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Nachruf auf Micha BrumlikEin Linker mit präzisen, tiefenscharfen Analysen

Wie nur wenige verstand Micha Brumlik es, Tagespolitisches mit theoretischen Reflexionen zu verbinden. Zum Tod des jüdisch-deutschen Intellektuellen.

Seine wahre Heimat war die jüdische, aufklärerische Geistesgeschichte: Micha Brumlik starb am Dienstag mit 78 Jahren Foto: Stefan Boness

In einem seiner späten Texte für die taz, veröffentlicht Weihnachten 2021, betrieb Micha Brumlik Bibelexegese mit aufklärischem Impuls. Dass die Jesusgeschichte von Flucht und Vertreibung handelt, ist bekannt. Aber sie beerbt, so Brumliks Hinweis, die rund 3.000 Jahre alten alttestamentlichen Narrative von Abraham und Moses, die „von Missbrauch und Ausbeutung der Flüchtlinge erzählen“.

Als Kronzeugen tauchen in diesem kurzen Text nicht zufällig Hannah Arendt und der Soziologe Georg Simmel, beide jüdischer Abstammung, auf. Für Brumlik, selbst jüdischer Deutscher, war das Gefühl des Fremdseins existenziell. Daraus leitete er die Überzeugung ab, dass das Judentum der Aufklärung und dem Universalismus verpflichtet sei. „Unser heutiges Europa sollte ein Kontinent der Ankunft, der Gastfreundschaft für die Fremden werden“, schloss er seinen wenig besinnlichen Weihnachtstext.

Brumlik, 1947 in der Schweiz als Sohn von Hitler vertriebener jüdischer Deutscher geboren, war ein 68er und undogmatischer Linker in Frankfurt. Anders als Joschka Fischer blieb er allerdings immun gegen die Verlockungen der Militanz. Universell gebildet, beherrschte er die Religionswissenschaft ebenso souverän wie die Kritische Theorie und den Marxismus. Er gehörte zur Post-68er-Szene, unterstützte das Sozialistische Büro und saß für die Grünen im Frankfurter Stadtparlament. Ein linker Bürger – doch mit einem weiteren Horizont als die erst linksradikale, später grüne Szene.

Ein Fixpunkt war das wechselvolle Verhältnis zu Israel. 1967, mit 19 Jahren, ging er nach Israel, kehrte jedoch nach dem Sechstagekrieg und der Besetzung des Westjordanlands als Antizionist zurück. Texte für das Frankfurter Sponti-Stadtmagazin Pflasterstrand versah er auch mal mit dem Slogan „Solidarität mit der PLO“. In den 1980er Jahren änderte er seine Haltung, auch wegen antisemitischer Untertöne im Antizionismus des deutschen Linksradikalismus.

Micha Brumlik und die taz

Micha Brumlik war Erziehungswissenschaftler, Publizist und seit 1987 auch pointierter taz-Autor. Aus Anlass seines Todes präsentieren wir unter taz.de/MichaBrumlik folgende Auswahl seiner Texte:

Der russische Faschist Alexander Dugin: Der Philosoph hinter Putin (2022) Brumliks viel gelesener Text über den russischen Fasschismus

Kolumne Gott und die Welt: Frühling, Zeit für Adorno (2017) Eine von Brumliks regelmäßig für die taz-Kultur-Seiten geschriebene Kolumne, hier über Adorno und den Frühling.

Kolumne Gott und die Welt: Was nach dem Scheitern (2015) Eine weitere Kolumne von Brumlik darüber, wie jüdisch '68 und der Pariser Mai waren. Das ist auch seine eigene Prägung und Geschichte.

Asylrechtsdebatte und der Anschlag in Mölln: Schreibtischtäter (1992) Politiker aller Parteien, die die Asyldebatte führten und führen, sind für die drei Toten von Mölln mitverantwortlich, so wie die Bild verantworlich für den Tod von Rudi Dutschke war, schrieb Brumlik in diesem wütenden Kommentar nach dem rassistischen Brandanschlag mit 6 Toten.

Asylrechtsdebatte 1992: Laßt uns mit Anstand von der Bühne deutscher Nachkriegsgeschichte gehen (1992) Ein wütender Gastkommentar in der Asylrechtsdebatte 1992, in dem er die zerstrittetenen bundesdeutschen Intelektuellen zum gemeinsamen Protest ruft.

Fassbinders „Der Müll, die Stadt und der Tod“: Krankfurt–Ballade in Manhattan (1987) In seinem allerersten Text für die taz schrieb Brumlik über das gerade in New York uraufgeführte Theaterstrück des Regisseurs Fassbinder.

Unterschwelligen Antisemitismus erlebte er selbst, bei einer Demo im Frankfurter Häuserkampf in den 70er Jahren, die sich auch gegen jüdische Kaufleute richtete. Damals legte ein späterer Linkspartei- (und heute Ex-)Genosse tröstend den Arm um seinen Hals und sagte: „Ach, Micha, du bist doch ganz anders als die ganzen anderen Juden.“

Die Verwandlung der Grünen kommentierte er spöttisch

1991, als der Irak Scud-Raketen auf Israel abfeuerte, lehnte die damals noch pazifistische Grünen-Spitze die Lieferung von Anti-Scud-Raketen an Israel ab. Brumlik trat aus Protest gegen die wenig geschichtsbewusste Haltung der Partei aus.

Er blieb, anders als manche Weggefährten, in Gerechtigkeitsfragen immer ein Linker. Die Verwandlung der Grünen von einer aufrührerischen linken Organisation in eine brave liberale Staatspartei kommentierte er mit Spott. Allerdings ohne jene säuerliche Bitterkeit, mit der manche Enttäuschte den Weg der Grünen in die Mitte bedachten.

Brumlik, von Berufs wegen Professor für Erziehungswissenschaften, kam dem nahe, was Antonio Gramsci einen organischen Intellektuellen genannt hatte – allerdings ohne die marxistische Fortschrittsteleologie. Sein Aktionsradius reichte weit über das Universitäre hinaus. Er engagierte sich in Frankfurt dafür, die jüdische Tradition zu bewahren und Reste des Ghettos am Börneplatz nicht unter Neubauten verschwinden zu lassen. 2000 wurde er in Frankfurt Direktor des Fritz-Bauer-Instituts, das ein Thinktank für die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit wurde.

Vor allem verstand Brumlik es wie wenig andere, tagespolitische Intervention mit scharfsinnigen theoretischen Reflexionen zu verbinden. Er prüfte sie stets an den Prinzipien der Aufklärung und der jüdischen Denktradition.

Früh kritisierte er Netanjahus Israel

Universalismus war für ihn unverhandelbar. Früh sah er die problematische Entwicklung Israels unter Netanjahu, der 2014 Israel zum „Staat des jüdischen Volkes“ erklärte. Brumlik erkannte er darin die Verwandlung des zionistischen Staates in eine Ethnokratie, in der die ethnische Diskriminierung letztlich das demokratische Grundprinzip der Gleichheit zerstört.

Eine Kundgebung in Frankfurt gegen die Überbauung des alten Judenghettos in Frankfurt im August 1987. Am Mikrofon: Micha Brumlik Foto: Abisag Tüllmann/bpk

Die bohrende Frage lautet, ob Israel definiert als jüdischer Staat eine Demokratie bleiben kann. Dieser Prozess, so Brumliks Prognose, würde die jüdische Diaspora von Israel entfremden.

Brumlik warnte auch vor einer Verengung des Meinungskorridors in Deutschland in Sachen Israel. In dem Anti-BDS-Beschluss des Bundestages 2019 erkannte er, der präzise, tiefenscharfe Analysen auch mal mit ad hoc einleuchtenden Buzz-Worten zu plausibilisieren verstand, einen heraufdämmernden „McCarthyismus“– eine deutsche Variante jener berüchtigten, antiliberalen Hetzjagd auf Kommunisten in den USA der 50er Jahre.

2021 war er Mitverfasser der „Jerusalem Declaration on Antisemitism“, die anders als die gängige Definition der IHRA (International Holocaust Remembrence Association), den Antisemitismus-Begriff vor Instrumentalisierungen durch die israelische Regierung schützen sollte.

Publizistisches Gespür für das, was sich anbahnt

Das Wort Vordenker ist wahrscheinlich zu Recht in Vergessenheit geraten. Allzu oft schmückt es Trendintellektuelle, die vor allem die Klaviatur der Aufmerksamkeitsökonomie beherrschen. Wohl verstanden bezeichnet das Wort die Fähigkeit, etwas zu begreifen und auf den Begriff zu bringen, was andere erst dunkel ahnen. Brumlik verband das publizistische Gespür für das, was sich anbahnt, mit enzyklopädischer Kenntnis intellektueller Traditionslinien von der Tora bis zu Adorno.

Mit Israel verband ihn kritische Solidarität. Er war ein deutscher Linker, ein jüdischer Deutscher und ein Bürger Frankfurts. Doch seine wahre Heimat war die jüdische, aufklärerische Geistesgeschichte.

Micha Brumlik ist am Dienstag mit 78 Jahren nach langer Krankheit gestorben.

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5 Kommentare

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  • Möge es ihm gutgehen, wo und in welcher Form auch immer er jetzt sein mag...

  • Von Micha Brumlik hab ich alles was er tagesaktuell geschrieben hat, immer wenn ich es mitbekommen habe, seit Jahrzehnten gelesen: immer schlau, belesen, pointiert, links undogmatisch und und und.... was auch immer der Adjektive noch mehr sind. Ich habe ihn mir immer als freundlichen Menschen vorgestellt. Jetzt besorge ich mir ein langes Buch von ihm, am besten zu linkem Antisemitismus und lese es (auch wenn ich nicht alles kapieren sollte: sicher mit Gewinn!). Danke Micha Brumlik.

  • Danke …anschließe mich - האָבן אַ גוט יאַזדע -

    Gute Reise hobn a gut yazde Micha Brumlik

  • Micha Brumlik war ein Aufklärer im allerbesten Sinne. Ich habe seine Texte in der taz immer gern und mit großem Gewinn gelesen.



    Möge er in Frieden ruhen, und möge die Nachwelt sich von ihm weiterhin inspirieren lassen.

  • ... diese Menschen sind sehr selten geworden.



    Ein großer Verlust für die undogmatischen, selbstreflektierenden Kollegen — egal ob links oder rechts verortet. Schade.