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Ângela Monteiro Silva will sich das Leben in den Mangroven nicht nehmen lassen Foto: Pablo Vergara

CO₂-Zertifikate in BrasilienDie Carbon Cowboys kommen

Mit CO₂-Emissions-Handel lässt sich Geld verdienen. Deshalb versuchen Firmen indigene Gemeinden von ihren Projekten zu überzeugen. Doch viele sind skeptisch.

Niklas Franzen

Aus Aricuru und Belém

Niklas Franzen

 ngela Monteiro Silva stapft durch den schwarzen Schlamm. Sie muss darauf achten, nicht auf die spitzen Äste zu treten, die überall aus dem Boden ragen. Abertausende Wurzeln winden sich durch die Mangrovenlandschaft, die in der untergehenden Sonne fast schon surreal wirkt. Einer ihrer Nachbarn steht bis zur Hüfte im Morast. Plötzlich wirft er sich nach vorn, greift blitzschnell in ein Loch und zieht einen Krebs hervor.

Auch Silva, 39 Jahre, krauses Haar, hält nach einiger Zeit später einen Krebs in der Hand. Ein fester Griff, knack, der Panzer bricht. „Mit ein bisschen Wasser kochen, Salz darüber, fertig.“

Silva lebt in Aricuru, einem kleinen Amazonas-Dorf im Norden Brasiliens. Bunt gestrichene Häuser, drei Kirchen, ein Fußballplatz. Etwa 170 Kilometer trennen das Dorf von Belém, wo derzeit die Weltklimakonferenz tagt. Aricuru liegt traumhaft in einer Bucht, am Horizont glitzert der Atlantik. Das Meer, das sich zweimal täglich zurückzieht, bestimmt hier den Rhythmus. Die Menschen leben von der Landwirtschaft, vom Fischfang und vom Sammeln der Krebse.

Firmen nutzten oft eine für die Gemeinden unverständliche Sprache. Manchmal sprächen sie gezielt Einzelpersonen an

In letzter Zeit ist die Region in den Fokus geraten. Aricuru und seine Nachbardörfer sollen Geld dafür bekommen, die Mangrovenwälder zu erhalten. Es ist ein Vorhaben, das derzeit voll im Trend liegt. Kohlenstoffkredite lautet eine der Formeln im Kampf gegen die Klimakrise. In der Region entstehen viele Projekte. Das Klima retten und gleichzeitig armen Gemeinden helfen, das ist die Idee. Doch kann das wirklich funktionieren?

Die Natur als Supermarkt

Silva läuft am Strand entlang. Sie erzählt von ihrer Kindheit in der Gemeinde. Seit Generationen lebt ihre Familie hier. Ihre Vorfahren, sagt sie, waren Indigene. Sie lebe gerne in Aricuru. Hier müsse sie keine Angst vor Überfällen haben, atme keine verschmutzte Luft ein, habe ihren Supermarkt direkt vor der Tür: die Natur. Doch eines macht Silva Sorgen – dass sie eines Tages die Mangroven nicht mehr nutzen dürfen. Sie hat von anderen Projekten gehört, in denen Be­woh­ne­r*in­nen ihr Gebiet auf Grund von CO₂-Vorhaben nicht mehr betreten oder nutzen konnten.

Während die Klimakrise voranschreitet, wird weltweit händeringend nach Lösungen gesucht. Vielerorts soll der Markt einspringen. Die Geschichte von Aricuru steht exemplarisch für eine der großen Fragen unserer Zeit: Kann der Klimaschutz vom Markt geregelt werden? Sie erzählt von einem Unternehmer, der angeblich alles anders machen will. Und von einer Gemeinde, die Nein gesagt hat.

Dorf am Atlantik: Die Gezeiten bestimmen den Rhythmus in der Gemeinde Aricuru Foto: Pablo Vergara

Die Rechnung ist eigentlich ganz einfach: Wald absorbiert Kohlenstoff. Wird er abgeholzt, wird CO₂ freigesetzt – und das trägt zur Erderwärmung bei. Deshalb gilt: möglichst viel Wald erhalten. In der Praxis ist das jedoch weit komplizierter. Es gibt zahlreiche Initiativen, viele Regularien, eine Vielzahl von Akteuren. Das bekannteste Rahmenwerk heißt REDD+. Es entstand 2005 innerhalb der Vereinten Nationen und soll Länder dabei unterstützen, Entwaldung zu reduzieren.

Bekannt sind solche CO₂-Projekte vor allem in tropischen Waldgebieten. Doch auch Mangroven rücken zunehmend in den Fokus. Studien zeigen, dass Mangroven besonders viel Kohlenstoff speichern, oft mehr als herkömmliche Wälder.

Geld gegen Wald

Der Fall von Aricuru ist komplex. Das Gebiet steht unter Schutz, es gehört zu einer sogenannten Resex, einer Reserva Extrativista. Diese Schutzgebiete wurden in Brasilien geschaffen, um den nachhaltigen Lebensunterhalt traditioneller Gemeinschaften zu sichern. Die Be­woh­ne­r*in­nen dürfen fischen, sammeln und kleinbäuerliche Landwirtschaft betreiben, solange sie die Umwelt erhalten.

Inzwischen gibt es auf Bundesebene neue Rechtsvorschriften, die den Markt für CO₂-Kredite regeln. Diese sichern indigenen Völkern und traditionellen Gemeinden wie Aricuru Rechte an möglichen Erträgen aus Kohlenstoffprojekten in ihren Territorien zu. Außerdem dürfen sie über solche Vorhaben selbst entscheiden. Allerdings nur, wenn das Prinzip freier, vorheriger und informierter Konsultationen sowie sämtliche gesetzlichen Vorgaben eingehalten werden.

Silva sitzt mit einigen Nachbarinnen in der Versammlungshalle. Es ist brütend heiß, auf einem Tisch stehen Krüge mit Fruchtsaft. Vor einigen Monaten saßen hier der Vorsitzende der Resex-Assoziation, ein Befürworter von CO₂-Projekten, und ein Vertreter des Unternehmens Samaúma.

Man habe ihnen das Projekt vorgestellt, erzählt Silva. Dabei sei gesagt worden, dass das Gebiet reich sei. Dass sie eine Gesundheitsstation bekommen könnten, sie eigentlich nichts zu verlieren hätten. Im gesamten Gebiet, das aus 75 Gemeinden besteht, sollen mit den Kohlenstoffkrediten umgerechnet rund 370.000 Euro pro Jahr eingenommen werden. 50 Prozent des erzeugten Wertes würden bei den Gemeinschaften bleiben, 20 Prozent bei der Resex-Assoziation, 30 Prozent bekäme das Unternehmen. Über mögliche Risiken sei bei dem Treffen nicht gesprochen worden.

Das Misstrauen der Gemeinden

Fábio Carvalho, damaliger Mitarbeiter von Samaúma, widerspricht. Das Thema Risiken sei „mehrfach“ diskutiert worden. Am Ende wurde abgestimmt, die Anwesenden lehnten den Vorschlag mehrheitlich ab. Das Projekt klinge zwar schön, sagt Silva, doch wer garantiere ihnen, dass sie ihr Land weiterhin nutzen dürften? Diese Frage sei unbeantwortet geblieben.

Carvalho hingegen betont, es sei gesagt worden, dass es keinerlei „Verbote hinsichtlich der traditionellen Nutzung“ geben werde. Die Ablehnung der Gemeinde sei respektiert worden. Mittlerweile arbeite er nicht mehr für die Firma, sondern sei Gesellschafter eines neuen Unternehmens. Eine Internetpräsenz gibt es bislang nicht. Es handle sich, sagt er, um ein Unternehmen, das „die Menschen sieht“.

Die Be­woh­ne­r:in­nen von Aricuru haben Sorgen, dass sie nicht mehr fischen, sammeln und Landwirtschaft betreiben können Foto: Pablo Vergara
Ein Bewohner von Aricuru präsentiert seinen Fang Foto: Pablo Vergara

Carvalho erklärt, er sei kein typischer Unternehmer: Er habe jahrelang für die staatliche Umweltschutzbehörde ICMBio gearbeitet und einen Doktortitel im Bereich Umweltschutz. Sein Grundsatz sei es, alles gemeinsam mit der Gemeinde umzusetzen. Sein aktuelles Unternehmen unterscheide sich deutlich von anderen Projekten, die oft „hastig“ umgesetzt würden. Der taz liegt der Vertrag eines anderen Projekts vor, in dem geregelt sein soll, dass die traditionelle Nutzung fortgeführt werden darf.

Daltro Paiva, 60 Jahre, ein kleiner, rundlicher Mann, bleibt dennoch skeptisch. Geschäfte, sagt er, würden nicht mit Versprechen gemacht. Er arbeitet für den Pastoralrat der Fischer und Fischerinnen, ein Organ innerhalb der katholischen Kirche, kurz CPP. Er war bei dem Treffen mit dem Unternehmen dabei. Dort wurden keine schriftlichen Nachweise vorgelegt, etwa ein Vertragsentwurf mit Firmenlogo. Dabei müsse alles „schwarz auf weiß“ vorliegen, um seine Gültigkeit zu haben.

Geschäftsleute, die Großes versprechen

Paiva hat großes Misstrauen gegenüber solchen Projekten. Firmen nutzten oft eine für die Gemeinden unverständliche Sprache. Manchmal sprächen sie gezielt Einzelpersonen an, um so die Zustimmung der gesamten Gemeinde zu erhalten. Es ist die Rede von sogenannten Carbon Cowboys – Geschäftsleuten, die durchs Land ziehen, Großes versprechen. Ende Oktober klagte die Bundesstaatsanwaltschaft im Bundesstaat Amazonas gegen Projekte wegen fehlender Konsultation indigener Gemeinden.

Auch Silva hat von solchen Fällen gehört. Be­woh­ne­r*in­nen seien betrogen worden. Man habe einen Herd versprochen, ihnen anschließend jedoch den Zugang zu ihrem eigenen Land verweigert. „Warum sollte es hier anders sein?“, fragt sie.

„Es gibt definitiv Unternehmen, die arme Gemeinden ausnutzen“, sagt Laércio de Sousa Amoras, klein gebaut, 60 Jahre alt. „Aber das ist hier nicht der Fall.“ Amoras ist Vorsitzender von Auremar. Die Assoziation ist die legitime Vertretung der 75 Gemeinden des Resex-Territoriums.

Er sitzt im Raum seiner Organisation, während einige Kollegen gerade eine Vatikanfahne aufhängen – ein katholischer Feiertag steht bevor. An der Wand hängt eine Karte des Territoriums, daneben ein selbst gemaltes Bild einer Mangrove. Das Büro liegt in Maracanã, etwa eine Autostunde von Aricuru entfernt. Draußen gibt es eine hübsche Flusspromenade, kleine Açaí-Läden, Fußgänger schützen sich mit Regenschirmen vor der beißenden Mittagssonne.

Schutz vor „Projekten“

Amoras ist selbst Fischer, ebenso wie seine Eltern. Seit 25 Jahren sei er in der luta – im Kampf – aktiv. Er habe einige Schlachten geschlagen, unter anderem gegen Hotelbetriebe. Ein Projekt, das den Interessen der Gemeinden zuwiderliefe, würde er niemals unterstützen. Er achte penibel darauf, dass alle nötigen Schritte eingehalten würden.

Sie hatten bereits Erfahrungen mit einem anderen Unternehmen gemacht, erzählt er. „Sie kamen und wollten, dass sofort ein Vertrag unterschrieben wird.“ Jetzt sei es anders. Er kramt in einem grünen Ordner, zieht ein Blatt heraus: Alle anderen Dörfer – bis auf Aricuru – hätten zugestimmt.

Laércio de Sousa Amoras in seinem Büro Foto: Pablo Vergara

Warum Aricuru dagegen gestimmt habe? „Die Gemeinde lässt sich von außen beeinflussen“, glaubt er. Von wem genau, sagt er nicht. Wahrscheinlich meint er aber die CPP. Die katholische Organisation unterstützt Aricuru schon lange und half auch dabei, ein Protokoll der freien, vorherigen und informierten Konsultation auszuarbeiten. Dort ist klar geregelt, wie Konsultationen abzulaufen haben. Nicht nur wegen Kohlenstoffprojekten, sondern auch um sich gegen andere Projekte zu schützen.

Die Be­woh­ne­r*in­nen von Aricuru betonen, dass sie das Protokoll vor dem Treffen an die Auremar geschickt hätten. Fábio Carvalho erklärt, dass ihm die Existenz des Protokolls am Tag des Treffens zunächst nicht bewusst gewesen sei. Er habe erst kurz nach der Versammlung davon erfahren – sonst wäre dieses anders verlaufen. Nach mehrmaligen Nachfragen räumt er aber ein, dass sein ehemaliges Unternehmen Fehler gemacht habe. Um doch noch ein Projekt in Aricuru umzusetzen, sei nun ein schriftlicher Antrag der Gemeinde nötig, das Treffen müsse nach ihrem Protokoll stattfinden und von Aufsichtsbehörden begleitet werden.

Wo bitte gehts aus der Armut raus?

Wenn man Amoras zuhört, könnte tatsächlich ein neuer Anlauf genommen werden. Für ihn reiche es nicht, nur die traditionelle Lebensweise zu bewahren. Die Menschen in Aricuru kämen kaum über die Runden. Viele besäßen weder ein eigenes Boot noch Fischernetze. „Wir wollen mehr als nur den Mangrovenwald schützen“, sagt er. „Wir wollen das Leben der Menschen schützen.“

Und tatsächlich ist das Dorf arm. Viele Be­woh­ne­r*in­nen Aricurus erhalten Sozialhilfe, es gibt kaum Jobs. „Das Leben hier ist nicht einfach“, sagt auch Silva. Sie arbeitet als Fischerin und als Lehrerin der kleinen Grundschule. Auch die Klimakrise mache dem Dorf zu schaffen: Vor zwei Jahren sei die Maniokernte wegen der Hitze ausgefallen. Viele Fische zögen sich in tiefere Gewässer zurück. Auch der Regen werde immer unberechenbarer.

Am Abend sitzt Silva in einem Stuhlkreis vor dem Haus einer Nachbarin. Dort steht ein kleiner Altar, eine Kerze brennt. Einige haben sich herausgeputzt, tragen Kleider und Ketten mit Heiligenbildern. Silva hält eine Bibel in der Hand und trägt ein Shirt mit der Aufschrift „Deus“ – Gott – daneben ein Herz. Sie ist katholisch, wie viele Be­woh­ne­r*in­nen des Dorfes. Heute steht eine Gesprächs- und Bibelstunde an, das Thema: Jugend. Zwei junge Frauen sprechen.

Doch viele Jugendliche gibt es nicht mehr im Dorf. Die Aussichten sind schlecht: Viele ziehen in den Süden Brasiliens, mehr als 3.000 Kilometer entfernt. Dort ist es viel kälter, Neuankömmlinge aus dem Norden werden nicht immer freundlich aufgenommen. Trotzdem nehmen viele die Strapazen auf sich, weil es dort Jobs gibt, man viel mehr verdient. Auch Silva lebte fünf Jahre dort. Ihre Tochter wohnt noch immer im Süden. Es tue ihr weh, dass so viele das Dorf verlassen.

Kontrolle durch die Gemeinde selbst

Warum also nicht die Marktkräfte nutzen, um armen Dörfern wie Aricuru zu helfen?

„Viele Unternehmen im Kohlenstoffmarkt betrachten den Wald als wirtschaftliches Gut“, sagt Daltro Paiva. Im aktuellen Fall sehe er nicht, wie sich die Firma von anderen unterscheidet. Beim Treffen seien einige Hinweise auf negative Praktiken der Firma aufgetaucht. „Wenn sie tatsächlich anders handeln will, muss sie Beweise für bisherige Tätigkeiten und geplante Vorgehensweisen vorlegen.“

Gibt es für Paiva überhaupt eine Möglichkeit, mit Kohlenstoffkrediten zu arbeiten? Nur, wenn die Gemeinde den gesamten Prozess selbst kontrolliert. Das sei jedoch kaum umzusetzen, räumt er ein. Als Alternative kämen nachhaltiger Tourismus oder die Stärkung lokaler Praktiken wie Fischerei, Landwirtschaft und Sammeln infrage. Doch auch dafür wären finanzielle Mittel nötig – und es ist fraglich, ob der ohnehin arme Bundesstaat diese bereitstellen wird. Ein Dilemma.

Ângela Monteiro Silva wünscht sich, in Aricuru alt zu werden. Und dass die jungen Leute irgendwann nicht mehr wegziehen müssen. Sie hegt weiterhin großes Misstrauen, ob CO₂-Kredite der richtige Weg sind. „Besser auf Nummer sicher gehen“, sagt sie, „als irgendwann unsere Heimat zu verlieren.“

Die Recherche entstand auf einer Pressereise von Misereor.

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