Massenproteste in der Slowakei: Mit Kreide gegen die Regierung von Robert Fico
Über 100.000 Menschen gehen am 17. November, dem Gedenktag an die Samtene Revolution 1989, in mehreren Städten gegen die Regierung auf die Straße.
Der Schuss ging nach hinten los: Als angebliche Sparmaßnahme schaffte die slowakische Regierung jüngst den „Tag des Kampfes für Freiheit und Demokratie“ als Feiertag ab. Der Gedenktag anlässlich der Samtenen Revolution 1989 wird alljährlich am 17. November gefeiert und ist Premier Robert Fico schon länger ein Dorn im Auge.
Die Abschaffung half ihm aber nichts: Trotz Regens und Sturms gingen am Montag allein in Bratislava 50.000 Menschen auf die Straße, um gegen Ficos illiberale Regierung zu demonstrieren. Auch in Košice, Banská Bystrica, Trnava und Poprad kam es zu Protesten mit jeweils Tausenden Teilnehmern, in Dutzenden weiteren Städten zu kleineren Versammlungen. Dazu aufgerufen hatten Opposition und Zivilgesellschaft.
Adressiert wurde damit vor allem Premier Fico, der sich in den Vortagen immer wieder abfällig über den Freiheitstag geäußert und dessen Bedeutung heruntergespielt hatte. Der 61-jährige Fico war bereits als Gymnasiast im Sozialistischen Jugendverband aktiv und trat 1986 der Kommunistischen Partei bei.
Nach dem Systemwechsel ging er 1990 zur Demokratischen Linkspartei (SDL), bevor er 1999 seine ursprünglich sozialdemokratische Smer (Richtung) gründete. An ihrer Spitze führte Fico mehrere Regierungen. Er regiert populistisch, nationalistisch und zunehmend antieuropäisch – aktuell im Verbund mit der Smer-Abspaltung Hlas und der rechtsextremen Nationalpartei SNS.
Abfällig und revisionistisch
Schon im Vorfeld hatte sich Fico immer wieder abfällig und revisionistisch über den Freiheitstag geäußert, etwa beim Besuch eines Gymnasiums in der Kleinstadt Poprad am vergangenen Freitag. Nicht die protestierenden Massen, sondern die KP-Spitzen sowie die Geheimdienste hätten hinter dem Systemwechsel gestanden, sagte Fico.
Die Führung hätte erkannt, dass die Tschechoslowakei nicht mehr wettbewerbsfähig sei. „Wenn das Regime gewollt hätte, hätte es problemlos weitere 15 Jahre an der Macht bleiben können“, so Fico laut der Zeitung Denník N. Präsident Peter Pellegrini kritisierte diese Äußerungen scharf und lehnte Ficos Bezeichnung des 17. November als „vorgeplanten kommunistischen Putsch“ ab.
Als Fico bei der Diskussion vor rund 100 Schülerinnen und Schülern behauptete, die EU finanziere die Fortsetzung des Krieges in der Ukraine, kam es zum Eklat. Rund 30 Jugendliche verließen den Saal und rasselten dabei mit Schlüsseln. Einer der Jugendlichen schwenkte eine ukrainische Flagge, wie ein Video dokumentiert.
Ficos Reaktion: „Wenn ihr in euren schwarzen T-Shirts solche Helden und so sehr für diesen Krieg seid, dann geht doch dorthin.“ Schüler berichteten später, dass Fico sie bereits zuvor wegen ihrer schwarzen Kleidung kritisiert und gefragt habe, ob sie „auf eine Beerdigung“ gekommen seien. Er habe zudem mehrfach positiv über Russland und Präsident Wladimir Putin gesprochen.
Aggressiv und arrogant
Mit dem Schlüsselrasseln griffen die Demonstranten bewusst auf ein Symbol der Samtenen Revolution zurück. Fico selbst postete das Video mit dem Kommentar, die Schüler seien gegangen, statt zu diskutieren. Eine Teilnehmerin beschrieb sein Auftreten jedoch als aggressiv und arrogant, auf Fragen sei der Premier nicht eingegangen.
Der Vorfall reiht sich in eine Reihe regierungskritischer Aktionen ein. Nachdem ein 19-Jähriger schon vor dem Besuch des Premiers mit Kreide Botschaften wie „Fico ist ein Verräter“ auf den Gehweg vor dem Gymnasium geschrieben hatte, wurde er nach einer Anzeige der Schulleiterin während des Unterrichts von der Polizei abgeholt und zum Verhör gebracht.
Daraufhin verbreitete sich die sogenannte Kreiderevolution im ganzen Land: Bürger und Politiker schreiben kritische Botschaften an öffentlichen Orten und teilen sie in sozialen Netzwerken, etwa „Große Männer fürchten keine Kreide“ und „Fico fürchtet sich vor Schülern“. Mehrere zivilgesellschaftliche Initiativen riefen zur Teilnahme an der Bewegung auf, forderten aber, keine hasserfüllten Formulierungen zu benutzen.
Zu großen Versammlungen kam es am Montag auch in Tschechien, wo der Freiheitstag noch als staatlicher Feiertag begangen wird. Allein in Prag demonstrierten Zehntausende gegen die designierte Regierung unter Andrej Babiš. Seine Ano-Partei wird gemeinsame Sache mit der rechtsextremen SPD und den Motoristen machen. Die neue Koalition steht, ist aber noch nicht vereidigt.
Staatspräsident Petr Pavel forderte am Montag neuerlich, dass Babiš rasch eine Lösung für seinen Interessenskonflikt finden müsse, denn Babiš steht der Agrofert vor, einem der größten tschechischen Konzerne. Ohne saubere Lösung werde Pavel ihm die Ernennung zum Ministerpräsidenten verwehren. Babiš spielt unterdessen auf Zeit, wiewohl die langsam abläuft: Bereits im Dezember soll die neue Regierung die Arbeit aufnehmen.
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