piwik no script img

Neuer Korruptionsprozess in ArgentinienFahrtenbücher rekordverdächtiger Bestechung

Ex-Präsidentin Cristina Kirchner, 22 Ex-Mandatsträger und 65 Geschäftsleute sollen massiv illegale Gelder durch öffentliche Aufträge beschafft haben.

Die 72-jährige Ex-Präsidentin Christina Fernandes de Kirchner winkt am 17. Oktober aus dem Hausarrest Anhängern zu Foto: Alessia Maccionie/Reuters
Jürgen Vogt

Aus Buenos Aires

Jürgen Vogt

In Argentinien hat die mündliche Verhandlung im sogenannten Notizbuch-Fall begonnen. Seit Anfang November stehen 87 Angeklagte wegen Bestechung und Korruption vor einem Bundesgericht in Buenos Aires. Es handelt sich um den bislang größten Korruptionsprozess des Landes. Die prominenteste Angeklagte ist die ehemalige Präsidentin Cristina Kirchner.

Die Staatsanwaltschaft wirft ihr und ihrem 2010 verstorbenen Ehemann Néstor Kirchner vor, von 2003 bis 2015 ein System zur Beschaffung illegaler Gelder organisiert zu haben. Cristina Kirchner soll nach dem Tod ihres Mannes die illegale Vereinigung geleitet haben.

„Die Führer und Organisatoren dieser parastaatlichen Struktur entwickelten ein System zur Geldbeschaffung, das sich hauptsächlich auf die Vergabe öffentlicher Bauaufträge und/oder Dienstleistungen sowie damit verbundener Vorteile konzentrierte“, heißt es in der 678 Seiten umfassenden Anklageschrift.

Konkret geht es um die Vergabe öffentlicher Projekte an die Privatwirtschaft gegen Schmiergeldzahlungen in Dollar in Millionenhöhe. Das Besondere ist, dass neben der Ex-Präsidentin (2007–2015) sowie 22 früheren Mandatsträgern und Staatsangestellten auch 65 Unternehmer und Geschäftsleute vor Gericht stehen.

Angeklagte Kirchner spricht von „Schauprozess“

Der Prozess verdankt seinen Namen acht Notizbüchern von Oscar Centeno, dem ehemaligen Fahrer von Roberto Baratta, der wiederum als Staatssekretär im Planungsministerium während der Kirchner-Präsidentschaften angestellt war. Centeno hatte über zehn Jahre akribisch nicht nur jede Fahrt wie in einem Fahrtenbuch üblich notiert, sondern zugleich auch Namen, Adressen und Summen der in Beuteln und Taschen voller Bargeld abgeholten Schmiergeldzahlungen dokumentiert.

Der damalige Planungsminister Julio De Vido ist als mutmaßlicher Mitbegründer der illegalen Vereinigung ebenfalls angeklagt. Nach Schätzungen geht es um eine Summe in Höhe von über 40 Millionen Dollar. Als Bestimmungsorte der vermeintlichen Schmiergelder sind meist der Sitz des Kabinettchefs, die Präsidentenresidenz im Vorort Olivos sowie die Wohnung der Kirchners in der Hauptstadt notiert.

„Heute beginnt ein weiterer Schauprozess“, schrieb Cristina Kirchner auf der Plattform X. „Offenbar reicht es ihnen nicht, mich einzusperren und lebenslang von öffentlichen Ämtern auszusperren: Sie müssen die Justizoperette am Leben erhalten.“ Die 72-Jährige verbüßt bereits eine sechsjährige Haftstrafe in einem anderen Korruptionsfall und steht seit Juni letzten Jahres unter Hausarrest.

Die Notizbücher wurden erstmals 2018 durch einen Bericht in der konservativen Zeitung La Nación öffentlich bekannt. Diego Cabot, ein bekannter Journalist, der seit Jahren Korruptionsfälle untersucht, beschreibt, wie er in den Besitz der Notizbücher gelangte: Ein Nachbar kam auf ihn zu und erzählte ihm von einer Kiste, die ihm ein Freund zur Aufbewahrung gegeben hatte. Sein Nachbar übergab ihm schließlich die Kiste.

Darin befanden sich unter anderem die acht Notizbücher, deren Aufzeichnungen der Journalist gründlich überprüfte sowie Kopien machte. Nachdem Centeno jedoch jegliche Kooperation verweigert hatte, gab Cabot die Kiste mit den Notizbüchern zurück. Zugleich wandte er sich mit seinem Material an die Justiz, die schließlich mit den Ermittlungen begann, die zu dem jetzigen Gerichtsverfahren gegen mehr als 80 Angeklagten führten.

900 Zeu­g*in­nen warten auf Anhörung

Derzeit sind zwei virtuelle Verhandlungstage pro Woche für das Verfahren angesetzt. Während die beteiligten Anwälte und Angeklagten über Zoom zugeschaltet sind, ist die Verhandlung über den Streamingkanal der Justiz öffentlich zugänglich. Allein die Verlesung der Anklageschrift nahm zwei Verhandlungstage in Anspruch. Nun sollen bis zu 900 Zeu­g*in­nen angehört werden. Das könnte bedeuten, dass sich der Prozess über mehrere Jahre hinziehen wird. Es wird über zusätzliche Verhandlungstage pro Woche diskutiert.

Es besteht kein Zweifel daran, dass Bestechungsgelder in großem Umfang geflossen sind. Centeno hat nicht nur den Inhalt der Notizbücher und sich als Autor bestätigt. Im Laufe der Ermittlungen haben bereits 21 Angeklagte von dem „Gesetz über reuige Zeugen“ Gebrauch gemacht und mit ihren Aussagen zahlreiche Rückzahlungen bestätigt.

Das Bundesgericht muss darüber urteilen, wer in welcher Form und in welchem Umfang dafür verantwortlich ist. Bei einer Verurteilung drohen den Angeklagten bis zu 10 Jahre Haft.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

0 Kommentare