BSW-Einspruch: Muss die Bundestagswahl neu ausgezählt werden?
Ganz knapp scheiterte das BSW an der 5-Prozent-Hürde. Oder doch nicht? Die Partei fordert, die Bundestagswahl neu auszuzählen, und hat gute Argumente.
Ein halbes Jahr ist die Regierung von Friedrich Merz im Amt. Und auch wenn man manchmal den Eindruck haben könnte, sie übe noch, geht zumindest die Arbeit im Bundestag ihren geordneten Gang: Ausschüsse tagen, Gesetze werden verabschiedet, der Parlamentsbetrieb läuft.
Doch ein kleiner, unscheinbarer Ausschuss sitzt auf einer politischen Bombe, die bald hochgehen könnte: Der Wahlprüfungsausschuss entscheidet über mehr als eintausend Einsprüche gegen die Bundestagswahl. Besonders brisant ist der Einspruch des BSW. Die von Sahra Wagenknecht gegründete Partei, die bald offiziell nicht mehr nach ihr, sondern Bündnis Soziale Gerechtigkeit und Wirtschaftliche Vernunft heißen soll, fordert eine Neuauszählung. Sollte das BSW dann tatsächlich über 5 Prozent kommen, würden Abgeordnete ihre Mandate und die Koalition ihre Mehrheit verlieren.
Fast ausschließlich Hinterbänkler sitzen im Wahlprüfungsausschuss. Neun Abgeordnete, die selbst politische Beobachter nicht alle kennen. Mit ihnen ins Gespräch zu kommen, ist kompliziert. Mehrere Abgeordnete lassen mitteilen, sie wollten sich zu der Angelegenheit nicht äußern. Kürzlich hieß es, der Ausschuss könnte in dieser Woche zu einem Ergebnis kommen. Jetzt heißt es, es solle möglichst bald über den Einspruch des BSW entschieden werden.
Noch nie war es so knapp
„Es dauert einfach zu lange“, sagt Amira Mohamed Ali im Gespräch mit der taz. Sie ist Vorsitzende des BSW – und bleibt es auch, nachdem Sahra Wagenknecht am Montag ihren Rückzug aus der ersten Reihe verkündet hat. Der Wahlausschuss habe sich zu spät konstituiert und tage zu selten, kritisiert Mohamed Ali, und dass sich der Vorsitzende des Ausschusses, Macit Karaahmetoğlu, SPD, trotz mehrfacher Anfrage nicht mit Vertretern des BSW getroffen habe.
Noch nie war das Ergebnis einer Bundestagswahl so knapp. Dem BSW fehlten nur etwa 9.000 Stimmen für den Einzug ins Parlament. Die Partei war direkt nach Karlsruhe gezogen. Doch das Bundesverfassungsgericht verwies auf den Ausschuss, der zunächst über den Einspruch entscheiden solle, so sieht es das Gesetz vor. Das ist nun fast ein halbes Jahr her. Der Vorwurf des BSW: Die Abgeordneten verzögerten die Entscheidung, sie hätten kein Interesse an einer Neuauszählung.
Tatsächlich ist es eine merkwürdige Situation: Die Abgeordneten entscheiden auch über ihr eigenes Schicksal. Sollte der Ausschuss die Neuauszählung empfehlen und wird diese Entscheidung von einer Mehrheit im Plenum bestätigt, muss neu ausgezählt werden.
Stimmen die Abgeordneten aber gegen die Neuauszählung, hat das BSW angekündigt, wieder nach Karlsruhe zu ziehen. Würde dann das Verfassungsgericht doch noch eine Neuauszählung anordnen, wäre der Schaden groß.
Die hessische SPD-Abgeordnete Esther Dilcher ist eine der wenigen im Wahlprüfungsausschuss, die sich öffentlich äußert. Zum Stand der Beschwerde des BSW will sie nichts sagen, aber sie verteidigt der taz gegenüber die Arbeit des Ausschusses. „Uns Untätigkeit vorzuwerfen, ist ungerecht“, sagt sie. Alle Seiten bräuchten ausreichend Zeit, um Stellung zu nehmen, auch das BSW. „Wenn man es ordentlich macht, braucht es Zeit.“
Dazu passt, dass das BSW selbst erst Ende Oktober weitere Unterlagen beim Ausschuss eingereicht hat, um die Forderung nach Neuauszählung zu untermauern. Zum Vorwurf der Verschleppung will das nicht recht passen.
Dilcher saß bereits im Ausschuss, als die Bundestagswahl 2021 in einigen Berliner Wahllokalen wiederholt werden musste. Auch diese Entscheidung habe Zeit gebraucht, damit sie im Zweifelsfall vor dem Verfassungsgericht Bestand habe. „Nur weil dem BSW das nicht schmeckt, können wir das nicht verkürzen“, sagt Dilcher. Man treffe eine Entscheidung, „nachdem wir die rechtlichen Voraussetzungen und die konkret vorgetragenen Tatsachen geprüft haben.“
„Zweifel an Wahlergebnissen stärken die Verschwörungstheoretiker“
In einem Punkt ist Dilcher selbstkritisch: Dass der Ausschuss sich erst kurz vor der Sommerpause konstituiert habe, sei spät gewesen. Den Vorwurf des BSW, die Abgeordneten seien nicht unabhängig, weist Dilcher aber zurück. „Es handelt sich nicht um eine politische Entscheidung.“ Niemand könne wollen, dass der Bundestag eine Entscheidung über eine Wahlbeschwerde treffe, die von Karlsruhe aufgehoben werde.
Uwe Wagschal, Politologe
„Selbst wenn Karlsruhe die Prüfung sofort nach der Wahl übernehmen würde, würden sie dort genauso intensiv prüfen.“ Schneller entschieden würde dann auch nicht.
Dilcher und die anderen Mitglieder des Ausschusses werden in diesen Tagen mit Nachrichten gleichen Inhalts überschüttet. Das BSW hat auf seiner Website die Fotos der Ausschussmitglieder und eine Mailvorlage veröffentlicht. Dilcher hat Verständnis, dass für die Partei alles auf dem Spiel steht. Bei einem Telefongespräch habe ihr die Vorsitzende Mohamed Ali geschildert, mit welchem Aufwand das BSW die Einsprüche vorbereitet hat.
Und auch der taz gegenüber verteidigt Mohamed Ali die Mailkampagne: „Organisationen wie Campact oder Greenpeace machen so etwas sehr häufig“, sagt sie, das knappe Ergebnis treibe eben viele um. Den Vorwurf, mit der Kritik am Wahlprüfungsausschuss das Vertrauen in demokratische Prozesse zu untergraben, weist sie zurück: „Es liegt in der Hand derer, die über die Neuauszählung entscheiden, Verschwörungstheorien vorzubeugen.“
Aber wie stichhaltig sind überhaupt die Gründe, die das BSW für eine Neuauszählung vorbringt?
„Ich wundere mich, dass es so still ist“, sagt Uwe Wagschal der taz. Er ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität Freiburg und hat das amtliche Endergebnis der Bundestagswahl analysiert.
Wagschal plädiert dafür, die Wahl neu auszählen zu lassen. „Es ist nicht gesagt, dass das BSW dann in den Bundestag einzieht. Aber es ist einfach sehr knapp.“ Wagschal hat eine solche Häufung von Unregelmäßigkeiten festgestellt, dass er eine Neuauszählung für nötig hält, um das Vertrauen in den demokratischen Prozess zu stärken. „Zweifel an Wahlergebnissen stärken die Verschwörungstheoretiker, das können wir uns nicht erlauben. Egal, um welche Partei es geht.“
Der Politikwissenschaftler hat bei seiner Analyse mehrere Auffälligkeiten erkannt, bei denen Fehler zu Lasten des BSW passiert sein könnten.
Da ist einmal die Verwechslung mit dem Bündnis Deutschland (BD), einer rechtsliberalen Kleinstpartei. So gibt es etwa ein Wahllokal in Wedel bei Hamburg, in dem die Kleinstpartei über 30 Stimmen und das BSW keine einzige bekam, obwohl das BSW bundesweit 30-mal so stark wurde. Im Wahllokal nebenan bekam das BSW über 40 Stimmen und das BD nur eine. Es liegt nahe, dass die Stimmen falsch zugeordnet wurden.
Wagschal hat errechnet, dass der Partei so über 800 Stimmen verloren gegangen sein könnten – „das würde das BSW nicht retten“. Doch es wäre denkbar, dass Stimmen nicht immer stapelweise falsch gezählt wurden wie womöglich in Wedel, sondern anderswo einzelne Stimmen für das BSW fälschlich der Kleinstpartei zugeschlagen wurden. Das ließe sich nicht am Endergebnis ablesen, sondern nur durch eine Neuauszählung klären.
Unklarheiten beim Endergebnis
Erstaunlich ist auch der Unterschied zwischen dem vorläufigen und dem amtlichen Endergebnis. Das BSW erhielt am Ende etwa 4.500 Stimmen mehr – aber es ist nicht nachvollziehbar, wie der Unterschied zustande kommt. Wagschal fordert, dass auch das vorläufige Ergebnis detailliert bis aufs einzelne Wahllokal veröffentlicht wird. Dann ließe sich nachvollziehen, wo Ergebnisse korrigiert wurden und wo sich eine Neuauszählung anbieten würde. „Man könnte das ohne Weiteres machen. Die Daten liegen vor, aber die Bundeswahlleiterin veröffentlicht sie nicht.“
50 Wahllokale wurden bundesweit bereits neu ausgezählt, nicht wegen des BSW-Einspruchs, sondern aus unterschiedlichen Gründen. Dabei erhielt das BSW 15 Stimmen mehr. Die Partei rechnet das hoch und kommt auf 30.000 zusätzliche Stimmen – das würde reichen für den Einzug in den Bundestag. „Diese Hochrechnung ist statistisch nicht seriös“, sagt Wagschal, solange man nicht wisse, wie repräsentativ diese 50 Wahllokale sind. Er fordert Transparenz. „Die Stellungnahmen der Landeswahlleiter sind teilweise nicht überzeugend.“
Zudem könnte es sein, dass Wahlhelfer mit wenig Erfahrung gültige Stimmen für das BSW als ungültig gezählt hätten. So trat das BSW in den meisten Wahlkreisen ohne Direktkandidat an. Wahlzettel sind aber gültig, auch wenn nur eine Zweitstimme abgegeben wurde. Ebenso ist ein Wahlzettel gültig, wenn ein Wähler in der Kabine erst eine Partei ankreuzt, etwa das Bündnis Deutschland, und dies dann durchstreicht, um das BSW zu wählen.
Wie kann man verhindern, dass nach der nächsten Wahl wieder so um das Ergebnis gestritten wird? Wagschal hat eine Idee: Digitalisierung. Er schlägt vor, alle Wahlzettel nach dem händischen Auszählen zu scannen. „Wir geben so viel Geld für Quatsch aus, die wichtigste Wahl des Landes sollte uns das wert sein“, so Wagschal. So ginge die Neuauszählung schnell. Dass der Bundestag sie beschließt, glaubt er jedoch nicht: „Ich wette dagegen!“, sagt er. Die Abgeordneten hätten kein Interesse daran.
Amira Mohamed Ali hofft, dass der Politikwissenschaftler unrecht hat. „Es sind einfach zu viele Fragen offen“, sagt sie. Sie verweist auf die Stichwahl in Mülheim: Dort wurde die Wahl zum Oberbürgermeister neu ausgezählt, die Kandidaten lagen 0,4 Prozentpunkte auseinander. Dem BSW fehlten 0,019 Prozentpunkte für den Einzug ins Parlament.
Was Mohamed Ali dabei nicht erwähnt: In Mülheim bestätigte die Neuauszählung das Ergebnis.
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