Umgang mit Gewalt gegen Frauen: Selbstkritik ist immerhin ein Anfang
Ja, es gibt Fortschritte beim Kampf gegen häusliche Gewalt. Doch wenn sich die Union nicht permanent verweigern würde, wären wir schon viel weiter.
N och Mitte der 1970er Jahre gab es in Deutschland keine Anlaufstelle für Frauen, die vor teils schlimmsten Misshandlungen durch ihre Partner flüchten mussten. Erst 1976 öffnete das erste autonome Frauenhaus in Westberlin. Es behauptete sich gegen massiven Widerstand von Öffentlichkeit und Ehemännern. Heute, knapp 50 Jahre später, ist die Situation eine andere. Rund 400 Frauenhäuser gibt es bundesweit.
Seit 2018 gilt hierzulande die Istanbul-Konvention, das Übereinkommen des Europarats gegen Gewalt gegen Frauen. Im Februar wurde das Gewalthilfegesetz verabschiedet, das zum ersten Mal einen bundesweiten Rechtsanspruch auf Schutz und Beratung für gewaltbetroffene Frauen und ihre Kinder festhält. Voraussichtlich ab 2032 soll der gelten – ein historischer Schritt. Und trotzdem: Fast 266.000 Opfer häuslicher Gewalt gab es 2024 in Deutschland, mehr als 70 Prozent davon Mädchen und Frauen – und das Dunkelfeld ist immens. 191 Mädchen und Frauen kamen durch häusliche Gewalt zu Tode. 2022 konnten bis zu 15.000 schutzsuchende Frauen nicht in Frauenhäusern aufgenommen werden.
Nun zeigte sich Bundesinnenminister Dobrindt (CSU) bei der Vorstellung der Gewaltzahlen vergangene Woche ungewohnt selbstkritisch. „Tut die Politik ausreichend viel, um Frauen vor Gewalt zu schützen?“, fragte Dobrindt und gab sich gleich selbst die Antwort: „Da muss deutlich mehr kommen.“
Selbstkritik ist ein Anfang – vor allem von MinisterInnen der Unionsfraktion. Während ihre SPD-Kollegin, Justizministerin Stefanie Hubig, bereits einen Gesetzentwurf zum Einsatz der elektronischen Fußfessel und zu K.-o.-Tropfen vorgelegt hat, Verschärfungen im Sorge- und Umgangsrecht ankündigt und verbale sexualisierte Gewalt unter Strafe stellen will, kommt von der Unionsseite wenig bis nichts.
Seit der 70er hat sich viel getan
Deren Verweigerungshaltung ist auch ein Grund, warum der Schutz vor Gewalt keine wesentlich größere Rolle im Koalitionsvertrag spielt. Warum wird von UnionsministerInnen der Länder gegen manche Pläne Hubigs mobil gemacht? Und warum ziehen sich solche Länder aus der Finanzierung der Hilfestruktur zurück?
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Seit Mitte der 70er Jahre hat sich viel getan. Aber die Kontinuität, dass Männer ihre Frauen und Kinder schlagen und umbringen und die Taten als „Familiendrama“ ins Private geschoben werden, existiert noch. Gewalt gegen Mädchen und Frauen als gesamtgesellschaftliches Problem zu begreifen, ist noch immer nicht angekommen. Da ist mehr nötig, als einmal jährlich Betroffenheit am Tag gegen Gewalt gegen Frauen zu zeigen.
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