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Akten im Fall Lorenz A.Ein Lehrstück der Täter-Opfer-Umkehr

Lange bevor die Ermittlungen im Fall Lorenz A. beendet waren, verfestigte sich das Narrativ vom gefährlichen Kriminellen. Die Polizei trug dazu bei.

Durch Polizeischüsse tödlich verletzt: Am Tatort in der Oldenburger Innenstadt erinnert ein stilisiertes Foto an Lorenz A Foto: Sina Schuldt/dpa

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Aljoscha Hoepfner aus Oldenburg

Die Staatsanwaltschaft Oldenburg erhebt Anklage wegen fahrlässiger Tötung gegen den Polizisten, der den 21-jährigen Lorenz A. am Ostersonntag mit mehreren Schüssen von hinten tötete. Die Rechtsbeistände kritisieren die Ermittlungen und fordern Anklage wegen Totschlags. Jetzt liegt die Entscheidung über die Eröffnung des Hauptverfahrens bei dem Landgericht Oldenburg. So weit die juristische Beurteilung des Falls.

Schon lange bevor die Ermittlungen abgeschlossen waren, hatte sich jedoch in vielen Teilen der Öffentlichkeit das Narrativ eines angeblich gefährlichen Kriminellen verfestigt, gegen den sich der Polizist schlicht hätte wehren müssen. In den sozialen Medien, und auch in Zuschriften an die taz, wurde die Tötung damit nicht nur gerechtfertigt, sondern regelrecht gefeiert.

Einen nicht unerheblichen Beitrag zu dieser Täter-Opfer-Umkehr hat die Polizei geleistet. In der Öffentlichkeit, aber auch in den Ermittlungen. Denn nachdem ihr Kollege den 21-Jährigen erschossen hatte, ermittelte die Polizei Oldenburg – gegen den getöteten Lorenz A.

Ermittlungen gegen Tote sind eigentlich verboten. Die Staatsanwaltschaft sprach gegenüber der taz von einer automatisch eingeleiteten Formalie wegen der Auseinandersetzung vor der Bar, bei der A. Pfefferspray versprüht haben soll. Das Verfahren sei nach seinem Tod zügig eingestellt worden.

Ermittlungen gegen Lorenz A. eingeleitet

Dieser Darstellung widerspricht die Anwältin von A.s Mutter, Lea Voigt. Mehrere Wochen habe die Polizei gegen den Toten ermittelt, sogar Zeugen befragt: „Das Signal, das damit gegenüber den Angehörigen gesendet wurde, ist nicht gerade vertrauensfördernd: Lorenz wird vom Opfer zum Beschuldigten gemacht – und zwar von der Polizei Oldenburg“.

Fotos, Blumen und Kerzen erinnern an Lorenz A.: Angehörige fordern Anklage wegen Totschlags Foto: Sina Schuldt/dpa

Die Ermittlungen gegen den Schützen scheinen, anders als gegen den Erschossenen, auf Sparflamme gelaufen zu sein. Hier haben die Ermittler, bis auf den Streifenpartner des Polizisten, keine der beteiligten Beamten und Rettungskräfte vernommen, kritisiert Voigt. Das Handy des Schützen wurde erst nach fast drei Tagen beschlagnahmt, das seines Kollegen gar nicht.

Was sich die Beamten dagegen genau angeschaut haben: das Handy von A. Entgegen der Anordnung der Staatsanwaltschaft habe die Polizei „sämtliche Daten grob gesichtet“, nicht nur die für den Tatzeitpunkt relevanten, so Voigt. Gegen den Polizisten können sich diese Ermittlungen nicht gerichtet haben. In den Akten werde A. laut Voigt teilweise als „Täter“ bezeichnet.

Ermittlungsverfahren sind noch lange keine Vorstrafen

Dieses intern offenbar vorherrschende Bild hat dann schnell seinen Weg an die Öffentlichkeit gefunden. Nur wenige Tage nach A.s Tod meldete das Nachrichtenmagazin Der Spiegel, dass er „für die Polizei kein Unbekannter“ gewesen sei. Mehrere Ermittlungsverfahren habe es gegeben.

Ein besonders gefährlicher „krimineller“ „Straftäter“ sei er gewesen, rechtfertigen nun viele die Schüsse. Aber nicht nur sind Ermittlungsverfahren noch lange keine Vorstrafen. Die eingesetzten Po­li­zis­t:in­nen wussten in der Tatnacht gar nicht, wen sie suchten. Trotzdem verschob sich jetzt der Fokus vom Polizisten zu A.

Die Informationen samt genauen Tatvorwürfen sind so detailliert, dass sie nur aus Polizeikreisen stammen können. Der Verdacht liegt nah, dass hier ein Kollege Dienstgeheimnisse durchgestochen hat, um den Erschossenen zu diskreditieren.

Die Polizei Oldenburg wollte auf Anfrage nicht ausschließen, dass die Informationen aus Polizeikreisen stammen, und konnte nicht erklären, wie Dritte an sie gelangt sein könnten. Ein „hinreichender Anfangsverdacht“ für interne Ermittlungen liege aber nicht vor. Auch die Staatsanwaltschaft sieht keinen Anlass zu ermitteln, wie sie auf Anfrage mitteilte. Gegen A. ermittelten die Behörden trotz strikten Verbots.

Debatte über Rassismus und Polizeigewalt

Die Debatte über Rassismus und Polizeigewalt in Reaktion auf die Tötung brachten das Bild des „Täters“ A. ins Wanken. Schnell gingen die medial omnipräsenten Polizeigewerkschaften dagegen in die Offensive. Sie warnten vor „Vorverurteilungen“, sahen in Forderungen nach unabhängigen Ermittlungen einen Angriff auf die Gewaltenteilung und wiesen „Rassismusvorwürfe“ weit von sich.

Der Vorsitzende der Gewerkschaft der Polizei Niedersachsen, Kevin Komolka, argumentierte im Interview mit dem NDR, dass der Polizist in der Stresssituation gar nicht hätte erkennen können: „Handelt es sich um eine Person of Colour? Oder handelt es sich um einen jungen Deutschen?“ Deutsche PoC, wie Lorenz A., existieren in seinem Weltbild wohl nicht.

Die Hinterbliebenen von Lorenz A. erzählen, dass sie keinerlei Vertrauen in die Polizei haben. Verübeln kann man es ihnen nicht. Die Ermittlungen gegen den Schützen liefen offenbar zögerlich, stattdessen nahmen die Behörden A. ins Visier. Angefeuert von dieser Täter-Opfer-Umkehr sind die Angehörigen seit Monaten übelster rassistischer Hetze ausgeliefert.

Es ist wie so oft in Fällen von tödlicher Polizeigewalt, besonders gegen PoC: Die Polizei schützt sich selbst, anstatt aufzuklären. Ohne unabhängige Kontrolle wird sich das nicht ändern.

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