Frauenschutzabkommen in Lettland: Wiedervorlage im nächsten Jahr
Nach einem Veto des Präsidenten und Protesten stimmt das Parlament dafür, eine weitere Abstimmung über die Istanbul-Konvention zu verschieben.
Sie lassen nicht locker: Rund 10.000 Menschen haben am Donnerstagabend in der lettischen Hauptstadt Riga erneut gegen den Austritt des baltischen Staates aus der sogenannten Istanbul-Konvention protestiert - dem Übereinkommen des Europarates zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt. Auch in anderen Städten, wie Liepāja, Cēsis und Daugavpils gingen, wenn auch in deutlicher geringer Anzahl, Menschen auf die Straße.
Auf den Kundgebungen waren lettische Fahnen und EU-Flaggen zu sehen, die Protestierenden skandierten Slogans wie „Verrat“ und „Tue alles, was Du kannst – die Konvention muss siegen!“ Die mit Abstand größte Demonstration in der Rigaer Altstadt verlief laut Angaben der Polizei weitgehend friedlich. Zwei Personen wurden festgenommen – wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt und eines tätlichen Angriffs auf einen Demonstranten.
Am Donnerstag vergangener Woche hatte das lettische Parlament (Saeima) mit den Stimmen von 56 Abgeordneten bei 32 Gegenstimmen sowie zwei Enthaltungen in zweiter Lesung für ein Gesetz votiert, das Lettlands Austritt aus der Istanbul-Konvention vorsieht. Ein Argument der Befürworter*innen lautete, die Konvention untergrabe traditionelle Familienrollen.
Am Tag zuvor hatten sich vor dem Parlament bereits rund 5.000 Demonstrant*innen versammelt, die den Verbleib Lettlands in der Konvention forderten. Diese war 2016 unterschrieben, jedoch erst 2024 ratifiziert worden und am 1. Mai 2024 in Kraft getreten.
Wiedervorlage im Parlament
Anfang dieser Woche machte Staatspräsident Edgars Rinkēvičs von seinem Recht Gebrauch, dem Gesetz seine Unterschrift zu verweigern und es zwecks einer weiteren Debatte wieder an das Parlament zurückzuverweisen.
Zur Begründung sagte er, die Entscheidung, die Istanbul-Konvention zu kündigen, sei im europäischen Raum beispiellos und könne die gesamteuropäische Rechtsstaatlichkeit gefährden. Der 52-jährige, seit 2023 im Amt, hatte sich 2014 offen zu seiner Homosexualität bekannt.
„Lettland wird der erste EU-Staat sein, der aus einem internationalen Menschenrechtsvertrag austritt. Die Ratifizierung und Kündigung des Übereinkommens innerhalb einer Legislaturperiode sendet ein widersprüchliches Signal sowohl an die lettische Gesellschaft als auch an Lettlands internationale Partner hinsichtlich der Bereitschaft des Landes, seinen internationalen Verpflichtungen nach bestem Wissen und Gewissen nachzukommen“, heißt es auf der Webseite des Staatsoberhauptes.
Am 5. November beschloss das Parlament in einer außerordentlichen Sitzung, eine erneute Befassung mit dem Gesetz um ein Jahr zu verschieben und sie damit der nächsten Volksvertretung zu überlassen. 53 der insgesamt 100 Abgeordneten stimmten dafür. Bis Ende Oktober kommenden Jahres müssen in Lettland Parlamentswahlen stattfinden.
Am Scheideweg
Interessanterweise blieben die Abgeordneten des „Bündnisses der Bauern und Grünen“ (ZZS) dieser Abstimmung fern. Das ZZS gehört als Juniorpartner der Koalition der liberalkonservativen Ministerpräsidentin Evika Siliņa an, es hatte jedoch Ende Oktober ebenfalls für einen Austritt Lettlands aus der Konvention gestimmt.
Beata Jonite von der lettischen Nichtregierungsorganisation MARTA-Zentrum, die sich vor allem für die Rechte von Frauen einsetzt, sieht Lettland an einem Scheideweg. Die Istanbul-Konvention sei das Symbol schlechthin für die Frage, welchen Weg Lettland einschlage. Folge das Land Georgien und Ungarn oder bleibe es den grundlegenden europäischen Werten treu, sagte sie in einem Interview mit dem oppositionellen russischen Exilmedium Meduza.
Die Argumente gegen die Konvention seien dieselben wie in Russland: „Kampf gegen die Genderideologie“, „Schutz der traditionellen Familie“ – allesamt direkte Kopien der Kreml-Thesen. "Die Konvention hat keinen Einfluss auf Familienmodelle. Sie schützt lediglich Frauen und Gewaltopfer“, sagt Jonite.
In diesem Zusammenhang weist sie auf Daten der UNO hin, wonach Lettland 2023 europaweit die höchste Femizidrate pro Kopf in Europa aufgewiesen habe, gefolgt von Russland und Litauen.
Politisches Spiel
Jetzt habe das Parlament in Riga Hunderttausenden von Frauen signalisiert, dass ihr Leben nichts wert sei und die Angst in Lettland vor dem Wort „Gender“ wichtiger, als deren Sicherheit. Das sei ein politisches Spiel mit dem Leben von Menschen.
Doch Jonite kann der jüngsten Kontroverse auch etwas Positives abgewinnen. „Zum ersten Mal seit vielen Jahren steht das Thema Gewalt gegen Frauen wieder ganz oben auf der öffentlichen Agenda. Die Menschen haben sich zusammengefunden, und das zeigt, dass Mitgefühl und Solidarität noch immer existieren“, so die Menschenrechtlerin gegenüber Meduza.
Auch Mārtiņš Kaprāns vom Institut für Philosophie und Soziologie der Universität Lettlands sieht vor allem in den Protesten der vergangenen Tage Potenzial. Bemerkenswert sei die „unsichtbare Front“ an Menschen, die vom lettischen politischen System sehr enttäuscht sind, zitiert das Nachrichtenportal lsm.lv den Wissenschaftler. „Das ist ein Teil der Bevölkerung, der jederzeit auf die Straße gehen könnte. Demokratie ist vielschichtig.“
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