Amazonas-Regenwald kippt: Wenn die Wolkenmaschine stockt
Der Amazonas-Regenwald ist der größte Kohlenstoffspeicher der Welt. Allerdings mehren sich Anzeichen dafür, dass der Wald kippt.
Die Größenordnung ist gigantisch: Der Regenwald im Amazonasbecken speichert etwa 80 bis 123 Milliarden Tonnen Kohlenstoff. Das Ökosystem im Herzen Südamerikas ist ein sich selbst versorgendes Phänomen. Angetrieben von der Energie der Sonne, verdunsten die Bäume über ihre Blätter durch die Photosynthese riesige Mengen Wasser – so viel, dass daraus Regenwolken entstehen. „Die regnen dann im Flachland und an den Hängen der Anden ab und versorgen so den Regenwald mit neuem Wasser“, sagt Christopher Reyer, Waldexperte am Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK).
Dabei bildet die bis zu 6.000 Meter hohe Gebirgskette eine Wasserbarriere: Spätestens hier müssen die Wolken aufsteigen, was sie abregnen lässt. Das Verdunstungswasser aus der Ebene speist Flüsse wie den Rio Negro, den Rio Madeira, den Rio Huallaga oder den Purus, die sich im Zentrum des Kontinents zum Amazonasfluss vereinen und das ganze Becken mit Wasser versorgen. An manchen Stellen ist der Zusammenfluss – der Amazonas – bis zu 20 Kilometer breit; der Bodensee bringt es an seiner breitesten Stelle auf 14 Kilometer.
Bislang half der Regenwald im Amazonas dem Menschen: Dank Photosynthese wird auf 5,5 Millionen Quadratkilometern Kohlendioxid zu Holz umgebaut. Auf einem Quadratkilometer sind bis zu 1.000 verschiedene Bäume produktiv, pro Jahr binden die Pflanzen und der Boden etwa 380 Millionen Tonnen Kohlenstoff, mehr als die 85 Millionen Einwohner Kolumbiens und Venezuelas zusammen.
In seinen besten Zeiten machte das Ökosystem 5 Prozent der weltweiten Treibhausgas-Emissionen wett. Allerdings ist das System in Gefahr: Wenn zu wenig Wasser verdunstet, bilden sich weniger Wolken. Die haben weniger Regen zur Folge, weshalb es weniger Wasser in den Flüssen gibt. Teile des Amazonasbeckens fallen trocken, weshalb Bäume absterben und als Verdunster ausfallen und so noch weniger Regen entsteht – ein Teufelskreis.
„Historische Dürre“
Vor zehn Jahren waren 13 Prozent des Amazonas von Dürre betroffen. 2023 erlebte das Gebiet zwischen Juni und November eine „historische Dürre“, im vergangenen Jahr fiel der Pegel des Rio Negro auf den niedrigsten Stand seit Beginn der Messungen vor 120 Jahren. Der Wasserstand des Rio Madeira fiel im Oktober in Porto Velho, Hauptstadt des Bundesstaates Rondônia an der Grenze zu Bolivien, auf 25 Zentimeter. Zu dieser Jahreszeit sind dort 5 Meter normal.
Mit der Dürre kommen die Brände: 2024 registrierte das brasilianische Institut für Weltraumforschung (INPE) fast 280.000 Brände allein im brasilianischen Amazonasbecken, ein Drittel mehr als im Jahr zuvor. 30 Millionen Hektar Wald wurden zerstört. Und damit jede Menge Verdunster, die nun nicht mehr zur Bildung von Regenwolken beitragen können.
Klimawandel angeheizt
Wenn der Amazonas-Regenwald „umkippt“, hilft er den Menschen nicht mehr beim Klimaschutz, im Gegenteil, er setzt dann selbst Treibhausgase frei: Abgestorbenes Holz wird nach und nach zu Methan und Kohlendioxid. Das heizt den Klimawandel an: „Untersuchungen kommen zu dem Schluss, dass allein das Absterben des Amazonaswaldes mindestens 0,3 Grad Celsius zur globalen Erwärmung beitragen könnte“, so PIK-Experte Reyer. Allerdings sei diese Zahl noch mit großen Unsicherheiten behaftet.
Deshalb wird im Amazonasbecken viel geforscht, etwa mit Messtürmen, an deren Spitzen Instrumente installiert wurden, um den Stoff- und Energieaustausch zwischen Wald und darüber liegender Luftschicht zu messen. Der höchste ragt mehr als 300 Meter in den Himmel: Wie viel Kohlendioxid nimmt der Wald auf? Da weite Teile des Amazonas unzugänglich sind, arbeitet die Wissenschaft auch mit Satellitendaten und Computersimulationen.
Unmittelbar vor Kipppunkt
2021 kam eine große internationale Studie zu dem Schluss, dass der Amazonaswald unmittelbar vor dem Kippen steht. Als einen Grund dafür identifizierte das Team das fortgesetzte Abholzen des Regenwaldes, was Niederschlagsmuster verändert und so den Wald weiter austrocknet. Einen anderen Grund fanden die Forscher:nnen in den kleinen Rußpartikeln, die durch die zunehmenden Brände freigesetzt werden: Diese absorbieren Sonnenlicht, was die lokale Erwärmung erhöht, wodurch der Wald weiter austrocknet und abstirbt. „Wir haben den Punkt des Systems überschritten, an dem er uns einen zuverlässigen Dienst leistet“, erklärte Studien-Coautorin Fiona Soper von der kanadischen McGill-Universität.
2022 publizierte ein Team um Chris Boulton von der University of Exeter Ergebnisse zur Resilienz-Untersuchung des Regenwaldes, also zur Frage, wie widerstandsfähig er ist. Dafür nutzten die Forscher:nnen per Satelliten erhobene Daten zur Biomasse, Blattdichte und Vegetationsbedeckung aus den letzten 30 Jahren. Ergebnis: Obwohl der Regenwald im Amazonasbecken vielerorts noch intakt aussieht, hat er auf drei Viertel seiner Fläche schon messbar an Widerstandskraft verloren. Damit, so Boulton, sei der entscheidende empirische Beweis erbracht, „dass sich der Amazonas-Regenwald seinem Kipppunkt nähert“.
Mensch macht weiter
Und der Mensch macht kräftig weiter. Seit 1985 hat sich die Umwandlung von Wald zu Viehweide oder Sojaplantage auf eine halbe Million Quadratkilometer summiert, etwa eine Fläche so groß wie Frankreich. Diese Verluste – überwiegend durch Brandrodung – haben das regionale Klima und Wetter bereits verändert, wie eine Studie neuerlich bestätigt: So ging die durchschnittliche Regenmenge im brasilianischen Regenwald von 1985 bis 2020 um 21 Millimeter zurück. Dem Wald geht das Wasser aus, was er zum Verdunsten braucht.
2024 kam ein Team um Bernardo Flores von der Federal University of Santa Catarina zu dem Ergebnis, dass eine globale Erwärmung von mehr als 1,5 Grad durchschnittlich zu viel für den Amazonas ist. In ihrem „Global Tipping Points Report“ kam Mitte Oktober 2025 ein Forscherteam schließlich zu dem Schluss, dass die Schwelle, die zum unweigerlichen „Kippen“ des Ökosystems führen wird, niedriger ist als bislang angenommen: Auch sie erwarten einen Zusammenbruch ab einer globalen Erwärmung von 1,5 Grad. Tatsächlich war das vergangene Jahr bereits 1,55 Grad wärmer als vor der industriellen Revolution. Und weil die weltweiten Emissionen auch 2025 weiter anstiegen, statt zu sinken, ist ein neuer Temperaturrekord 2025 nicht unwahrscheinlich.
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