Nahost-Konflikt auf dem Parteitag: Jetzt klären die Grünen den Gazakrieg
Der Grünen-Vorstand möchte auf dem Parteitag über Klima und Kommunen sprechen. Überstrahlt werden könnte das von einer verspäteten Nahost-Debatte.
Zwischen Israel und der Hamas herrscht seit Oktober immerhin eine fragile Waffenruhe, bei den Grünen geht die Nahost-Debatte aber erst jetzt richtig los. Zumindest diskutieren sie erstmals auf einem Parteitag ausführlich über den Gazakrieg: Auf der Bundesdelegiertenkonferenz Ende November in Hannover lässt der Bundesvorstand über einen Leitantrag zur grünen Außenpolitik abstimmen. Zu den Passagen, die sich um Israel und Palästina drehen, sind aus der Partei rund 100 Änderungsanträge eingegangen. Redebedarf ist von allen Seiten angemeldet.
Damit wird eine Debatte öffentlich, die bei den Grünen bislang überwiegend intern geführt wurde. Zu Zeiten der Ampel-Regierung war der eigene Nahost-Kurs – kritischer gegenüber Israel als die Koalitionspartner, aber weniger kritisch als viele EU-Partner – in der Partei zwar auch nicht unumstritten. Auf Parteitagsbühnen war das damals aber nur am Rande Thema.
Mögliche Gründe: Man wollte den eigenen Regierungsleuten nicht in den Rücken fallen und das Fass nicht im Bundestagswahlkampf aufmachen. Beides ist inzwischen hinfällig. Außerdem erreichte die Lage vor Ort zwischenzeitlich eine neue Eskalationsstufe, als im Frühjahr dieses Jahres ein temporärer Waffenstillstand endete, Israel die Kämpfe wieder aufnahm und Hilfslieferungen blockierte. Einhergehend damit wurde das Thema auch für viele Grüne dringlicher.
In den vergangenen Monaten hat der Bundesvorstand versucht, die Debatte in einer eigenen Kommission zu kanalisieren. Unter Leitung von Parteichefin Franziska Brantner kamen dort Grüne mit verschiedenen Positionen zusammen. Die Debattenkultur in der Arbeitsgruppe sei „hilfreich“ gewesen, sagt Brantner. Die Diskussionen zum Thema verliefen mittlerweile „in beide Richtungen respektvoller und empathischer“. Die Akteur*innen hätten mit der Zeit festgestellt, dass „die Bandbreite der Debatte doch begrenzter ist als viele dachten.“
Empathie mit den einen, Empathie mit den anderen
Andere Beteiligte beschreiben es ähnlich. Und trotzdem bleiben zahlreiche Punkte, die quer durch die Parteiflügel umstritten sind und auf dem Parteitag am Ende per Abstimmung entschieden werden könnten. Es fängt schon bei der Problembeschreibung an, und dort zum Teil bei semantischen Fragen:
■ Am 7. Oktober wurden „Kinder auf grausame Weise umgebracht“, heißt es zum Beispiel im Entwurf des Bundesvorstands über das Hamas-Massaker, das den Krieg auslöste. „Kinder wurden in ihren Betten auf grausame Weise umgebracht“, heißt es in einem Änderungsantrag, der zum Ziel hat, das israelische Leid in mehreren Punkten ausführlicher zu beschreiben. Unterschrieben ist er unter anderem vom ehemaligen Bundestagsabgeordneten Volker Beck, der heute Präsident der Deutsch-Israelischen Gesellschaft ist. Er unterstützt auch eine Reihe anderer Änderungsanträge. „Bei aller Empathie für die Opfer dieses Krieges in Gaza darf nicht vergessen werden, dass dieser Krieg seine Ursache im genozidalen Massaker der Hamas und der andauernden Geiseilnahme hatte“, sagt Beck zu seinem Kernanliegen in der Debatte.
■ Einer anderen Gruppe reicht es dagegen nicht aus, dass im Leitantrag die Toten, Verletzten und zerstörten Gebäude in Gaza beziffert werden. Sie will unter anderem detaillierter aufführen, dass „mehr als 20.000 Kinder […] getötet, viele mehr schwer verwundet und verstümmelt“ wurden. Außerdem sollen die palästinensischen Opfer direkt nach den israelischen benannt werden, nicht wie vom Vorstand geplant erst zwei Absätze später. Ein Versuch, „die Beschreibung der Situation in Nahost ausgewogener zu gestalten“, wie es in der Begründung heißt. Formuliert hat den Antrag die Europa-Abgeordnete Hannah Neumann.
Antisemitismus, Staatsräson und Genozid
Auch an anderen Stellen ringt die Partei um die Beschreibung der Problemlage und der eigenen Grundsätze:
■ Entschlossenheit gegen „den zunehmenden Antisemitismus“ in Deutschland fordert der Leitantrag. Ex-Parteichef Omid Nouripour beantragt mehr Präzision und will von Antisemitismus „von Rechten, von Islamisten oder von Linken“ sprechen, während die Bundestagsabgeordnete Marlene Schönberger den „stets vorhandenen Antisemitismus der sogenannten Mitte“ nach vorne stellen möchte. Wieder andere wollen den „Schutz muslimischen Lebens“ neben den „Schutz jüdischen Lebens“ stellen.
■ Der Bundesvorstand hält wörtlich an der deutschen „Staatsräson“ fest. Für Volker Beck und andere darf der Begriff darüber hinaus „keine leere Worthülse sein“, während der Kreisverband Friedrichshain-Kreuzberg ihn streichen möchte: Das Wort helfe „aufgrund seiner Vieldeutigkeit nicht, Antworten auf aktuelle Herausforderungen“ zu finden.
■ Vor allem von Berliner Grünen unterschrieben ist auch der Antrag, die israelische Kriegsführung als „anhaltenden Genozid“ zu benennen. Prominente Unterstützer*innen hat er aber nicht, die Erfolgsaussichten sind wohl begrenzt. Auf der anderen Seite gibt es einen Antrag, den Hamas-Angriff vom 7. Oktober als „genozidal“ zu bezeichnen.
Trittin und Co für „unverzügliche“ Anerkennung
Vor allem ist sich die Partei aber nicht einig über die konkreten Konsequenzen für die deutsche Nahost-Politik:
■ „Unser Ziel bleibt eine verhandelte Zweistaatenlösung“, schreibt der Bundesvorstand, ohne einen Zeitpunkt zu nennen. Gleich mehrere Anträge, unterstützt von verschiedenen Abgeordneten und Urgestein Jürgen Trittin, fordern die Anerkennung „jetzt“ beziehungsweise „unverzüglich“. Andere wollen vorher „die Voraussetzungen für echte Staatlichkeit“ schaffen.
■ Sollte die Netanjahu-Regierung den aktuellen Friedensplan nicht umsetzen, könnte sich der Grünen-Vorstand die „partielle Aussetzungen“ des EU-Assoziierungsabkommens mit Israel vorstellen. Ein Änderungsantrag erwägt dagegen auch die „vollständige“ Aussetzung. Wieder andere wollen vom Abkommen gar nicht sprechen und die EU nur auffordern, „wo nötig Druck auf die Beteiligten“ des Konflikts zu machen.
■ Und Waffenexporte an Israel? Der Bundesvorstand findet den Regierungskurs der letzten Monate richtig: Keine Waffen, die „völkerrechtswidrig eingesetzt werden können“ – andere Rüstungsgüter schon. Ein Antrag fordert dagegen, gar keine Rüstungsexporte mehr zu genehmigen, und ein weiterer, dass die Bundesregierung die bisherigen Auflagen „wirksam überprüft“. Wieder ein anderer will festschreiben, dass „zu Recht keine Lieferungen erfolgen, die völkerrechtswidrig eingesetzt werden könnten“ – ohne dabei speziell Israel zu benennen. Nach der Ankündigung der Bundesregierung vom Montag, den teilweisen Exportstopp aufzuheben, könnten zu diesem Punkt bis zum Parteitag noch Dringlichkeitsanträge eingehen.
Abräumen oder abstimmen?
Was bislang allerdings niemand explizit befürwortet: Rüstungsgeschäfte mit Israel wieder bedingungslos zuzulassen. Auf der anderen Seite tauchen in den Anträgen Forderungen nach einem Kultur- und Sportboykott gegen Israel oder Ähnlichem nicht auf. Auch weiterhin ist das Spektrum der grünen Positionen also nicht unendlicht weit. Was in den Anträgen zudem nur ganz am Rande vorkommt: eine Reflexion der eigenen Nahost-Politik in der Regierungszeit.
Dass tatsächlich alle eingereichten Anträge auf dem Parteitag behandeln werden, ist unwahrscheinlich. Für gewöhnlich wird bei den Grünen vor Bundesdelegiertenkonferenzen lange verhandelt – mit dem Ziel, Streitfragen still abzuräumen. Im aktuellen Fall dürfte daran vor allem der Bundesvorstand ein Interesse haben: Er hat auch Anträge zu einer sozial gerechten Klimapolitik und zu Kommunalfinanzen eingebracht, die ebenfalls Aufmerksamkeit bekommen sollen. Eine Nahost-Debatte könnte sie überstrahlen.
Parteichefin Brantner wirbt jedenfalls für die eingereichte Version des Gaza-Antrags: „Ich bin überzeugt, dass er für die breite Mitte der Delegierten steht, die sagt: Wir kennen die Komplexität, wir nehmen sie an und wir wollen nicht mehr zurückweichen“, sagt sie.
Ganz ohne öffentliche Diskusisonen wird sich der Tagesordnungspunkt dennoch kaum abhandeln lassen. Die Europa-Abgeordnete Neumann hat mehrere der Änderungsanträge eingereicht, in denen das israelische Vorgehen schärfer kritisiert wird. „Unsere Meinungspluralität finde ich ok und ich möchte, dass wir der Ort sind, an dem man respektvoll über verschiedene Positionen diskutieren kann – auch beim Thema Nahost. Wo wir nah beieinander sind, könnten wir uns auch vorab einigen“, sagt sie, „aber wir können nicht alles mit Formelkompromissen übermalen.“
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