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Polizei schießt auf ZwölfjährigeViele offene Fragen

In Bochum haben Polizisten einer gehörlosen Zwölfjährigen in den Bauch geschossen. Das Kind sei mit Messern auf sie zugegangen, erklärt die Polizei.

Der Tatort in Bochum: Hier wurde ein Kind durch den Schuss aus einer Dienstwaffe der Polizei lebensgefährlich verletzt Foto: Michael Korte/Funke Foto Services/imago

Eigentlich sollte die Bochumer Polizei dem 12-jährigen Mädchen helfen. Sie war weggelaufen und benötigte Medikamente. Am Ende schießt ein Beamter und verletzt das gehörlose Kind lebensgefährlich. Wie konnte es dazu kommen?

Am Sonntag verschwindet das Mädchen aus ihrer Wohngruppe in Münster, wo sie lebt. Gegen Mittag ist sie nicht mehr auffindbar. Ihre Betreuer melden sie noch am selben Tag als vermisst, auch weil sie auf lebenswichtige Medikamente angewiesen sein soll. Diese hatte sie „möglicherweise über einen längeren Zeitraum nicht eingenommen“, so die Polizei. Laut Medienberichten soll es sich um Insulin handeln.

Nach mehrstündiger Suche erhält die Polizei den Hinweis, dass sich das Mädchen bei ihrer Mutter in Bochum aufhalten soll. Sie ist ebenfalls gehörlos. Ihr wurden vor einiger Zeit Sorgerecht und Aufenthaltsbestimmungsrecht für ihre Tochter entzogen, weshalb sich das Mädchen nicht bei ihr aufhalten darf.

Am Montag, mitten in der Nacht gegen 0.30 h, stehen deshalb vier Polizisten vor der Wohnung im Bochumer Stadtteil Hamme. „Da die Wohnungstür zunächst nicht geöffnet wurde, aber Geräusche aus der Wohnung zu hören waren, forderten die Einsatzkräfte einen Schlüsseldienst an“, heißt es von der Polizei. Noch bevor dieser eintraf, öffnete die Mutter jedoch selbst die Tür. Was genau dann passierte, ist noch unklar.

Einsatz ohne Gebärdendolmetscher

„Die Kollegen haben mit der Mutter kommuniziert, zeitgleich haben sie in der Wohnung das Mädchen gesehen“, erklärt ein Polizeisprecher. Ob und wie eine Kommunikation mit der gehörlosen Mutter und Tochter überhaupt möglich war, müsse noch ermittelt werden, erklärte ein Polizeisprecher. Ein Gebärdendolmetscher, der mit den beiden hätte kommunzieren können, war beim Einsatz nicht dabei.

Man könne sich mit Gehörlosen aber eigentlich gut verständigen, so der Sprecher: „mit Hand und Fuß, mit Zettel und Stift oder einer App“. Wegen der fehlenden Medikamente habe die Polizei den Einsatz nicht verschieben wollen.

Hinter der Mutter hätten die vier Beamten durch die geöffnete Tür das Mädchen und ihren Bruder gesehen. „Die Mutter versperrte den Einsatzkräften den Zutritt zur Wohnung. Um zu dem Mädchen zu gelangen, zogen die Einsatzkräfte die Mutter in den Hausflur und fixierten sie“, heißt es in einer Pressemitteilung. Dieses vielleicht ausschlaggebende Detail erwähnte die Polizei in einer ersten Mitteilung nicht.

Anschließend hätten die Polizisten die Wohnung betreten, woraufhin das Mädchen mit zwei Messern in der Hand auf sie zugegangen sein soll. „Um einen drohenden Angriff mit den Messern abzuwehren“, sollen daraufhin zeitgleich zwei Polizisten auf das Mädchen geschossen haben, schildert die Polizei ihre Version des Vorfalls. Der eine mit seinem Taser, der andere mit seiner Schusswaffe. Polizei und Staatsanwaltschaft geben an, die Schüsse seien erst gefallen, als sich das Kind unmittelbar vor ihnen befunden habe.

Polizeieinsätze bei psychischen Ausnahmesitutationen

Er soll das Kind lebensgefährlich in den Bauch getroffen haben. Wie häufig, erklärte die Polizei nicht. Die WAZ berichtet von einem einzelnen Schuss. Das Mädchen wurde in ein Krankenhaus gebracht und dort operiert. Ihr Zustand ist laut einem Sprecher der Polizei „kritisch, aber stabil“. Sie werde intensivmedizinisch betreut. Weitere Angaben, beispielsweise ob Bodycams im Einsatz waren, wollten Polizei und Staatsanwaltschaft gegenüber der taz nicht machen.

Inzwischen hat sich die Mutter des Mädchens geäußert. Gegenüber RTL erklärte sie, dass ihre Tochter aus der Wohngruppe weggelaufen war, weil es Streit in der Schule gab: „Sie sagte, ‚ich kann das nicht mehr ertragen‘.“ Wahrscheinlich aus Angst sei das Mädchen zu ihr gekommen. Ihre Tochter habe mehrmals nach ihr gerufen, bevor der Polizist vor ihren Augen auf sie schoss. Sie vermutet, dass ihr Kind ihr helfen wollte. Weder die Darstellung der Polizei noch die Aussagen der Mutter lassen sich unabhängig überprüfen.

Dass die Polizei ein Problem im Umgang mit Personen in psychischen Ausnahmesituationen hat, ist unter Ex­per­t:in­nen aber schon länger bekannt. So kritisiert beispielsweise der Polizeiforscher Thomas Feltes „mangelnde Deeskalationsfähigkeiten“ und fordert, häufiger sozialpsychiatrische Dienste einzusetzen. Knapp 30 Prozent der von der Polizei getöteten Personen in Deutschland befanden sich in einer psychsichen Ausnahmesituationen, wie Daten des Fachmagazins CILIP zeigen.

Mordkommission Essen ermittelt

Dass die Polizei auf ein 12-jähriges Mädchen, noch dazu gehörlos, schießt, ist dennoch außergewöhnlich. Für den Schusswaffengebrauch gegen Kinder gelten noch strengere Regeln als gegen Erwachsene. Das nordrhein-westfälische Polizeigesetz verbietet grundsätzlich den Schusswaffeneinsatz gegen Kinder, „die dem äußeren Eindruck nach noch nicht 14 Jahre alt sind“. Nur wenn die Waffe das „einzige Mittel zur Abwehr einer gegenwärtigen Gefahr für Leib oder Leben“ sind, ist der Gebrauch zulässig.

Ob das der Fall war, sollen nun die Ermittlungen zeigen. Zuständig ist eine Mordkommission der benachbarten Polizei Essen – „aus Neutralitätsgründen“, wie es in solchen Fällen heißt. Dieses Vorgehen ist üblich, steht jedoch in der Kritik, da die Polizei gegen sich selbst ermittelt.

Vorerst bleiben viele Fragen offen. Warum konnten vier Polizeibeamte das 12-jährige Kind nicht mit anderen Mitteln stoppen? Und sollten sind solche Fälle überhaupt Aufgabe bewaffneter Polizisten sein? So­zi­al­ar­bei­te­r*in­nen oder andere Personen mit Erfahrung im Kontakt mit Kindern waren nach jetzigem Stand nicht vor Ort.

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1 Kommentar

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  • Was für Polizisten waren den da dabei? Gab es vorher keine Informationen? So was darf doch nicht eskalieren.