichzeitigkeit von Leben und Sterben.
Ich bin in der achten Woche schwanger und werde es schon in ungefähr zwei Stunden nicht mehr sein. Die letzten Tage sind wie in einem Nebel vergangen. Ich war nicht darauf vorbereitet, schwanger zu sein. Und der Druck, der plötzlich auf mir lastete, hat mich an vielem zweifeln lassen: an den feministischen Errungenschaften in unserer Gesellschaft, am Gesundheitssystem, an meiner eigenen Identität.
Bevor das alles passierte, hielt ich mich für weitgehend gleichberechtigt. Priorität in meinem Leben hatten meine Ausbildung und mein Beruf. Nach meinem Erststudium und ein paar Jahren Berufstätigkeit hatte ich Schwierigkeiten, mich finanziell über Wasser zu halten. Also habe ich mich vor Kurzem, mit Dreißig, noch mal für eine berufliche Umorientierung entschieden und studiere jetzt im Zweitstudium Medizin.
Das war eine Überwindung, weil man sich als ältere Studentin oft fehl am Platz fühlt und rechtfertigen muss. Aber vor allem war es finanziell gewagt: Ich habe einen Studienkredit aufgenommen und trotz Nebenjob muss ich sehr aufs Geld achten. Familienplanung hatte da bisher keinen Platz. Hinzu kommt, dass ich nie in einer langen Beziehung war. Also ließ ich es mir offen: Wenn es sich ergeben würde, eine Familie zu gründen, fände ich es schön, wenn nicht, dann hat es wohl nicht sein sollen.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Der Embryo wurde von einem Mann gezeugt, mit dem ich nur ein kurzes Verhältnis hatte. Er hat nach wenigen Treffen den Kontakt zu mir abgebrochen mit der Begründung, mein Verhalten würde ihn an seine Exfreundin erinnern und triggern. Es ist also keine Liebesgeschichte. Es ist eine, die ich bereue.
Wenige Wochen nach meiner Affäre bleibt meine Periode aus und ich spüre, dass etwas anders ist als sonst. Ich ignoriere es, solange es geht. Ich wohne gerade für vier Wochen bei meinen Eltern, weil ich für mein Studium ein unbezahltes Praktikum in meiner Heimatstadt mache und mir keine eigene Unterkunft leisten kann. Ich schiebe meine Abgeschlagenheit auf die neuen Eindrücke und die langen Arbeitszeiten. Aber irgendwann kommt Übelkeit dazu. Ich kann es nicht länger leugnen.
Als ich den Schwangerschaftstest mache, sitze ich auf dem Fußboden des Badezimmers, in dem ich mir als Kind die Zähne geputzt habe. Ich versuche mich in Entspannungstechniken, aber der Test lässt mir keine Zeit: Er zeigt sofort ein positives Ergebnis an. Sechste bis siebte Schwangerschaftswoche. Auf einer Website gebe ich den Zeitpunkt meiner letzten Periode ein und neben dem ungefähren Zeitpunkt der Empfängnis wird mir plötzlich, ohne dass ich es will, auch ein Geburtstermin angezeigt.
Ich bekomme riesengroße Angst. Angst davor, es jemandem sagen zu müssen. Angst davor, verurteilt zu werden, weil ich in keiner festen Beziehung bin. Angst davor, eine Entscheidung zu treffen, die ich bereuen könnte. Und Angst, weil ich nicht weiß, ob ich dem Mann, der den Embryo gezeugt hat, davon erzählen soll. Er hat gesagt, dass er keine Kinder will, weil er ungebunden leben möchte. Ich befürchte deshalb, dass er die Vaterschaft bestreiten und mir unterstellen wird, dass ich zeitgleich noch mit anderen Männern geschlafen hätte.
Mit den Konsequenzen allein
Es scheint verrückt. Ich bin in einer Kultur aufgewachsen, die die sexuelle Freiheit von Frauen zelebriert: Musikvideos mit sexy Tänzerinnen, Filme, in denen eine hübsche Frau verführt. Ich war in Berliner Klubs und auf sexpositiven Partys. Aber jetzt wirkt das alles wie die hämische Fratze des Patriarchats auf mich. Denn Sex ist eben nicht nur ein spaßiges Spiel, Sex ist auch ein Risiko.
Meine Wut richtet sich aber auch gegen mich selbst. Weil ich die „Rausziehmethode“ mitgemacht habe, obwohl ich wusste, dass sie nicht sicher ist. Wie etwa jede zehnte Frau im gebärfähigen Alter leide ich am PCO-Syndrom, einer Hormonstörung, die es erschweren kann, schwanger zu werden. Also war ich leichtsinnig genug, zu glauben, dass schon nichts passieren würde. Ja: ziemlich dumm. Aber für diese Selbsterkenntnis ist es zu spät. Ich war unvorsichtig und muss jetzt die Konsequenzen tragen. Und zwar allein.
Denn egal, ob ich mit dem Mann darüber spreche oder nicht: Der Embryo ist in meinem Körper. Ich bin es, die zum Arzt gehen muss. Ich bin es, die eine Abtreibung organisieren muss – mit allen Folgen. Denn sobald ich mich nach dem ersten Schock wieder gesammelt habe, ist mir klar, dass ich abtreiben will. Vielleicht will ich irgendwann ein Kind, aber sicher nicht von diesem Mann und nicht in meiner jetzigen Lebenssituation.
Trotzdem fühlt sich ein Teil von mir moralisch verpflichtet, den Mann zu informieren. Nicht, weil ich ihn in die Entscheidung miteinbeziehen will, ob ich abtreibe oder nicht. Aber ich habe das Gefühl, dass er grundsätzlich über die Situation informiert werden sollte, weil er ja beteiligt war. Also rufe ich ihn an. Ich ziehe mich dafür in mein ehemaliges Kinderzimmer zurück, laufe eine gefühlte Ewigkeit im Raum auf und ab, bis ich mich endlich traue.
Mit jedem Tuten wächst meine Anspannung – aber er geht nicht ran. Ich lege auf und merke, wie eine Last von mir abfällt. Dann verfalle ich in Schockstarre. Stundenlang sitze ich auf dem Bett und fixiere die Wand, in meinem Kopf ein einziges Rauschen. Später versucht der Mann, mich zurückzurufen, aber ich bewege mich nicht vom Fleck. Heute bin ich froh darüber, dass unsere Anrufe ins Leere gelaufen sind. Die Unterhaltung hätte nichts geändert.
Mit einer ungewollten Schwangerschaft bewegt man sich auf geächtetem Terrain. Erst voriges Jahr bezeichnete Friedrich Merz es als skandalös, dass Olaf Scholz als Bundeskanzler einen Gesetzesvorschlag unterstützte, der den Schwangerschaftsabbruch entkriminalisieren wollte. Dabei ist die Debatte ein uralter Hut, sie dreht sich seit Jahrzehnten im Kreis.
Historisch hatte erst die Kirche Einfluss auf den Fötus, später auch der Staat. Das bedeutet, dass immer Männer über den weiblichen Körper verfügt haben. Wie unvereinbar feminine Sexualität und Selbstbestimmung von den – oft männlichen –Abtreibungsgegnern dargestellt werden, beklagte schon die amerikanische Kulturjournalistin Ellen Willis 1979 in ihrem Essay „Abortion – Is A Woman a Person?“. Damals argumentierten die Abtreibungsgegner damit, Frauen müssten eben auf Sex verzichten, wenn sie selbstbestimmt leben wollten.
Das vergleicht Willis treffend mit dem berühmten Zitat der französischen Königin Marie-Antoinette, die über ihr hungerleidendes Volk gesagt haben soll: „Wenn sie kein Brot haben, dann sollen sie doch Kuchen essen.“ Männern geht eine Schwangerschaftserfahrung genauso ab wie damals den Aristokraten die Armut. Dennoch glauben viele, es besser zu wissen. Die falsche Überheblichkeit vieler Abtreibungsfeinde ist ein zentrales Problem: Sie schafft eine moralische Zweiklassengesellschaft zwischen Frauen und Männern. Heute, 46 Jahre, eine weitere Feminismuswelle und eine Me-too-Bewegung später, sind wir immer noch am gleichen Punkt.
Eigene Menschlichkeit verteidigen
Dabei ist das Thema Abtreibung ein Minenfeld, in dem man sich kaum aufzuhalten traut. Viele Begriffe sind politisch aufgeladen. Das fängt schon bei der Bezeichnung dessen an, was abgetrieben wird. Laut Vertreter*innen der sogenannten Pro-Life-Bewegung, die in den 1970er Jahren in den USA entstand, handelt es sich bei dem entstehenden Schwangerschaftsgewebe schon um ein „ungeborenes Kind“. Diese Übertreibung ist Framing und soll Gefühle wecken.
Ein Teil der gegnerischen Aktivist*innen, die für das Recht auf Schwangerschaftsabbrüche kämpfen, spricht dagegen von einem „Zellhaufen“ statt von einem Embryo, so als wollten sie auf keinen Fall Gefühle aufkommen lassen. Der erhitzte Umgang mit solchen Reizwörtern erschwert den Blick auf das Wesentliche. Für mich ist es kein Widerspruch, zu akzeptieren, dass es ein Embryo war, den ich abgetrieben habe, und gleichzeitig für die reproduktiven Selbstbestimmungsrechte von Frauen und die Legalisierung von Abtreibung zu sein.
Es genügt ein Blick in die USA, wo teilweise rigorose Abtreibungsgesetze gelten und die Trump-Regierung weiter gegen Schwangerschaftsabbrüche vorgeht. Im Februar wurde etwa eine New Yorker Ärztin verklagt, weil sie Patientinnen in Texas und Louisiana Abtreibungsmedikamente verschrieben und zugeschickt haben soll. Texas verhängte eine Geldstrafe von 100.000 Dollar gegen die Ärztin – und Louisiana forderte ihre Auslieferung, die von der New Yorker Gouverneurin jedoch blockiert wurde.
2024 landete die Schriftstellerin Jessica Valenti mit ihrem Buch „Abortion“ einen Bestseller. Es ist eine wütende Kampfansage an die rückschrittliche Abtreibungspolitik in den USA. Das Buch handelt von den Geschichten vieler betroffener Frauen. Am Anfang schreibt Valenti, dass sie es demütigend findet, mit ihren Schilderungen die Menschlichkeit verteidigen zu müssen.
Und um nicht weniger geht es. Denn allein durch Sex mit einem Mann kann eine Frau ihre ganze Lebensgrundlage verlieren, während der Mann unbescholten weiterlebt – das ist in vielen Ländern Realität. Zudem werden Frauen oft moralisch verurteilt, ohne den Kontext mitzudenken. Doch der Kontext spielt eine riesige Rolle, erst recht in einer Situation, die auf so komplizierte Weise menschliche Grundrechte mit der traditionellen Ungleichverteilung von Macht verwebt.
Ich denke an meinen speziellen Kontext: ein Mann, der mir gleich beim ersten Treffen gesagt hat, dass ich mich seinem ausgeprägten Sexdrive anpassen müsse, wenn ich länger für ihn interessant bleiben wolle. Ein Zeugungsakt, der deshalb zwar nicht gegen meinen Willen, aber auch nicht mit meiner Lust vonstatten gegangen ist. Klar: Ich hätte das alles nicht mitmachen müssen. Ich hätte auch Nein sagen können. Aber Nein sagen zu einem Mann entspricht nicht dem, was ich über meine ganze Kindheit und Jugend gelernt habe und immer noch in mir trage.
Besonders prägend war ein Ereignis mit meinem ersten Freund. Ich war 16, er 20. Eines Morgens in seinem WG-Zimmer weckte er mich mit Annäherungsversuchen. Ich war noch im Halbschlaf und reagierte nicht richtig, also fluchte er leise und ging ins Bad. Ich hörte, wie er sich dort selbst befriedigte. Als er rauskam, war er seltsam distanziert und frustriert. Seitdem hat sich mir eingeprägt, dass Sex vor allem heißt: verfügbar sein. Denn sonst verärgere ich jemanden. Auch in den nächsten Jahren verlangten die Männer oft Sex, wenn ich einfach nur neben jemandem einschlafen oder aufwachen wollte.
Wenn ich andeutete, dass ich nicht mehr will, wurde mir oft halbironisch entgegnet, dass man wegen möglicher Penisschmerzen nie mittendrin aufhören dürfe. Den Kommentar fand ich nie witzig, wohl deshalb, weil er eben doch immer ernst gemeint war. Es wurde zu einem Motiv, das sich durch mein Leben zog: Manchmal hatte ich Sex, weil ich es wollte. Aber meistens hatte ich Sex, weil jemand anderes es wollte. Immerhin: Durch die ungewollte Schwangerschaft ist mir bewusst geworden, wie falsch das ist.
Für den Ausnahmezustand, in dem ich mich befinde, gibt es einen medizinischen Fachbegriff: „Konfliktgravidität“ oder auch „Konfliktschwangerschaft“ genannt. Ich frage mich, welcher Konflikt damit gemeint ist. Der zwischen mir und dem Vater oder der zwischen mir und dem Embryo? Der zwischen mir und meinem leeren Geldbeutel oder der zwischen mir und meiner Zukunft? Letztlich ist die Antwort egal. Mit allen Konflikten bin ich erst mal eins: alleine.
In den Tagen nach dem positiven Test traue ich mich nicht, mit irgendjemandem darüber zu reden. Weder mit meiner besten Freundin, noch mit meinen Eltern. Obwohl ich mit denen sonst fast jede Entscheidung in meinem Leben bespreche. Ich schaffe es nicht, weil ich mir wegen der Umstände, unter denen die Schwangerschaft zustande gekommen ist, so naiv vorkomme. Deshalb denke ich anfangs, es sei das Beste, die Abtreibung heimlich zu machen.
Ich versuche angestrengt, mir nichts anmerken zu lassen. Auf der Arbeit schleiche ich vor die Tür, um einen Termin für die Schwangerschaftskonfliktberatung zu vereinbaren. Die ist gesetzlich vorgeschrieben, wenn man einen Abbruch vornehmen lassen will. Während ich bei der Beratungsstelle anrufe, beginne ich zu zittern. Es ist das erste Mal, dass ich die Worte laut ausspreche: „Ich bin schwanger.“ Als ich auflege, sinke ich auf dem Treppenabsatz zusammen. Ich beginne, im Internet nach Kliniken und Praxen zu suchen. In meiner mittelgroßen bayerischen Heimatstadt scheint aber niemand Schwangerschaftsabbrüche durchzuführen.
Ich fühle mich hilflos. Erst von der Sozialpädagogin, die mit mir das Beratungsgespräch macht, erfahre ich, dass die Kliniken der Stadt diese Art von Operation nicht anbieten. Sie erzählt mir, dass es nur zwei niedergelassene Frauenärztinnen gebe, die jeden Donnerstag wöchentlich abwechselnd für die ganze Stadt und den umliegenden Landkreis Abtreibungen durchführen würden.
Alleine in der Stadt leben knapp 69.000 Frauen. Erst später erfahre ich, dass die Bundesärztekammer eine Liste mit Ärzt*innen führt, die Abtreibungen anbieten. Die Aufnahme in diese Liste ist allerdings freiwillig. Wenn man meine Heimatstadt eingibt, findet sich dort nur gähnende Leere.
Die Unterversorgung hat einen Grund: Nach § 218 des Strafgesetzbuchs ist der Schwangerschaftsabbruch in Deutschland grundsätzlich rechtswidrig, wird aber unter bestimmten Voraussetzungen nicht bestraft. Trotzdem kann es für Ärzt*innen rufschädigend sein, Abtreibungen durchzuführen. Sie riskieren Anfeindungen bis hin zu Morddrohungen.
Selbsternannte „Lebensschützer“ belagern Praxen, Kliniken und Beratungsstellen, um Schwangere daran zu hindern, eine Abtreibung vorzunehmen. Immerhin: Seit 2024 gibt es in Deutschland ein Gesetz, das diese „Gehsteigbelästigung“ in einem Radius von hundert Metern zu den Einrichtungen verbietet. Zu den Voraussetzungen für die Straffreiheit einer Abtreibung gehört neben der Schwangerschaftskonfliktberatung eine dreitägige Bedenkzeit.
Das ist entwürdigend: Als wäre eine erwachsene Frau nicht auch ohne beides in der Lage, eine vernünftige Entscheidung zu treffen. Insgesamt geht es mit dieser widersprüchlichen Gesetzeslage ungewollt Schwangeren hier dennoch besser als in vielen anderen Ländern.
Kein ärztliches Vorgespräch
Die Sozialpädagogin ist zwar nett und verständnisvoll, aber sie fragt mich über Dinge aus, die allein meine Angelegenheit sind, wie mein Sexleben und mein Kontostand. Ich erkläre ihr, dass ich wegen meines aufwendigen Bildungswegs derzeit kein Kind in mein Leben integrieren kann. Trotzdem entwirft sie Zukunftsszenarien für mich als Mutter und zählt auf, welche Gelder ich als Alleinerziehende beantragen könnte.
Als ich am nächsten Tag in einer der zwei gynäkologischen Praxen anrufe, rät mir eine Mitarbeiterin, mich schnell zu entscheiden, denn die Termine für den operativen Schwangerschaftsabbruch gingen weg wie geschnitten Brot. Ein Vorgespräch sei nicht möglich. Es gäbe noch die Möglichkeit des medikamentösen Abbruchs, aber zu den Methoden könne man mich nicht beraten. Also recherchiere ich im Internet. Obwohl ich selbst Medizin studiere, sind mir nicht alle Details und Risiken der Methoden klar.
Am Ende entscheide ich mich für die operative Abtreibung, die meist mittels Vakuumaspiration gemacht wird. Dabei wird unter lokaler Betäubung oder Kurznarkose das Schwangerschaftsgewebe aus der Gebärmutter abgesaugt. In manchen Fällen wird es zusätzlich ausgeschabt. Ich mache einen OP-Termin in der nächsten Woche aus.
Eine andere Sorge ist die Finanzierung. Die OP kostet 523 Euro, plus 19 Euro für die Nachsorge. Ich frage bei meiner Krankenkasse nach, in welchen Fällen sie die Übernahme bewilligt: Erstens, wenn es sich um eine Vergewaltigung handelt oder die Gesundheit der Schwangeren in Gefahr ist. Trifft nicht auf mich zu. Zweitens, wenn eine Schwangere die finanziellen Mittel nicht aufbringen kann. Okay, das müsste zutreffen. Allerdings muss man den Antrag sehr schnell stellen, rückwirkend ist er nicht möglich. Fuck. Nur noch drei Werktage bis zum OP-Termin. Mir rennt die Zeit davon.
Meine Angst, dass die Kostenübernahme durch die Krankenkasse aus irgendwelchen Gründen nicht klappen könnte, ist so groß, dass ich jetzt doch meine Eltern einweihe. Nie in meinem Leben habe ich mich so geschämt, wie in dem Moment, als ich ins Arbeitszimmer meines Vaters trete und ihm sage, dass ich ungewollt schwanger bin. Mit über Dreißig. Ich habe Glück: Meine Eltern reagieren verständnisvoll und bieten mir an, im Notfall die Kosten zu übernehmen. Aber wie geht es Frauen, die diese familiäre Unterstützung nicht haben? Zwei Tage später habe ich den Termin bei der Krankenkasse. Ich bringe meine Kontoauszüge der letzten drei Monate mit. Große Erleichterung: Mein Antrag wird genehmigt.
Unterdessen ist es für mich immer schwieriger geworden, zu arbeiten. Ich leide unter so starker Übelkeit, dass ich mich mehrfach täglich übergeben muss. Sobald ich etwas esse, würgt es mein Körper sofort wieder hoch. Ich fühle mich schrecklich und bekomme bald Ekelgefühle vor mir selbst: Es ist, als ob in mir ein Alien heranwachsen würde. Als würde mich der Mann, der den Kontakt zu mir abgebrochen hat, mit dieser Schwangerschaft endgültig demütigen.
Ich fühle mich schuldig, weil ich solche negativen Gedanken habe. Aber vor allem schäme ich mich unermesslich. Eine ähnliche Erfahrung hat die Autorin Anika Landsteiner gemacht, wie sie in ihrem 2024 erschienenen Buch berichtet. In „Sorry not sorry“ beschreibt sie ihre eigene ungewollte Schwangerschaft als „das größte Schamgefühl“, das sie je erlebt hat. Sie habe sich nicht getraut, dem beteiligten Mann von ihrer Schwangerschaft zu erzählen, „weil es sich so anfühlte, als würde ich ihn in etwas reinziehen, was meinen Körper betrifft, ihm jedoch die Zukunft verbaut. Ich fühlte mich als Überbringerin schlechter Nachrichten.“
Kein Wunder: Schuld- und Schamgefühle von Frauen sind kulturhistorisch in unserer Gesellschaft verankert. Von Eva als Urheberin der Erbsünde über böse Stiefmütter in Märchen bis zu Hexenverbrennungen: Für explizit weibliche Schuldfiguren gibt es viele Beispiele.
Die Scham galt früher sogar als weibliche Tugend, denn die Frau sollte ja auf keinen Fall selbst kühn und sexy sein, um als unschuldige Jungfrau erobert zu werden. Ich war deshalb schon immer in einer emotionalen Zwickmühle. Weil ich christlich erzogen wurde, war mein Idealbild von mir als Frau mit Keuschheit verknüpft. Aber dieses Bild kollidierte mit meiner Lebensrealität.
So war die Scham mein ständiger Begleiter, etwa wenn ich in meinen Zwanzigern nach einem Tinder-Date mit jemandem im Bett landete. Wie unnötig, denke ich heute. In Bezug auf meine ungewollte Schwangerschaft ist zwar kein Stolz angebracht. Aber dass es mir so schlecht geht, während der beteiligte Mann Urlaubsfotos vom Strand in Spanien postet, erscheint mir unverhältnismäßig.
Diese Schieflage wird durch die gegenwartsfremde Kirche und Politik strukturell aufrechterhalten. Und auch die weibliche Selbstaufopferung, auf die auch Anika Landsteiner sich bezieht, hat Tradition. Am schlimmsten ist, dass sie nie aufhört: Erst opfert man sich für Männer auf, später für die Kinder.
Erst am Tag der OP lerne ich die Ärztin kennen, die meine Abtreibung vornehmen wird. Während ich im Wartezimmer sitze, betrachte ich die ausgelegten Prospekte. Fast alle haben Mutterschaft zum Thema oder wie man den Wunsch, schwanger zu werden, umsetzen kann. Überall wird Schwangerschaft als etwas Wunderbares angepriesen, das man anstreben sollte und über das man sich zu freuen hat.
Ärzt*innen unter Druck
Nicht ein einziger Prospekt bezieht sich auf die Situation, in der ich gerade bin. Auch dafür finde ich später einen möglichen rechtlichen Grund: Zwar wurde 2022 der § 219a StGB, das Werbeverbot für Schwangerschaftsabbrüche, aufgehoben. Allerdings verbietet das Heilmittelwerbegesetz eine irreführende oder kommerzialisierende Werbung. Es könnte ja eine Frau auf die Idee kommen, abzubrechen, weil die Werbung für Abtreibung so ansprechend ist, oder?
Als ich ins Zimmer der Ärztin trete, steht sie neben ihrem Schreibtisch, als sei sie auf dem Sprung. „Hallo, sind Sie sich sicher?“, fragt sie gestresst. Ich sage: „Ja.“ Wir machen schnell eine Ultraschalluntersuchung und schon bin ich wieder draußen.
Meine Ärztin ist wie ihre Kolleg*innen in einer misslichen Lage: Sie muss sich nach einem strengen, teils absurden Abrechnungssystem richten, das ihr die menschliche Zuwendung erschwert oder unmöglich macht. Darüber hinaus verlangt es Ärzt*innen auch in Deutschland viel Durchhaltevermögen ab, wenn sie Schwangerschaftsabbrüche durchführen wollen.
Das zeigt auch der Fall von Joachim Volz. Der Gynäkologieprofessor hat im Sommer gegen das neue Abtreibungsverbot seines Arbeitgebers, des Christlichen Klinikums Lippstadt, geklagt. Die Klage wurde abgewiesen, doch Volz hat gegen das Urteil Berufung eingelegt. Zudem hat er eine Petition gestartet, die inzwischen mehr als 290.000 Menschen unterschrieben haben.
Gynäkolog*innen wie Alicia Baier kritisieren die rudimentäre Ausbildung im Medizinstudium. Mit ihrem gerade erschienenen Buch „Das Patriarchat im Uterus“ und dem Verein Doctors for Choice setzt sie sich zusammen mit anderen Abtreibungsbefürworter*innen für eine bessere Versorgungslage ein. Zu diesem Zweck bietet der Verein unter anderem Papaya-Workshops an, in denen Studierende die grundlegenden Kenntnisse eines chirurgischen Abbruchs an einer Papaya lernen.
In einem ambulanten OP-Zentrum im sechsten Stock eines Hochhauses warte ich auf meine Abtreibung. Die Menschen neben mir scheinen alle aus anderen Gründen hier zu sein. Die meisten haben sichtbare Verletzungen wie einen gebrochenen Arm oder eine Wunde am Kopf, und viele sind Männer. Auf dem Schild an der Wand sind auch die gynäkologischen Leistungen aufgereiht. Aber die, die ich gleich in Anspruch nehme, steht nicht drauf. Ich komme mir kriminell vor. Wenig später sitze ich im OP-Hemdchen in der Schleuse zum Operationssaal und starre auf die Uhr an der Wand, während der Sekundenzeiger sich um die eigene Achse schleppt. Dann werde ich abgeholt.
Als ich nach der Abtreibung wieder zu mir komme, liege ich in einer Blutlache. Man hat mir eine schlabbrige Onesize-Netzunterhose mit einer dicken Einlage übergezogen. Die OP-Schwester bringt mir Cola und Kekse wie einem Kind. Hinter dem Fenster des Aufwachraums erstreckt sich endlos weißer Himmel. Ich schaue hinaus und endlich kann ich wieder weinen. Es sind Tränen der Trauer und Wut, aber vor allem sind es Tränen der Erleichterung.
Wenn man den Argumenten der Abtreibungsgegner*innen glaubt, müsste es mir nach der Abtreibung schlecht gegangen sein. Dabei ist das sogenannte Post-Abortion-Syndrom ein Märchen, das auf die „Lebensschützer“ zurückgeht. Wissenschaftliche Erkenntnisse zeigen etwas anderes: Die Mehrzahl der Frauen ist zufrieden mit ihrem Abbruch und nur bei wenigen Frauen, die meist schon psychische Vorerkrankungen haben, kommt es zu Folgen wie Depressionen oder Schlafstörungen.
Einige Monate später steht der geschätzte Geburtstermin an. Wenn ich auf der Straße eine hochschwangere Frau sehe, denke ich: So schwanger wäre ich jetzt auch, wenn ich nicht hätte abtreiben können. Und jedes Mal bin ich unendlich erleichtert und dankbar, dass ich es konnte. Die Abtreibung war für mich alternativlos.
Im Klartext: Es war nicht die Abtreibung, die mich seelisch belastete, es waren die Umstände. Meine Sozialisierung, die es mir nicht leicht macht, Männern Grenzen zu setzen. Eine Gesellschaft, die verantwortungsloses Handeln bei Männern unter den Teppich kehrt, während sie Frauen für dasselbe Handeln bestraft. Gesetze, die Frauen als geistig unreife oder bösartige Wesen darstellen, denen keine vernünftige Entscheidung zuzutrauen ist. Ein Gesundheitssystem, das Frauen in einer Notsituation zwar auf umständliche Weise Hilfe leistet, aber die Rahmenbedingungen für einen würdevollen Umgang mit einem Thema, das uns alle betrifft, verwehrt. Und aktuell eine Regierung, die es für „skandalös“ hält, an diesen Umständen etwas zu ändern.
Ich hatte das Glück, meine „Konfliktgravidität“ gut zu überstehen. Aber ich mache mir Sorgen um alle Frauen, die in Zukunft eine haben werden.
*Mina Billner ist ein Pseudonym, um die Autorin zu schützen. Ihr wirklicher Name ist der Redaktion bekannt.
Gemeinsam für freie Presse
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Alle Artikel stellen wir frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade in diesen Zeiten müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass kritischer, unabhängiger Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert