Polizeigewalt an Halloween: Zeugen widersprechen Polizeibericht
Beamte lösen eine Party auf, die Sache eskaliert. Die Polizei spricht von gewalttätigen Gästen, Zeugen widersprechen. Ein Rekonstruktionsversuch.
Im Polizeibericht liest sich alles ganz eindeutig. Ein Routineeinsatz in der Nacht auf Halloween. Eine Ruhestörung wegen einer Party in der Kreuzberger Waldemarstraße. Doch als die Beamten die Party auflösen, eskaliert die Situation. Im Polizeibericht heißt es, ein junger Mann habe einen der Beamten unvermittelt mit der flachen Hand ins Gesicht geschlagen. Er habe versucht, den Beamten in die Wohnung zu ziehen, und an seiner Schutzweste gezerrt. Mehrere Partygäste hätten die Festnahme gestört, der Polizist sei am Ohr verletzt worden, habe aber im Dienst bleiben können. Diese Darstellung übernahmen auch BZ und der Tagesspiegel in ihren Artikeln über die Nacht.
Doch an der Darstellung der Polizei gibt es Zweifel. Die taz hat mit dem beschuldigten 23-Jährigen und der Veranstalterin der Feier gesprochen. Sie beteuern: den Schlag mit der flachen Hand habe es nie gegeben. Vielmehr sei es die Polizei gewesen, die den 23-Jährigen mehrfach geschlagen habe. Der Beschuldigte berichtet auch von weiteren Schikanen durch die Polizei.
Teile dieser Schilderungen können durch Videos belegt werden, die an dem Abend entstanden sind und die der taz vorliegen. Eines wurde von der Autorin dieses Textes aufgenommen. Sie war an dem Abend privat auf der Feier zugegen. Während der unmittelbaren Eskalation, von der beide Seiten sprechen, befand sie sich jedoch in einem anderen Zimmer der Wohnung.
Der 23-Jährige soll hier Jo Petzold heißen. Er möchte anonym bleiben, sein echter Name ist der taz bekannt. Laut Petzold und der Veranstalterin ist die Situation zunächst ruhig gewesen. Eine Partygästin habe vor der Wohnungstür mit den Beamten gesprochen, währenddessen habe jemand die Musik ausgestellt. Die Polizei habe gefordert, die Tür geöffnet zu halten, sie sei dennoch von Gäst:innen zweimal geschlossen worden.
Beim Gerangel das Oberteil verloren
Daraufhin hätten die Beamten heftig gegen die Tür gehämmert. Als wieder geöffnet wurde, seien drei bis vier Polizisten in den Wohnungsflur gestürmt. Ein blonder Polizist habe Petzold dabei „eine gedonnert“, wie er sagt. Anschließend kommt es zu Gerangel, wie auf einem Video festgehalten ist. Darin ist zu sehen, wie vier Beamte versuchen, Petzold aus der Wohnung zu ziehen, gleichzeitig zerren Partygäste an ihm, um ihn drinnen zu halten. Ein Polizist betritt dabei die Wohnung. Dann rammt der blonde Polizist Petzold sein Knie ins Gesicht. Das ist auf Video festgehalten. Ein Angriff von Petzold auf die Polizeibeamten ist zumindest in den Mitschnitten, die der taz vorliegen, nicht zu erkennen.
Petzold erzählt, beim Gezerre sei sein Oberteil abgezogen worden. Die Polizisten hätten ihn im Treppenhaus auf den Boden gelegt, sich auf ihn gekniet und ihm Handschellen angelegt. In dieser Position sieht man ihn auf einem weiteren Video. Es habe ihm die Luft geraubt, berichtet Petzold. In dieser Videosequenz verhält er sich – entgegen der Darstellung im Polizeibericht – absolut ruhig.
In der Folge bricht Unruhe aus. „Es gab ganz viel Geschrei, weil sich natürlich alle gesorgt haben, das sah auch nicht so aus, als ob es dem gut ging“, sagte eine Nachbarin der taz. Sie erinnert sich, dass die Polizei zu diesem Zeitpunkt nach Verstärkung rief. Wie auf einem weiteren Video zu sehen ist, befinden sich schließlich etwa 40 Polizist:innen im Treppenhaus. Die Gastgeberin berichtet, sie habe eine Panikattacke gehabt. Ein Polizist habe ihr daraufhin nur gesagt, sie solle nicht aggressiv werden, schildert die Nachbarin.
Auf Anfrage der taz beharrte die Berliner Polizei auf ihrer Darstellung aus der Pressemitteilung. Statt von einer Verletzung am Ohr sprach sie nun aber davon, dass ein Polizist am Hals verletzt worden sei. Die Vorwürfe, die Petzold erhebt – unrechtmäßige Polizeigewalt, Eindringen in die Wohnung und auch die drohenden und schikanierenden Äußerungen – legte die taz der Polizei vor. Ein Sprecher teilte mit, diese seien der Polizei bislang nicht bekannt, würden aber „sehr ernst genommen“ und in die Ermittlungen einfließen. Bodycams, die die Aufarbeitung hätten erleichtern können, haben die Beamten laut Sprecher an dem Abend nicht getragen.
Highfive nach dem Einsatz
Petzold sagt, die Beamten schikanierten ihn. Der blonde Polizist habe Petzold gesagt, er solle froh sein, dass er ihn nur mit seiner Linken geschlagen habe. Ein anderer habe Petzold gesagt, dass ihm, als Weißem, sowieso nicht so schlimme Sachen passieren würden. Und so etwas wie: „Du kennst keine Kreuzberger Bullen, wir machen dich fertig.“ Davon gibt es keine Aufnahmen.
Petzold sagt, er sei von zwei Beamten durch das Treppenhaus nach unten geführt worden. Dabei habe ihm derselbe blonde Polizist noch zweimal unvermittelt in den Bauch geschlagen. Auch davon gibt es keine Videos. Petzold sei – vom Gezerre immer noch oberkörperfrei – ins Polizeiauto gesetzt worden. Das belegt ein Mitschnitt. Zwei Beamte hätten sich auf der Straße ein Highfive gegeben, so Petzold. Auch die Nachbarin will das von ihrem Fenster aus beobachtet haben.
Petzold sagt, im Wagen habe der blonde Polizist ihm gesagt, er müsse sich eigentlich bei Petzold bedanken – bis dahin sei seine Schicht langweilig gewesen. Und in der Gefangenensammelstelle Tempelhof angelangt: „Ich hab dich so gefickt, du konntest nichts machen.“
Auch wie die Beamten den Angriff auf den Polizisten erfinden, will Petzold beobachtet haben. Vor seinen Augen hätten sich die Beamten das Ohr des blonden Polizisten angeschaut und entschieden, dass Petzold ihn verletzt und geschlagen habe. „Diese Erfindung ist wirklich zu hundert Prozent vor meinen Augen passiert – absurd“, so der 23-Jährige. Er solle keine Faxen machen, sei Petzold noch gesagt worden. Denn auf dieser Polizeistation würde es sonst „doppelt weh tun“. Er werde wegen Widerstand gegen und tätlichem Angriff auf Vollstreckungsbeamte angezeigt.
Oberkörper frei „nicht in Ordnung“
Weil es im Fall der Kreuzberger Halloween-Party Aussage gegen Aussage steht, sei die Situation schwierig zu beurteilen, sagt Tobias Singelnstein, Professor für Kriminologie und Strafrecht an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Es fehle auch an hinreichend detaillierten Informationen. Sollte es aber stimmen, dass es für den Hieb in Petzolds Gesicht keinen Anlass gab, wäre dieser rechtswidrig und strafbar. Gleiches gelte, wenn im Nachhinein dafür eine Rechtfertigung erfunden worden sein sollte. Auch die Schläge in den Bauch könnten eine Körperverletzung im Amt darstellen, die mit Freiheitsstrafen von bis zu fünf Jahren geahndet werden kann. Dass Petzold bis zu seiner Entlassung Oberkörper frei bleiben musste, sei „nicht in Ordnung“, betont der Kriminologe. Die beschriebenen, schikanierenden Aussagen seien unangemessen und würden eine Dienstpflichtverletzung darstellen.
Es gebe immer wieder Fälle, in denen Polizeibeamte fälschlich Widerstand oder Angriffe berichten würden, um im Nachhinein die eigene Gewaltanwendung rechtlich zu legitimieren, so Singelnstein. In Fällen, wo Aussage gegen Aussage stehe und kein weiteres Beweismaterial vorliegt, komme es „höchst selten“ vor, dass die Staatsanwaltschaft den Betroffenen Glauben schenke.
Das Fazit von Jo Petzold lautet: „Die erzeugen ihre eigenen Notfälle, das ist ein riesiges Problem.“ Gleichzeitig ist ihm wichtig zu betonen, dass sein Fall kein typischer Fall von Polizeigewalt sei: „Es passieren viel, viel schlimmere Dinge, vor allem gegen Menschen, die nicht Weiß sind, und das findet oft gar keine Aufmerksamkeit.“
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