Justiz in Syrien: In Aleppo beginnt ein historischer Prozess
Es ist der erste Prozess gegen Gewalttäter der Massaker an Alawiten im März. Auf der Anklagebank sitzen auch Soldaten der Übergangsregierung.
Es ist die schwarze, rechteckige Box in der linken Ecke neben der Richterbank, auf der am Dienstagmorgen die Blicke der rund 100 Zuschauer:innen im Justizpalast von Aleppo ruhen. „Name des Vaters? Der Mutter? Wann geboren?“, fragt Richter Zakaria Bakkar nacheinander ins Mikrofon und in Richtung der Box. Die Worte der sich darin befindenden Angeklagten sind hingegen nur schwer zu verstehen, ihre Gesichter durch die Gittertür nicht zu erkennen. Mehrere Dutzend Sicherheitskräfte bewachten den bis zum letzten Platz gefüllten Raum.
Insgesamt 14 Männern sind heute angeklagt. Ihnen wird vorgeworfen, während der Gewaltexzesse im März in der alawitisch geprägten Küstenregion mit mindestens 1.400 Toten schwere Straftaten begangen zu haben. Die eine Hälfte der beiden getrennt voneinander befragten Gruppen soll sich als Anhänger des im Dezember gestürzten Assad-Regimes bewaffnet gegen die Übergangsregierung von Ahmad al-Scharaa und ihre Sicherheitskräfte aufgelehnt haben. Die andere Hälfte steht vor Gericht, weil sie als Teil des neuen Sicherheitsapparats bei der Niederschlagung des Aufstands Zivilist:innen getötet haben soll. Diebstahl, Aufstachelung zu konfessioneller Gewalt und Mord lauten einige der Anklagepunkte.
Für Syrien ist es ein historischer Prozess: Fast ein Jahr nach Ende der jahrzehntelangen Diktatur der Assad-Familie soll im Gerichtssaal demonstriert werden, dass Recht und Rechenschaft jetzt für alle Menschen im Land gelten. Einerseits in Richtung der Bevölkerung, bei der nach mehreren Massakern an Minderheiten in den vergangenen Monaten Zweifel über eine friedliche Zukunft für alle im Land aufgekommen sind. Und andererseits in Richtung der Welt, die trotzdem beim Wiederaufbau Syriens und der Reintegration in die internationale Staatengemeinschaft helfen soll.
Die 14 vornehmlich jungen Männer sollen dabei nur der Anfang sein. Allein mit Blick auf die Gewalt an der Küste wird laut syrischer Justiz aktuell gegen 560 Menschen ermittelt. Nach den Massakern hatte die Übergangsregierung eine unabhängige Kommission einberufen. Diese erklärte in ihrem Bericht vom Juli, dass die Militärführung keine systematische Gewalt gegen Alawit:innen – zu denen auch die Assad-Familie gehört – angeordnet habe. Eine im September veröffentlichte Untersuchung von Human Rights Watch konnte den Befehlsablauf nicht klären, kam aber zu dem Ergebnis, dass Exekutionen und andere Gräuel an Zivilist:innen von Teilen der Damaskus unterstehenden Sicherheitskräfte weit verbreitet waren.
„Du bist klar zu erkennen“, entgegnete der Richter
Befehlsketten standen an diesem ersten Prozesstag in Aleppo nicht im Fokus, unter den Angeklagten befinden sich bislang auch keine hohen Kommandeure. Lediglich bei den mutmaßlichen Assad-Anhängern fragte Richter Bakkar nach Anweisungen – aus Israel, Russland oder Irak vielleicht? Ja, erklärte einer der Befragten, er habe Fahrzeuge des Militärs gestohlen, sich aber nicht an den Kämpfen beteiligt.
Im Zentrum der Befragung der Sicherheitskräfte standen Videoaufnahmen, die die Angeklagten teils selbst aufgenommen haben sollen. Laut der Beschreibung des Richters soll darin zu sehen sein, wie einzelne Angeklagte auf Zivilist:innen einschlagen. Auch von Leichen war die Rede.
„Das bin nicht ich, die Bilder wurden mit künstlicher Intelligenz erstellt“, erklärte einer der Männer. „Du bist klar zu erkennen“, entgegnete der Richter. Doch der Angeklagte blieb dabei. Ein Zweiter sagte, die Menschen in einem der als Beweis angeführten Videos seien nur als Zivilist:innen gekleidet, in Wahrheit aber bewaffnet gewesen. „Ich bin nicht in die Küstenregion gereist, um Menschen zu töten, ich wollte sie schützen“, beteuerte ein Dritter: „Niemand, der die vergangenen 14 Jahre miterlebt hat, will das wiederholen.“
Während in einer Pause die beiden Gruppen in der Box wechselten, liefen einigen Angehörigen der Angeklagten beim Anblick der Männer Tränen über das Gesicht. Gefilmt oder fotografiert werden durften die miteinander durch Handschellen verbundenen Beschuldigten nicht. Nach etwa drei Stunden vertagte Richter Bakkar die weitere Anhörung. Für den Dezember sind die nächsten Termine angesetzt – nach dem Jahrestag des Sturzes von Assad.
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