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Evakuierung ukrainischer KinderheimeZurück nach Hause?

Viele ukrainische Heime wurden ins Ausland evakuiert, wo Kinder mit Behinderung besser versorgt werden. Doch was, wenn die Ukraine sie zurückwill?

Vor drei Jahren sind die Bewohner des „Hauses Dominikus“ aus der Ukraine gekommen Foto: Mitya Churikov

Im „Haus Dominikus“ im beschaulichen Ursberg bei Augsburg leben 78 Kinder und junge Erwachsene mit schweren Behinderungen. Vor drei Jahren sind sie aus der Ukraine hierhergekommen. Manche von ihnen sind bettlägerig oder sitzen im Rollstuhl, andere rennen trotz körperlicher Einschränkungen durch die Flure. Den Besuch der taz begrüßen sie aufgeregt und freudig und präsentieren stolz ihre selbstgemalten Bilder.

Vor drei Jahren, bevor sie hierher evakuiert wurden, lebten diese Kinder noch im Krieg. Heimleiterin Viktoriia Putina, die zugleich Vormund für die jungen Menschen ist, berichtet der taz von den schlimmen Erfahrungen Anfang 2022: Während der ständigen russischen Luftangriffe musste sie die Schwerbehinderten in den engen Kellerraum ihres Internats in Krywyj Rih bringen, gemeinsam mit dem wenigen Personal. Einen richtigen Luftschutzkeller gab es nicht. „Diese Schreie, für sie war es ein enormer Stress, das kann ich Ihnen nicht wiedergeben,“ erinnert sie sich.

Das katholische Dominikus-Ringeisen-Werk, benannt nach dem Geistlichen, der in Ursberg bereits 1884 eine Fürsorgeeinrichtung gründete, beschloss die „Klienten“ aus der Ukraine aufzunehmen. So nennt man hier die jungen Menschen respektvoll. Sie leben in sechs Wohngruppen und werden von 86 Mitarbeitenden versorgt, von denen fast alle Ukrai­ne­r:in­nen sind.

Wenn der deutsche stellvertretende Leiter des Hauses Dominikus, Markus Keisinger, ausgebildeter Heilerziehungspfleger und Sozialarbeiter, den Kindern und Jugendlichen begegnet, sie umarmt und mit ihnen spricht, spürt man, dass sein Job für ihn eine Berufung ist. Ihm liegt etwas daran, dass sich die „Klienten“ bestmöglich entfalten können. Dabei helfen die intensive Pflege, die gute medizinische Versorgung und auch die im Sanitätshaus nebenan maßangefertigten Rollstühle.

Vierzehn der Jugendlichen besuchen mittlerweile die Schule, neun arbeiten in Werkstätten, im Berufsbildungsbereich oder absolvieren ein Praktikum. Viele sprechen fließend Deutsch. „Sie haben sich gut eingelebt“, sagt Putina. In der Ukraine seien die jungen Menschen alle als geschäftsunfähig eingestuft und nicht beschult worden, aber die Erfahrung zeige, dass viele sehr wohl lernen und arbeiten können. Von früher 25 seien nur noch 13 „Klienten“ bettlägerig, und auch bei ihnen bessere sich der Zustand.

Vierzehn der Jugendlichen besuchen die Schule, neun arbeiten in Werkstätten, im Berufsbildungsbereich oder machen ein Praktikum Foto: Mitya Churikov

Versorgung und Lebensqualität

Wenn der Krieg endet und die nötige Infrastruktur in der Ukraine wiederhergestellt ist, werden die jungen Menschen wieder in die Ukraine zurückkehren. Das hat das Dominikus-Ringeisen-Werk mit den ukrainischen Behörden vereinbart. Doch dort wären ihre Versorgung und ihre Lebensqualität wesentlich schlechter.

Das Haus in Ursberg ist nur ein Beispiel von vielen. Zu Beginn des Krieges wurden zahlreiche Kinderheime aus der Ukraine in EU-Länder evakuiert. Eines wurde im Juni auf Wunsch der ukrainischen Behörden aus Österreich in die zentralukrainische Region Kirowohrad zurückgeholt.

Die Kinder aus dem Regionalen Zentrum für medizinische Rehabilitation und Palliativpflege in Kropywnyzkyj waren im März 2022 nach Burgauberg-Neudauberg im Burgenland gebracht worden. Zwei Drittel von ihnen weisen eine Behinderung auf. Dort lebten sie über drei Jahre in einem vom Verein „Kleine Herzen“ organisierten Hotel und wurden von ukrainischem Personal gepflegt.

Die Gründerin und Vorsitzende von „Kleine Herzen“, Pascale Vayer. schildert, was aus ihrer Sicht passierte: Als sie sich 2023 gegen die Rückführung einzelner Kinder zwecks Adoptionen in die Ukraine aussprach, schickten die ukrainischen Behörden im Folgejahr zwei Kommissionen. Sie hätten gezielt nach Mängeln gesucht, um die Heimkehr aller Kinder zu begründen. „Sie haben versucht, das Schlimmste zu finden“, sagt sie. Wegen einer Gefährdung der Kinderrechte durch die Rückkehr in ein Kriegsland sprach sich „Kleine Herzen“ gegen eine Rückführung aus.

Die ukrainischen Behörden entschieden sich dennoch dafür, da Pflege- und Adoptivfamilien für einige der insgesamt 52 zurückgeholten Kinder gefunden wurden. Nach Angaben der stellvertretenden Leiterin der Gebietsverwaltung, Kateryna Koltunowa, sei die Rückkehr mit dem Außenministerium, dem Ministerium für Sozialpolitik, Familie und Einheit der Ukraine und der staatlichen Kinderschutzbehörde abgestimmt worden. Ausschlaggebend sei das Ziel gewesen, den Kindern familiäre Geborgenheit zu ermöglichen. Die Sicherheitslage in der Region gelte inzwischen als stabil. Allerdings kam es jüngst auch dort zu massiven Luftangriffen. Die Lage ist unberechenbar.

Das Wohl des Kindes

Im beschaulichen Ursberg bei Augsburg liegt das „Haus Dominikus“ Foto: Mitya Churikov

In Kropywnyzkyj hat das Kinderheim keinen Aufzug. Acht Kinder können nicht selbstständig gehen, sie werden bei Luftalarmen von Betreuern getragen. Vayer berichtet: Als sie im vergangenen Monat ihre ehemaligen Schützlinge dort besuchte, habe es jeden Tag Luftalarm gegeben. Deshalb finanziere „Kleine Herzen“ nun einen Aufzug.

Der US-amerikanische Kinderpsychologe Neil Boothby hat sich auf Kriegssituationen spezialisiert. Er antwortet auf Bitte der taz nach seiner Einschätzung: „Was Sie beschreiben, kommt leider recht häufig vor – Regierungen entscheiden, was zu tun ist, anstatt das Wohl des Kindes zu berücksichtigen.“

Freilich könne er den konkreten Fall aus der Ferne nicht beurteilen und der Umzug in eine Pflegefamilie im Heimatland könne vorteilhaft sein. Das gelte aber nicht, wenn die Trennung wichtige Beziehungen zerstöre. „Denn je öfter Beziehungsbindungen zerbrechen, desto zerbrechlicher werden Kinder in der Regel.“ Vayer schildert, dass bei ihrem Besuch zwei Kinder sie gefragt hätten, wann sie endlich nach Hause fahren würden.

Boothby verweist auch darauf, dass man aus psychologischer Sicht die Kinder selbst befragen müsse. Untersuchungen zeigten, dass Kinder über 13 Jahren Entscheidungen in ihrem eigenen Interesse treffen können, wenn sie gut informiert werden. „Und auch Kinder zwischen 7 bis 13 Jahren können gute Entscheidungen treffen, wenn ein Ombudsmann anwesend ist, der sicherstellt, dass sie die Fakten und Optionen verstehen“, so Boothby. Das sei im Fall des Kinderheims nicht passiert, bestätigt Vayer.

Eine an das ukrainische Ministerium für Sozialpolitik, Familie und Einheit der Ukraine gerichtete Nachfrage der taz, auf welcher Basis die Entscheidung getroffen wurde und inwiefern dabei das Kindeswohl Berücksichtigung fand, blieb bislang unbeantwortet. Auch das Kinderheim in Kropywnyzkyj reagierte nicht.

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