Geschichte der Queerfeindlichkeit: Alter Hass im neuen Gewand
Queer- und transfeindliche Rhetorik ist heute allgegenwärtig. Das ist nicht überraschend, denn auch früher flammte sie stets in Krisenzeiten auf.
Die AfD spricht von der „Trans Lobby“, von „Männern, die sich einbilden, Frauen zu sein“, setzt trans Menschen mit Pädophilen gleich und nennt sie „pervers“. In Großbritannien hat sich die „Harry Potter“-Autorin J. K. Rowling einen Namen als Terf (trans-exkludierende radikale Feministin) gemacht, indem sie gegen trans Menschen hetzt und pseudofeministische Frauengruppen finanziell unterstützt.
Sie erreichten mit einer Klage, dass der britische Oberste Gerichtshof entschied, Geschlecht sei binär und Frauen nach dem „biologischen Geschlecht“ zu bestimmen. In den USA betont Trump, es gebe nur zwei Geschlechter, und will per Dekret trans Menschen vom Frauensport ausschließen. In Russland wurde die „internationale LGBT-Bewegung“ zu einer „extremistischen Organisation“ erklärt.
„In Zeiten nationaler und globaler Krisen werden sexuelle und ethnische Minderheiten häufig zum Sündenbock instrumentalisiert und für gesellschaftliche Probleme verantwortlich gemacht“, sagt die kanadische Historikerin Dr. Jennifer Evans. Sie forscht zu zeitgenössischer deutscher und europäischer Geschichte mit Schwerpunkt auf Sexualität und Geschlecht. Marginalisierte Gruppen würden als Erklärung herangezogen, wenn Gesellschaften Antworten auf Krisen suchten.
Wenn marginalisierte Personen Rechte oder Privilegien errungen hätten, erlebten soziale Bewegungen zudem oft eine Gegenreaktion. „Je größer die Sichtbarkeit, desto größer die Spannung“, erklärt Evans. Als Beispiel nennt sie den schwulen jüdischen Sexualforscher Magnus Hirschfeld, der in den 1920er Jahren das Institut für Sexualwissenschaften in Berlin gründete und große Fortschritte erreichte, bevor die Nationalsozialisten seine Arbeit zerstörten und ihn ins Exil trieben.
Kampf ist nie vorbei
Hirschfeld stand kurz davor, mit seinem Anliegen, den Paragrafen 175 abzuschaffen, erfolgreich zu sein. Der stellte bis 1994 sexuelle Handlungen zwischen Personen männlichen Geschlechts unter Strafe. Hirschfeld hinterfragte die Binarität von Geschlecht und setzte sich für die Akzeptanz von trans Menschen ein. „Genau in dieser Phase der Sichtbarkeit begannen die Nazis, diese Errungenschaften wieder zu untergraben“, so Evans. „Wenn wir glauben, alles erreicht zu haben, merken wir, dass der Kampf nie wirklich vorbei ist.“
Unter der Merz-Regierung wird, anders als in den Vorjahren, die Pride-Flagge nicht mehr am Bundestag gehisst. Die Beschäftigten der Bundestagsverwaltung dürfen nicht als Teil ihres queeren Netzwerks am CSD teilnehmen. „Und das zu einer Zeit, in der wir an Universitäten eine starke Repräsentation von Frauen und Minderheiten erleben“, sagt Evans.
Transfeindliche Sprache und Narrative verbreiten sich besonders schnell in den sozialen Medien. Schlagworte sind dabei „Gender-Indoktrination“ oder „Gender-Ideologie“, also die Annahme, dass LGBTIQ* ihre Ansichten über Geschlecht und Sexualität der Mehrheitsgesellschaft aufzwingen würden, oder die Behauptung, dass Kinder vor trans Menschen „geschützt“ werden müssten.
Erst kürzlich hatte die AfD einen Antrag gestellt, das Selbstbestimmungsgesetz, dass es trans, intergeschlechtlichen und nichtbinären Personen erleichtert, ihren Geschlechtseintrag ändern zu lassen, wieder abzuschaffen. Bei der Sitzung fragte die AfD-Politikerin Birgit Bessin: „Wie steht es eigentlich um das Thema Pädophilie?“
Evans stellt klar: „Die pauschale Annahme, dass trans Menschen Kinder gefährden oder indoktrinieren würden, ist nicht mehr als ein Schreckgespenst – allerdings ein mächtiges, das emotionalisiert.“
Wut steigert Interaktionen
„Queerfeindliche Rhetorik wird oft mit dem Schutz von Kindern gerechtfertigt, um eine ‚moralische Panik‘ auszulösen“, sagt Lisa Gaufman, die zu politischer Theorie, internationalen Beziehungen und Medien forscht. In der Politikwissenschaft spricht man von „Securitization“, also der Darstellung eines Themas als Bedrohung, um politische Maßnahmen zu legitimieren.
„Wird etwas als Gefahr für Kinder dargestellt, erzeugt das besonders starke emotionale Reaktionen und Zustimmung in der Bevölkerung.“ Diese Strategie funktioniert in Sozialen Medien besonders gut: Wut steigert Interaktionen und wird von Algorithmen bevorzugt, weil sie Aufmerksamkeit und somit Profit generiert.
Laut Gaufman spielt Wut auch in Desinformationskampagnen eine zentrale Rolle. Aktuell arbeitet sie an dem von der EU geförderten Projekt „De-Conspirator“, das ausländische Einflussnahme durch Desinformation untersucht. Politische Akteur*innen nutzen diese als Instrument moderner Kriegsführung, um öffentliche Diskurse gezielt zu manipulieren und Spaltung sowie Polarisierung zu erreichen.
Dafür werden unter anderem queere Menschen instrumentalisiert. Ein Beispiel ist Russland, das laut einer Princeton-Studie von 2024 führend bei internationalen Online-Desinformationskampagnen ist. Eine solche Kampagne zielte etwa auf die EU, um Russlands Angriffskrieg auf die Ukraine zu rechtfertigen und Zustimmung für den Kreml zu erzeugen.
Ein zentrales Propagandaargument des Kremls: Europa sei „verweichlicht“, „gay“ und „moralisch verfallen“, da es LGBTIQ* akzeptiere. Russland dagegen inszeniert sich als starkes, männlich-dominiertes Land, das „traditionelle Werte“ verteidige und Kinder schütze.
Der Angriffskrieg solle die Ukraine vor diesem Verfall retten. „In dieser Darstellung verkörpert Europa keine 'wahren Werte’, sondern ist von liberaler, dekadenter LGBTIQ*-Ideologie unterwandert und verliert seine kulturelle Identität“, sagt Gaufman. „Das knüpft an rechtsextreme Sichtweisen innerhalb Europas an, wo ebenfalls von einem Werteverfall die Rede ist.“
Ohne einheimische Akteure sei die Verbreitung solcher Desinformation in Europa aber kaum möglich. „Sie knüpfen an bereits vorhandene Erzählungen und Spannungen im jeweiligen Land an“, so Gaufman. Bei ihrer Forschung ist sie unter anderem auf die rechtsextremen Kleinstpartei der „Freien Sachsen“ gestoßen, die über Telegram rechtsradikale, fremdenfeindliche und queerfeindliche Inhalte teilt.
Letztes Jahr beteiligten sie sich an fünf Anti-CSD-Demonstrationen und mobilisierten dabei hunderte Neonazis. „Rechtsradikale Gruppen in Europa greifen gerne queerfeindliche Desinformation auf. Dabei befürworten sie auch die Anti-LGBTIQ*-Gesetze Russlands“, so Gaufman, „Russland gilt ihnen als Staat, in dem 'Frauen noch Frauen und Männer noch Männer sind’.“
Diskursverschiebung Richtung rechtes Denken
Evans betont: „Russland mag vielleicht besonders effektiv darin sein, queerfeindliches Gedankengut zu verbreiten, aber auch liberale Demokratien sind keine sicheren Zufluchtsorte – das sehen wir in Kanada, den USA und Deutschland.“ Hart erkämpfte Fortschritte könnten leicht wieder weggenommen werden.
„Es ist nicht selbstverständlich, dass queere und trans Menschen in Demokratien akzeptiert werden.“ Dass trans Personen heute weltweit am meisten von Desinformation und Diskriminierung betroffen sind, sieht Evans auch als Kehrseite eines grundsätzlich positiven Wandels: die zunehmende Sichtbarkeit von trans Personen im öffentlichen Raum.
In Zeiten sozialer Spannung wurde Geschlechtsnonkonformität historisch immer wieder als gefährlich oder bedrohlich angesehen. Im Zentrum stand nicht die Angst vor bestimmten Identitäten, sondern vor „überschrittenen“ Geschlechtergrenzen. „Die heutige Anti-Trans- oder Anti-Drag-Rhetorik kann als Fortsetzung dieser seit langem bestehenden Angst vor gender-crossing gesehen werden“, erklärt Evans. Sie sieht darin heute jedoch eine Diskursverschiebung, „ein allmähliches Einsickern rechter Denkweisen in die politische Mitte.“
Queere Geschichte müsse daher noch sichtbarer werden – in Schulen, Museen und Lehrbüchern. „Queer- und Trans-Geschichte ist Geschichte, kein Sonderthema“, sagt Evans. Mit zunehmendem politischen Druck, Budgetkürzungen sowie der aktuellen Sparpolitik werde das jedoch immer schwieriger.
Queere Institutionen, die diese Geschichte bewahren – wie der Sonntags-Club, das SchwuZ oder das Schwule Museum in Berlin –, haben aktuell damit zu kämpfen. Es müsse in der Mitte der Gesellschaft ankommen, dass trans Menschen schon immer Teil der Geschichte waren und es sich nie nur um eine „Modeerscheinung“ oder einen „woken Zeitgeist“ gehandelt habe.
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