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Versorgung von obdachlosen MenschenGesundheit gibt es nur mit Meldeadresse

Das Leben auf der Straße ist extrem ungesund. Und eine Gesundheitsbefragung unter Obdachlosen in Hamburg zeigt, wie wenig die Hilfsangebote helfen.

Gesundheitszustand wohnungsloser Menschen: im Vergleich zur letzten Erhebung vor zwei Jahren verschlechtert Foto: Marcus Brandt/dpa

Aus Hamburg

Nele Beste

Der Kiez in St. Pauli ist im November besonders grau, die Nächte werden schon kalt. Sarah und ihr Freund schlafen seit einigen Jahren auf einer der Nebenstraßen der Hamburger Reeperbahn. „Die Bedingungen hier sind nicht so super. Es ist ja auch nicht gerade sauber“, erzählt die 38-Jährige. „Wird man krank, hält man es so lange aus, bis es wieder weggeht.“ Manchmal geht es aber nicht wieder weg, wie die kleine Wunde an ihrem Finger. Erst als sie sich entzündete und sich eine Blutvergiftung anbahnte, suchte Sarah Hilfe beim Krankenmobil, das montags und donnerstags auf der Reeperbahn steht und Bedürftige versorgt.

Sarahs Fall ist ganz typisch. Ein Großteil der obdachlosen Menschen leidet an gesundheitlichen Beeinträchtigungen, vermeidet aber, medizinische Hilfe in Anspruch zu nehmen. Das geht aus dem Wohnungslosenbericht der Bundesregierung hervor, einer deutschlandweiten Erhebung zu Ausmaß und Struktur der Wohnungslosigkeit, der Anfang November veröffentlicht worden ist. Im Februar 2024 hatte die Gesellschaft für innovative Sozialforschung und Sozialplanung (Giss) in 200 Städten insgesamt 2.250 Menschen ohne festen Wohnsitz befragt.

Für Hamburg kam noch ein eigener Fragebogen dazu. Die Hamburger Sozialbehörde hatte die Giss beauftragt, genauer hinzuschauen, wie es um die gesundheitliche Versorgung auf den Straßen der Stadt steht. Zum Zeitpunkt der Erhebung lebten in Hamburg hochgerechnet 3.787 Menschen auf der Straße. Weitere 1.685 Menschen hatten keine eigene Wohnung und waren provisorisch bei Freun­d:in­nen oder Angehörigen untergekommen.

Die Ergebnisse der Gesundheitsbefragung überraschen uns nicht. Aus dem engen Austausch mit den Einrichtungen wissen wir, dass viele obdachlose Menschen in Hamburg gesundheitlich stark belastet sind

Melanie Schlotzhauer, SPD, Hamburger Sozialsenatorin

Mehr als je­de:r zweite befragte Obdachlose in Hamburg gibt an, dass es ihm oder ihr schlecht geht. „Die Ergebnisse der Gesundheitsbefragung überraschen uns nicht. Aus dem engen Austausch mit den Einrichtungen wissen wir, dass viele obdachlose Menschen in Hamburg gesundheitlich stark belastet sind“, teilt Sozialsenatorin Melanie Schlotzhauer (SPD) mit.

Leben auf der Straße „extrem ungesund“

Im Vergleich zur vorherigen Umfrage im Jahr 2022 ist die Zahl derer gestiegen, die sagen, es gehe es ihnen gesundheitlich schlecht. Die Hälfte gab an, gar keine Gesundheitsangebote zu nutzen. Nach den Gründen gefragt, antworten sie: „Ich will gar nicht wissen, was ich habe“. Oder: „Ich habe Angst, dann aus dem Substitutionsprogramm zu fallen“. Oder: „Generelle Angst vor dem Arzt“. Das sind nur einige der Antworten aus dem von der Giss veröffentlichten Bericht.

Das Leben auf der Straße sei „extrem ungesund“, schreibt Jutta Henke, Geschäftsführerin der Giss, auf Anfrage der taz. Viele Betroffene leiden unter chronischen Erkrankungen, Infektionen, psychischen Belastungen. Die Hilfen, die es gibt, erreichen manche gut – andere gar nicht. Selbst wer eine Krankenversicherung hat, nutzt oft lieber niedrigschwellige Angebote. Vor allem Menschen, bei denen Obdachlosigkeit und Sucht zusammenkommen, fühlen sich in Arztpraxen nicht willkommen. Manche berichten, sie werden dort „nicht gut behandelt“.

Ulf war 13 Jahre obdachlos im Hamburger Stadtteil Altona. Mittlerweile hat er eine Wohnung und arbeitet als Verkäufer des Straßenmagazins Hinz und Kunzt. „Die Hemmschwelle, zum Arzt zu gehen, ist riesig“, sagt der 60-Jährige. Manche fürchten, dass die Polizei eingeschaltet wird, wenn sie sich an Hilfsangebote wenden. Einige hätten schon schlechte Erfahrungen mit Be­am­t:in­nen gemacht, manche seien in kriminelle Strukturen verwickelt, wieder andere wurden Opfer von Gewalt und möchten aber kein Aufsehen erregen.

Hilfe gibt es, erreicht aber nicht alle

„Die Situation hat sich nicht nur in den letzten Monaten, sondern Jahren verändert“, sagt Lutz Gröchtemeier vom Krankenmobil der Caritas. „Neben der Zunahme der Behandlungen nehmen wir auch eine Verschlechterung des Gesundheitszustandes bei den Menschen wahr.“ Sein Team fährt täglich verschiedene Stadtteile an, behandelt Wunden wie die von Sarah, verteilt Medikamente, hört zu.

Die Hemmschwelle, zum Arzt zu gehen, ist riesig

Ulf, Verkäufer des Straßenmagazins Hinz und Kunz

„Der Winter ist natürlich eine weitere enorme Herausforderung für die Menschen auf der Straße. Wir sehen, dass zum Beispiel die Erkältungserkrankungen wieder stark zunehmen, die auf der Straße auch schnell zu einer Lungenentzündung werden können“, sagt Gröchtemeier. Es fehle an sicheren, warmen Aufenthaltsorten.

Winternotprogramm gestartet

Einen solchen warmen und sicheren Aufenthaltsort soll eigentlich das Hamburger Winternotprogramm bieten. Auch in diesem Jahr ist es am 1. November gestartet. Bis Ende März 2026 stehen an zwei Orten Schlafplätze für insgesamt bis zu 700 Menschen zur Verfügung.

Die Mehrbettzimmer sollen Schutz in der Nacht bieten, Alkohol und Drogen sind verboten, es gibt einen Sicherheitsdienst, zweimal täglich eine Wund- und Medikamentensprechstunde und laut Sozialbehörde begleite ein Pflegedienst die Mitarbeitenden bei der Morgenrunde durch alle Zimmer. Morgens um 9.30 Uhr müssen alle die Unterkunft räumen. Nur bei besonders schlechtem Wetter werden die Öffnungszeiten verlängert.

Hört man aber denen zu, die hier schon mal übernachtet haben, bieten die Unterkünfte zwar ein Dach über dem Kopf, Schutz findet in den Mehrbettzimmern kaum jemand. „Es ist die Hölle. Ich war einmal dort und werde nie wieder einen Fuß in die Einrichtung setzen“, sagt auch Sarah. Auf der Straße an der Reeperbahn fühle sie sich sicherer als dort. „Man muss sich schon die Klamotten anschnallen. Die klauen dir alles im Schlaf. Von dem Dreck und Gestank ganz zu schweigen.“

Ulf habe in seiner Zeit ohne Obdach die Winternotunterkünfte ebenfalls gemieden. „Man kann sich nicht vorstellen, was da los ist, wenn so viele Menschen auf engsten Raum zusammen sind. Eigentlich gibt es Kontrollen am Eingang, aber du wirst da trotzdem mit dem Messer bedroht oder heimlich unter Drogen gesetzt von den anderen.“

„Mit Blick auf das Winternotprogramm hatten wir im vergangenen Jahr nur eine handvoll sogenannter besonderer Vorkommnisse in den beiden Standorten – dabei ging es aber eher um Beschimpfungen und lautstarke Streitigkeiten und weniger um körperliche Gewalt (nur in einem Fall)“, schreibt der Sprecher der Sozialbehörde, Wolfgang Arnhold, dazu auf Anfrage der taz.

Sozialbehörde setzt auf Sozialarbeit

Welche Kosequenzen folgen aus der Befragung und der schlechter gewordenen gesundheitlichen Lage der Obdachlosen? „Die Ergebnisse der Befragung verdeutlichen, wie wichtig eine konsequente, verbindliche und aktivierende Ansprache obdachloser Menschen ist“, so steht es in einer Pressemitteilung der Sozialbehörde. „Frühzeitige Hilfe kann gesundheitliche Probleme verhindern und Verschlimmerungen vermeiden.“ Es ist die Rede davon, das Gesundheitssystem und insbesondere die Notfallversorgung entlasten zu können.

Im Juni 2025 hat die Stadt ein neues Konzept für die Straßensozialarbeit vorgestellt. Dazu gehören Angebote wie der Social Hub in den Räumen der Bahnhofsmission am Hauptbahnhof. Dort sollen Mitarbeitende die Unterstützung komplexer Fälle übernehmen, indem sie Hilfsorganisationen miteinander vernetzen. Zusätzlich suchen So­zi­al­ar­bei­te­r:in­nen mit einem Streetworkmobil obdachlose Menschen direkt an ihrem Schlafplatz auf, bieten Beratung an, bringen Kleidung oder hören einfach nur zu.

Aufsuchende Sozialarbeit ist eine Sache, eine andere ist, die Menschen langfristig von der Straße in eine Wohnung zu holen. „Ich wünsche mir zum einen mehr bezahlbaren Wohnraum und mehr Unterkünfte, in denen Menschen dauerhaft unterkommen können“, sagt Lutz Gröchtemeier vom Krankenmobil. Er ist für eine Ausweitung des Housing-First-Prinzips. Hier müssen Menschen nicht erst bestimmte Auflagen erfüllen, ehe sie eine Wohnung bekommen, sondern erhalten direkt eine Wohnung, der Rest folgt dann. Oder wie Gröchtemeier es formuliert: „Gesundheit darf kein Privileg sein, das an eine Meldeadresse gebunden ist.“

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