Streit um Gedenken zum 9. November: „Leute im Publikum haben mich angeschrien“
Der US-Philosoph Jason Stanley sollte in der Jüdischen Gemeinde Frankfurt eine Rede halten. Sie wurde abgebrochen. Stanely ist schockiert.
taz: Jason Stanley, Sie haben am Sonntagabend in der Frankfurter Synagoge eine Rede zum 9. November und der Reichspogromnacht gehalten. Warum?
Janson Stanely: Ich habe über meine deutsch-jüdische Familie gesprochen. Wir haben tiefe Wurzeln in Deutschland, und unsere deutsch-jüdische Tradition liegt mir am Herzen. Meine Großmutter Ilse Stanley hat den 9. November 1938 erlebt und in ihren Memoiren beschrieben. Das habe ich in der Rede zitiert. Ich habe auch Meinungsfreiheit und Differenzen in der jüdischen Gemeinschaft angesprochen. Die jüdische Publizistin Masha Gessen wurde kürzlich mit dem Hannah-Arendt-Preis ausgezeichnet. Die Preisverleihung wurde abgesagt, weil sie eine Analogie zwischen Gaza und dem Warschauer Ghetto gezogen hatte. Hannah Arendt dürfte heute in Deutschland wegen ihrer kritischen Haltung zu Israel nicht mehr sprechen. Für Albert Einstein, der sich für einen binationalen Staat einsetzte, gilt das Gleiche. Beides habe ich erwähnt.
taz: Und dann?
Stanely: Leute im Publikum haben mich angeschrien. Es gab auch Beifall für meine Rede. Aber manche haben nur gebrüllt.
Jason Stanley, ist ein US-amerikanischer Philosoph und Faschismusforscher. Bis 2025 lehrte er an der Universität Yale und kündigte wenige Wochen nach der Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten an, nach Kanada an die Universität Toronto zu wechseln. Als Begründung sagte er auch, die USA würden auf eine faschistische Diktatur zusteuern.
taz: Warum?
Stanely: Ich habe es nicht genau verstanden. Es war eine äußerst verstörende, bedrohliche Situation.
taz: Haben Sie Ihre Rede zu Ende gehalten?
Stanely: Nein, jemand von der Jüdischen Gemeinde Frankfurt kam zu mir auf die Bühne und forderte mich auf, die Bühne zu verlassen.
taz: Das haben Sie getan?
Stanely: Ja, am Haupteingang war mehrere aufgebrachte, wütende Menschen. Ich bin durch einen Seiteneingang verschwunden und in mein Hotel gegangen. Es war sehr beunruhigend. Ich habe so etwas noch nie erlebt.
taz: Die Jüdische Gemeinde in Frankfurt hatte Sie eingeladen …
Stanely: … und sie hätte dafür sorgen sollen, dass ich meine Rede zu Ende halten kann. Es ging darin um die Reichspogromnacht und das Erbe des Liberalismus. Dazu gehört auch die Meinungsfreiheit. Zur Meinungsfreiheit gehört, dass es möglich sein muss, Reden zu Ende halten. Der Streit und Meinungsfreiheit sind zentral für das Jüdische. Sehen Sie, meine Eltern waren bei der Frage, was Israel ist, uneins. Meine Mutter, eine polnische Jüdin, war angetan von dem jüdischen Nationalstaat. In Israel sagt sie zu meinem Bruder: „Als ich klein war, waren alle bewaffneten Menschen gegen mich, sie waren meine Feinde, und ich hatte Angst. Hier sind alle bewaffneten Menschen auf meiner Seite.“ Mein Vater, ein deutsch-jüdischer Intellektueller, war kritisch gegenüber einem Staat, der eine Religion bevorzugte. Er lehnte die Gründung des Staates Israel nicht ab, hielt aber die Behandlung der Palästinenser als Bürger zweiter Klasse für völlig falsch. Solche Debatten muss man führen können.
taz: Haben Sie den Eindruck, dass es in Deutschland ein Problem mit Meinungsfreiheit in Bezug auf Israel und Gaza gibt?
Stanely: Das drängt sich angesichts der Reaktionen auf meine Rede auf. Dort ging es ja nur am Rande um Israel und Gaza. Ich habe auch betont, dass es in Deutschland von verschiedenen Seiten Antisemitismus gibt.
taz: Verstehen Sie die heftige Reaktion auf Ihre Rede?
Stanely: Nein. Ich unterstütze BDS, also die Sanktionsbewegung gegen Israel, nicht. Offensichtlich gibt es in Deutschland, auch für jüdische Menschen, Regeln, welche Worte benutzt werden dürfen und welche nicht. Ich bin schockiert, weil meine Ansichten eher konservativ sind – ich unterstütze uneingeschränkt die Existenz des Staates Israel, ich halte es für antisemitisch, Juden zum Verlassen Israels aufzurufen, ich halte die Unterstützung der Hamas für antisemitisch und ich halte es für antisemitisch, in Synagogen oder Schulen aufzutauchen und uns anzuschreien.
taz: Die Jüdische Gemeinde in Frankfurt hat sich Montagnachmittag offiziell von Ihnen distanziert. Sie wirft Ihnen „relativierende Vergleiche“ vor und „bedauert aufrichtig“, Sie eingeladen zu haben. Wie finden Sie das?
Stanely: Erstaunlicherweise fehlt in der Erklärung jeder Hinweis darauf, was an meiner Rede relativierend oder falsch gewesen sein soll. Die Jüdische Gemeinde in Frankfurt hatte mich eingeladen, um über meine Familie und die Reichspogromnacht zu reden. Meine Familie wurde aus Deutschland vertrieben. Ich hatte das Gefühl, dass die Jüdische Gemeinde mich am Sonntagabend herausgeworfen hat. Das ist unglaublich unhöflich. Und bei dem Anlass auch irgendwie ironisch. Ich war übrigens der einzige von vier Rednern, der sich ausführlich mit der Shoah und dem befasst hat, was am 9. November 1938 passiert ist. Die Reaktion der Jüdischen Gemeinde in Frankfurt ist ein Verrat an der liberalen, deutsch-jüdischen Tradition.
taz: Sie haben als Philosoph die USA verlassen und sind wegen des politischen Drucks in Trumps Amerika nach Kanada gezogen. Sehen Sie eine Ähnlichkeit zwischen dem, was Ihnen Sonntagabend passiert ist, und dem, was in den USA geschieht?
Stanely: Ich weiß nicht genug über deutsche Politik, um das beurteilen zu können. Aber dass jüdische Menschen keine Debatten führen können, ist besorgniserregend.
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