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Ausreise aus Gaza„Um mich herum ist so viel Leben und in mir so viel Schmerz“

Unser Autor hat den Gazastreifen mithilfe eines Stipendiums verlassen. Die Reise dauerte Tage – und ein Teil von ihm blieb zurück.

Die Verwüstung der Stadt Rafah ist groß Foto: Jehad Alshrafi/ap

I n den herbstlichen Straßen Italiens fühlt sich das Wetter manchmal fast wie in Gaza an. Doch der Duft von heißer Schokolade trifft mein Herz und ruft eine Flut von Erinnerungen hoch: Wie die Kriegsmaschinerie mir und den anderen Bewohnern Gazas alles nahm, was sie liebten. Mein Herz rast jedes Mal, wenn ich hier in Italien etwas finde, das es in Gaza in den letzten beiden Jahren nicht gab.

Doch mein Herz, ob es rast oder nicht, ist eigentlich immer noch woanders: in Gaza.

So verließ ich den Gazastreifen: Um 20 Uhr, am 21. Oktober 2025, trat ich zum letzten Mal aus der Wohnung in Gaza-Stadt, die ich für teuer Geld angemietet hatte, und machte mich auf den Weg zum Sammelpunkt für alle, die einen Termin für die Ausreise aus Gaza hatten: dem Al-Aqsa-Krankenhaus in Deir al-Balah. Ich verabschiedete mich von meinen Freunden und wartete bis 3 Uhr morgens auf einen Bus, der uns aus Gaza hinausbringen sollte.

Als wir endlich einsteigen konnten, befahl uns die israelische Armee, vom Krankenhaus zum Unicef-Hauptquartier in der Nähe des Al-Baraka-Kreisverkehrs zu fahren. Wir kamen gegen 4:30 Uhr dort an und warteten auf die Genehmigung der Armee für die Weiterfahrt. Um 6:30 durften wir schließlich weiterfahren nach Chan Yunis. Von dort aus erreichten wir am Mittag des Folgetags den Grenzübergang Kerem Shalom.

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Verwüstung, größer, als Fotos jemals zeigen könnten

Als wir durch Chan Yunis und Rafah fuhren, sah ich die immense Verwüstung, größer, als Fotos jemals zeigen könnten.

Wir warteten zwei Stunden auf der Gaza-Seite des Grenzübergangs – es war nichts anderes als eine Machtdemonstration Israels. Schließlich wurden wir abgefertigt: von Kameras gescannt, durchsucht und überprüft. Jeder von uns hob auf Befehl die Hände, als würde er sich freiwillig ergeben. Wir wurden von einer Armee der Besatzung auf unserem eigenen Land durchsucht.

Nach stundenlangem Warten und Durchsuchen durften wir schließlich passieren. Wir fuhren zur König-Hussein-Brücke, wo wir um 16 Uhr ankamen. Dahinter beginnt Jordanien. Die israelische Armee hielt uns ohne Grund stundenlang am Kontrollpunkt auf – obwohl die italienische Botschaft unsere Durchfahrt bereits koordiniert hatte.

Unsere Gruppe bestand aus Menschen, die ein Visum für Italien bekommen hatten. Dazu gehöre ich, weil ich dort ein Studium beginne. Aber auch ein älterer Mann, der Gaza im Rahmen einer Familienzusammenführung mit seinem Sohn in Italien verließ. Er bat darum, die Toilette benutzen zu dürfen, aber die Soldaten lehnten dies ab. Nach einiger Zeit sagten sie uns, dass jeder, der auf die Toilette müsse, einfach hinter dem Bus gehen könne – auch die Frauen in der Gruppe.

Jedes Mal Angst

Nach Stunden fuhren die Busse endlich von der Brücke zum Passamt in Jordanien. Wir kamen am 22. Oktober 2025 gegen 20 Uhr an. Zwei Stunden später, nachdem unsere Pässe abgestempelt worden waren, fuhren wir zum italienischen Krankenhaus in Amman.

Viele Freunde, die ich vor Jahren bei einer Reise nach Jordanien kennengelernt hatte, warteten dort auf mich: Munir, Reev, Dina und einige andere, die ich jahrelang nicht gesehen hatte. Es fühlte sich an wie ein Traum. Dina berührte immer wieder meinen Arm, um sich zu vergewissern, dass ich real war. Reevs Augen konnten es nicht glauben, und Munir konnte nicht aufhören zu starren.

Um 14 Uhr bestiegen wir das Flugzeug nach Rom. Dann Umstieg nach Mailand und weiter mit dem Bus nach Turin. Martina und Tamara warteten dort auf mich – Freundinnen, die unermüdlich daran gearbeitet hatten, mich hierherzubringen. Sie zu sehen, war ein Hoffnungsschimmer – nach fünf Monaten der WhatsApp-Nachrichten. Insgesamt dauerte meine Reise drei Tage – eine Zeit voller Anspannung und Angst: Jedes Mal, wenn sich die Besatzungsarmee näherte, zog sich mein Herz zusammen, schließlich hatten wir alle gesehen, wie die Armee Menschen und Familien getötet hat.

Und nun bin ich in Italien und kann es kaum ertragen. Um mich herum ist so viel Leben. Und in mir so viel Schmerz.

Esam Hani Hajjaj (29) kommt aus Gaza-Stadt und ist Schriftsteller und Dozent für kreatives Schreiben für Kinder. Nach Kriegsausbruch musste er innerhalb des Gazastreifens mehrfach fliehen. Mit einem Universitätsstipendium konnte er jetzt nach Italien ausreisen, seine Familie blieb in Gaza zurück.

Internationale Jour­na­lis­t*in­nen können seit Beginn des Kriegs nicht in den Gazastreifen reisen und von dort berichten. Im „Gaza-Tagebuch“ holen wir Stimmen von vor Ort ein. Es erscheint meist auf den Auslandsseiten der taz.

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